23
Helen Blackthorns Blut
Die Feuersäulen loderten in die Höhe, bis weit über die Baumwipfel hinaus. Die Hitze wurde intensiver und zerrte förmlich an Alecs Gesicht, als wollte sie ihm die Runenmale von der Haut reißen. Fieberhaft dachte er über die wenigen Möglichkeiten nach, die ihnen noch blieben. Die Säulen waren in einem groben Kreis angeordnet und rund fünfzehn Meter voneinander entfernt. Wenn Helen, Aline und er schnell genug wären, könnten sie zwischen zwei Säulen hindurchsprinten und entkommen. Doch als Alec sich daranmachte, durch einen der Zwischenräume zu stürmen, neigten sich die Säulen links und rechts zueinander und versperrten ihm den Weg. Erst als er zurückwich, nahmen sie wieder ihre ursprüngliche Form an.
Alec hatte schon einmal einen Schattenjäger gesehen, der solch hohe Flammen hatte überwinden können – doch er war nicht Jace, etwas Derartiges würde er nicht schaffen.
»Beim Erzengel«, murmelte Helen.
Alec dachte zuerst, dass sie sich nur über die Lage beklagte, in der sie sich befanden. Als er zu ihr hinüberblickte, sah er jedoch, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ihre Haare flossen über ihr Gesicht wie ein silberner Spiegel, der den Feuerschein förmlich reflektierte
.
»Es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld«, fügte sie hinzu.
»Wieso sollte das ausgerechnet deine
Schuld sein?«, fragte Aline.
»Mori Shu hat mir eine Nachricht geschickt und um Schutz gebeten, weil er vom Oberhaupt der Blutroten Hand gejagt wurde«, sprudelte es aus Helen hervor. »Er ist nach Paris gekommen, um mit mir zu reden … ganz bewusst mit mir, weil meine Mutter eine Elfe war. Denn er nahm an, dass ich mir deshalb mehr Sorgen wegen der getöteten Feenwesen machen und Schattenweltlern wohlwollender gegenüberstehen würde. Ich hätte Mori Shu in Schutzhaft nehmen und dem Pariser Institut alles erzählen sollen. Stattdessen habe ich versucht, alles allein zu machen. Ich wollte das Oberhaupt der Blutroten Hand finden und damit beweisen, dass ich eine erstklassige Schattenjägerin bin und in keinerlei Hinsicht wie eine Schattenweltlerin.«
Aline hielt eine Hand vor den Mund gepresst, während sie Helen betrachtete. Unter Helens langen, geschwungenen Wimpern quollen Tränen hervor und rannen ihr übers Gesicht. Alec behielt währenddessen die Flammensäulen im Auge. Diese schienen sich jedoch damit zu begnügen, sie an diesem Ort festzuhalten – vermutlich, bis etwas noch Schlimmeres auftauchte.
»Doch ich habe es von Anfang an vermasselt«, fuhr Helen fort. »Ich sollte mich mit Mori in Paris treffen, aber die Blutrote Hand hatte ihn aufgespürt und Dämonen losgeschickt, um uns zu töten. Mori Shu ist geflohen. Leon ist mir überallhin gefolgt, und wenn Alec nicht eingegriffen hätte, wären wir von den Dämonen niedergemetzelt worden. Trotzdem habe ich niemanden um Hilfe gebeten. Vermutlich wäre Mori Shu noch am Leben, wenn ich mich an die Leitung des Pariser Instituts oder später an das Institut in Rom gewandt hätte. Und jetzt sitzen wir hier in der Falle und warten auf den Tod – und das alles nur, weil ich niemandem erzählen wollte, dass ein Hexenmeister
mich ausgewählt hat. Ich wollte nicht, dass die Ratsmitglieder in mir noch deutlicher die Schattenweltlerin sehen als ohnehin schon.«
Aline und Alec tauschten einen Blick. Die Tatsache, dass Valentins Kreuzzug für die Reinheit der Schattenjäger vereitelt worden war, bedeutete noch lange nicht, dass sein Fanatismus nicht mehr existierte. Es gab Leute, die immer die Ansicht vertreten würden, dass Helen aufgrund ihres Schattenweltlerbluts unrein war.
»An Schattenwesen ist nichts auszusetzen«, sagte Alec.
»Erzähl das mal dem Rat«, entgegnete Helen.
»Dann hat der Rat eben unrecht«, erklärte Aline unerwartet laut. Helen schaute zu ihr hoch, und Aline musste schlucken. »Ich weiß, wie die Ratsmitglieder denken«, fuhr sie fort. »Einst habe ich einem Schattenweltler nicht die Hand gegeben, und dann erwies er sich als einer der …« – Aline warf Alec einen weiteren Blick zu – »… einer der Schattenweltler-Kriegshelden. Ich hatte unrecht. Die Art und Weise, wie die Ratsmitglieder denken, ist falsch.«
»Das muss sich ändern«, sagte Alec. »Und es wird
sich ändern!«
»Aber wird es sich rechtzeitig für meine Brüder und Schwestern ändern?«, fragte Helen. »Das glaube ich nämlich nicht. Ich bin die Älteste von sieben Geschwistern. Mein Bruder Mark hat dieselbe Elfenmutter wie ich, die anderen haben eine Schattenjägermutter. Mein Vater hatte gerade erst eine Schattenjägerin geheiratet, als Mark und ich ihnen ins Haus geschickt wurden. Diese Schattenjägerin hätte uns verachten können, doch stattdessen hat sie uns geliebt. Sie war so gütig zu uns und hat uns immer genauso behandelt wie ihre eigenen Kinder. Ich will, dass meine Familie stolz auf mich ist. Mein Bruder Julian ist so klug. Er könnte eines Tages Konsul sein, so wie deine Mutter jetzt.
Ich darf ihm nicht im Weg stehen … dem, was er erreichen könnte … was sie alle erreichen könnten.«
Ungeachtet der unmittelbaren Lebensgefahr, in der sie sich befanden, ging Aline zu Helen und ergriff ihre Hand.
»Du gehörst der Kongregation an, stimmt’s?«, fragte sie. »Dabei bist du erst achtzehn. Du erfüllst deine Familie schon jetzt mit Stolz! Du bist eine exzellente Schattenjägerin.«
Helen öffnete die Augen und sah Aline an. Ihre Finger schlossen sich um Alines. Ein Hoffnungsschimmer ließ Helens Gesicht aufleuchten, flackerte dann jedoch und erlosch wieder.
»Ich bin keine exzellente Schattenjägerin«, widersprach sie. »Aber das wäre ich gern. Wenn ich richtig gut bin und die Ratsmitglieder beeindrucken kann, dann gehöre ich dazu. Ich habe solche Angst davor, dass sie beschließen könnten, ich bin ein Außenseiter und zähle nicht.«
»Das verstehe ich«, sagte Aline.
Alec verstand es ebenfalls. Aline, Helen und er tauschten Blicke, vereint angesichts der gleichen einsamen Angst.
»Es tut mir leid«, flüsterte Helen, wobei ihre Stimme wie Rauch zu ihm herüberschwebte.
»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst«, entgegnete Alec.
»Es tut mir leid, dass ich niemandem gesagt habe, was wir vorhaben oder wohin wir gehen, und jetzt werden wir alle sterben«, fuhr Helen fort.
»Okay, wenn du es so formulierst, klingt es tatsächlich ziemlich übel«, sagte Alec. Er ließ seinen Blick forschend über die Baumwipfel wandern und entdeckte im Feuerwall einen Abschnitt, an dem die Flammen weniger beständig wirkten, da sie sich an dieser Stelle über einem sumpfigen Teil des Erdbodens befanden. Infolgedessen war das Feuer dort etwas niedriger als beim Rest
.
»Nur für den Fall, dass wir sterben«, setzte Aline an, »ich weiß, dass wir uns gerade erst kennengelernt haben, Helen, aber …«
»Wir werden nicht sterben«, unterbrach Alec sie. »Helen, wie hoch kannst du springen?«
Helen blinzelte und kehrte aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Sie straffte ihre Schultern und begutachtete die Flammen. »So hoch leider nicht.«
»Das musst du auch nicht«, erklärte Alec. »Seht mal her!« Er rannte auf den Bereich zwischen zwei Säulen zu, woraufhin sich die Flammen – wie bereits zuvor – zur Seite neigten, um ihm den Weg zu versperren.
»Und? Was bedeutet das jetzt?«, fragte Aline.
»Das bedeutet, dass ich das gleich wiederholen werde und eine von euch beiden über die Flammen springt, während sie mich aufzuhalten versuchen«, erwiderte Alec.
Prüfend betrachtete Helen die Flammen. »Das wird noch immer ein schwieriger Sprung werden.« Doch dann zeichnete sich Entschlossenheit auf ihrem Gesicht ab. »Ich mach’s!«
»Ich kann das auch übernehmen«, warf Aline ein.
Helen legte die Hand auf Alines Schulter. »Aber wir stecken meinetwegen in diesem Schlamassel – und ich werde uns auch wieder herausholen!«
»Du hast nur ein oder zwei Sekunden Zeit«, sagte Alec und ging ein paar Schritte rückwärts, um Anlauf zu nehmen. »Du musst direkt hinter mir laufen.«
»Mach ich«, versicherte Helen.
Eine Sekunde bevor Alec auf den Feuerwall zustürmen wollte, rief Aline: »Wartet! Was ist, wenn uns auf der anderen Seite der Flammen etwas noch Schlimmeres erwartet?«
»Darum bin ich ja auch schwer bewaffnet«, erklärte Helen und schwang eine weitere Seraphklinge. »Sachiel.«
Ein weißes vertrautes Licht flammte auf – der Adamant
leuchtete wie eine
beruhigende Antwort auf die roten dämonischen Flammen um sie herum.
Alec lachte leise in sich hinein; allmählich begann er, Helen zu mögen. Dann rannte er los.
Er hechtete in Richtung Boden und spürte die Hitze der Flammen, als sie sich senkten, um ihn an der Flucht zu hindern. Hastig rollte er sich ab und hörte Aline jubeln. Er sprang auf und klopfte den Schmutz von seiner Kleidung.
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Helen?«, rief Aline unsicher.
»Dämonen! Feuerdämonen! Das sind Dämonen!«, brüllte Helen atemlos zurück. »Die … Säulen … sind … Dämonen! Ich kämpfe gerade gegen einen!«
Jetzt erst bemerkte Alec, dass eine der Flammensäulen, die sich geneigt hatten, um ihn aufzuhalten, nicht zu ihrer ursprünglichen Position zurückgekehrt war. Stattdessen blickte er auf den Rücken einer riesigen menschenähnlichen Gestalt aus Flammen, auf deren anderer Seite sich vermutlich Helen befand.
Er und Aline sahen einander an. Unsicher spannte Alec seinen Bogen und schoss einen Pfeil direkt in die Mitte der nächsten Säule.
Die Säule begann heftig zu zucken, spaltete sich und nahm die Konturen einer menschenähnlichen Gestalt an, in der Alec einen Cherufe-Dämon erkannte. Der Dämon brüllte, wobei ein Flammenmeer wie hundert schreckliche Zungen in seinem klaffenden Schlund hin und her wogte, und griff Alec mit ausgefahrenen feurigen Krallen an. Er bewegte sich mit der Geschwindigkeit eines Flächenbrands und überwand den Abstand zwischen ihnen im Nu.
Alec duckte sich unter den Klauen weg und versuchte, sich in die Lücke zwischen seinem und Helens Dämon zu wälzen. Nur um Haaresbreite gelang es ihm, nicht ausgeweidet und
flambiert zu werden. Die Welt um ihn herum bebte, als er heftig auf dem Boden aufschlug und ein paar Meter weit rutschte. Nur der brennende Schmerz eines Funkens, der auf seiner Wange landete, sorgte dafür, dass er nicht das Bewusstsein verlor.
Benommen sah er, wie ein Feuerstrahl durch die Dunkelheit auf ihn zuschoss: Der Dämon griff erneut an.
Doch im nächsten Moment tauchte Aline auf und wirbelte so schnell mit ihren Dolchen, dass ihre Armbewegungen zu verschwimmen schienen. Die Engelsklingen wirkten wie Wasser und verwandelten das Dämonenfeuer in Dampf, wo immer sie darauf trafen. Ein Hieb in die untere Körperhälfte, ein Hieb in die Mitte und ein Hieb, der ihm die lodernden Arme abtrennte, verwandelten den Cherufe-Dämon in eine Lache aus Magma, Sekret und Dampf. Umrahmt von orangefarbenen Funken stand Aline einen Moment da.
Dann klemmte sie sich einen Dolch unter den Arm und reichte Alec ihre freie Hand. Eine Sekunde später trat Helen – angesengt, aber unverletzt – aus den schwächer werdenden Flammen des ersten Dämons hervor, der gerade zu Asche zerfiel, und gesellte sich zu ihnen. Gemeinsam wandten sie sich den anderen Feuerdämonen zu, die mittlerweile alle ihre übliche humanoide Gestalt angenommen hatten.
Alec ging auf ein Knie. Drei Pfeile flogen in schneller Abfolge durch die Luft und trafen einen Cherufe-Dämon in die Brust. Stichflammen schossen aus den Wunden, der Dämon brüllte und drehte sich zu Alec um, wobei er eine Spur aus Feuer hinterließ. Alec feuerte zwei weitere Pfeile ab, duckte sich und entfernte sich hastig aus der Reichweite des Monsters. Anschließend tötete er ihn mit einem gezielten Schuss ins Auge. Der Dämon fiel in sich zusammen wie ein brennendes Haus.
Helen und Aline standen Rücken an Rücken in der Dunkelheit der Waldlichtung, umgeben vom Glühen höllischer Funken
und dem Leuchten der Engelsklingen. Helen erledigte einen weiteren Dämon, indem sie mit einer blitzschnellen Drehbewegung seinen Oberkörper von der unteren Körperhälfte trennte. Alec ging vorsichtig um die Nahkampfhandlungen herum und hielt Abstand, bis er freie Schusslinie hatte. Ein Pfeil trennte einem Cherufe-Dämon den Arm ab, und die darauffolgenden Geschosse brachten ihn zu Fall. Als er dennoch versuchte, Aline anzugreifen, gab ihm ein abwärts ausgeführter Dolchstoß den Rest.
Helen setzte dem letzten Dämon mit einer Reihe schneller Hiebe zu, die seine Magmahaut durchlöcherten, sodass an allen Seiten kleine Flammenstrahlen hervorschossen. Auch Aline beteiligte sich an der Attacke: Geschickt wich sie einer flammenden Faust aus, raste an dem Dämon vorbei und stieß ihm ihren Engelsdolch in den Rücken.
In dem Moment, in dem der letzte der Cherufe-Dämonen in seine Dimension zurückkehrte, verschwand das Feuer. Zurück blieben schwarze Narben auf dem Erdboden und grauer Rauch, der zum Himmel aufstieg. Einige Zweige brannten noch, und am Boden schwelten vereinzelte Stellen, doch auch dort schien das Feuer langsam zu verlöschen.
»Alles in Ordnung, Helen?«, fragte Aline keuchend.
»Ja«, antwortete Helen. »Mit dir auch?«
»Mir geht es gut«, erklärte Alec. »Auch wenn niemand danach gefragt hat.«
Er verstaute seinen Bogen und zuckte bei der Bewegung zusammen, entschied jedoch, dass der Schmerz auszuhalten war. Ihnen blieb jetzt keine Zeit, ihren Sieg zu feiern – sie mussten sofort herausfinden, wo Magnus war.
Helen schnalzte mit der Zunge. »Dir geht es überhaupt nicht gut.«
Verblüfft erkannte Alec den Ausdruck auf ihrem Gesicht
wieder – eine Mischung aus Verärgerung und Sorge. Er wusste, dass er selbst Jace oder Isabelle auf die gleiche Weise anfunkelte, wenn diese mal wieder zu waghalsig gewesen waren. Helen wirkte wirklich wie eine typische ältere Schwester.
Sie forderte ihn auf, sich hinzusetzen, und schob sein T-Shirt hoch. Als sie die Wunde mit den Brandblasen sah, verzog sie das Gesicht. Sie holte ihre Stele hervor, drückte sie oberhalb der Verletzung auf die Haut und trug eine Iratze
auf. Die Konturen ihrer Striche schimmerten golden und gruben sich in seine Haut. Alec biss die Zähne zusammen und sog scharf die Luft ein, als kalte Wogen über seine Nervenenden glitten. Kurz darauf, als die Nachwirkungen der Heilrune abebbten, blieb von der Wunde nur noch ein leicht geschwollener roter Hautfleck auf seiner Brust übrig.
»Ich war vorhin durch den Feuerwall und unseren bevorstehenden Tod ein wenig abgelenkt«, wandte Aline sich an Alec. »Hattest du nicht erzählt, dass das Oberhaupt … die Anführerin der Blutroten Hand uns hierherbestellt hat?«
Alec nickte. »Eine Hexe namens Shinyun Jung, die mit uns gereist ist. Sie hat behauptet, eine geläuterte Anhängerin dieses Kults zu sein, die angeblich den Kultisten das Handwerk legen wollte. Aber ich denke, dass sie das Oberhaupt ist, nach dem wir gesucht haben. Wir müssen Magnus finden. Er schwebt in Lebensgefahr.«
»Moment mal«, unterbrach Helen ihn. »Du willst damit also sagen, dass nicht dein Freund der Anführer der Blutroten Hand ist, sondern deine andere Reisegefährtin? Hast du es dir eigentlich zur Gewohnheit gemacht, immer mit Kultanhängern auf Reisen zu gehen?«
Alec bat Aline mit einem verzweifelten Blick um Unterstützung, doch sie hob nur abwehrend die Hände. Offensichtlich hielt sie Helens Frage für berechtigt
.
»Nein, ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mit Kultanführern
zu verreisen«, konterte Alec. Er schob die Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans, zog den Seidenschal heraus, den er am Morgen von Magnus’ Hals gelöst hatte, und erinnerte sich daran, wie Magnus dabei sein Handgelenk geküsst hatte.
Dann schloss er die Faust fest um das seidige Material und zeichnete eine Ortungsrune auf seinen Handrücken. Nach einem kurzen Moment entfaltete das Runenmal seine Wirkung, und Alec sah lange Reihen weiß gekleideter Gestalten hinter unüberwindlichen Mauern. Zu seiner Bestürzung spürte er auch Angst. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass Magnus vor irgendetwas Angst haben könnte.
Vielleicht handelte es sich ja um seine eigene Angst.
Auf jeden Fall spürte er eine Anziehungskraft – sein Herz war jetzt ein Kompass, der ihn in eine bestimmte Richtung führte. Zurück nach Rom. Nein, nicht ins Zentrum der Stadt, sondern südlich davon.
»Ich habe ihn gefunden«, sagte Alec. »Wir müssen los!«
»Ich erwähne es nur ungern, aber wir sind gerade einer tödlichen Falle entkommen«, warf Aline ein. »Woher wissen wir, dass wir nicht direkt in die nächste Falle tappen werden?«
Helen schloss ihre Hand fest um Alecs Handgelenk.
»Wir können nicht allein aufbrechen«, setzte sie an. »Ich habe schon zu viele Fehler begangen, seit ich mich eigenmächtig auf den Weg gemacht habe – und das hat jemanden das Leben gekostet. Hier haben wir pures Glück gehabt. Wir brauchen Verstärkung! Wir müssen zum Institut zurück und alles erklären.«
»Magnus hat für mich Vorrang«, entgegnete Alec.
Er wusste, dass Helen nur versuchte, das Richtige zu tun. Schließlich erinnerte er sich an seine eigene tiefe Frustration, als sein Parabatai
einem Mädchen zu allen möglichen verrückten, lebensgefährlichen Missionen gefolgt war. Jetzt war er selbst an
Jace’ Stelle – und schätzte die Situation plötzlich ganz anders ein.
»Alec«, sagte Helen. »Ich weiß, dass du Magnus nicht in Schwierigkeiten bringen willst …«
»Wenn es sein muss, werde ich ohne euch gehen«, verkündete Alec.
Er durfte nicht zum Institut zurückkehren. Zum einen wollte er nicht einen Haufen unangenehmer Fragen beantworten müssen – falls die dortigen Nephilim misstrauisch genug waren, konnten sie das Engelsschwert holen lassen und ihn dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Zum anderen hatte er für all das keine Zeit, denn er war sich sicher, dass Magnus schon jetzt in Gefahr schwebte. Er musste Magnus’ Geheimnis bewahren, und er musste sich beeilen.
Eigentlich wünschte er sich, dass Aline und Helen ihn begleiteten, doch er wusste nicht einmal ansatzweise, wie er darum bitten sollte. Er konnte nicht von ihnen verlangen, dass sie ihm vertrauten – schließlich hatte er nichts getan, um sich ihr Vertrauen zu verdienen.
»Natürlich willst du ihn beschützen«, sagte Helen. »Wenn er unschuldig ist, will auch ich ihn beschützen. Wir sind Schattenjäger. Aber der beste Weg, ihn zu schützen und die Blutrote Hand zu besiegen, besteht darin, alle Ressourcen zu nutzen, die uns zur Verfügung stehen.«
»Nein«, widersprach Alec. »Du verstehst es nicht. Denk an deine Familie, Helen! Du würdest für sie sterben, das weiß ich. Auch ich würde für meine Familie sterben – für Isabelle, für Jace.« Er holte tief Luft. »Und für Magnus. Ich würde auch für ihn sterben. Für ihn zu sterben wäre eine Ehre.«
Er schüttelte Helens Hand ab und marschierte in die Richtung, in die ihn die Ortungsrune dirigierte. Plötzlich stand Aline vor ihm
.
»Aline, ich werde Magnus’ Leben nicht aufs Spiel setzen«, sagte Alec ungestüm. »Ich werde keinen Bericht erstatten und auch nicht auf Verstärkung warten, sondern Magnus da rausholen. Also geh mir aus dem Weg!«
»Ich stehe dir nicht im Weg«, erwiderte Aline. »Ich werde dich begleiten.«
»Was?«, rief Helen.
Alines Antwort klang alles andere als zuversichtlich, aber entschieden: »Ich vertraue Alec. Und ich gehe mit ihm.«
Alec wusste nicht, was er sagen sollte. Glücklicherweise hatten sie keine Zeit, um über Gefühle zu sprechen. Dankbar nickte er Aline zu und gemeinsam liefen sie von der Lichtung zum Waldweg.
»Wartet«, sagte Helen.
Aline drehte sich zu ihr um, während Alec nur einen kurzen Blick über seine Schulter warf.
Helen hatte die Augen geschlossen. »›Geh nach Europa, Helen‹, haben sie gesagt. ›Du kannst nicht immer auf ausgetretenen Pfaden bleiben, Helen. Du musst mal raus aus L.A., etwas Kultur tanken. Vielleicht mit jemandem ausgehen.‹ Aber niemand hat gesagt: ›Ein Kult und seine Dämonen werden dich durch ganz Europa jagen. Und dann wird dich ein Verrückter namens Lightwood ins Verderben führen.‹ Das hier ist das schlimmste Auslandsjahr seit Menschengedenken.«
»Tja, ich nehme an, wir sehen uns irgendwann mal wieder«, sagte Aline mit betrübter Miene.
»Ich gehe jetzt«, verkündete Alec.
Helen seufzte und machte mit ihrer Seraphklinge eine verzweifelte Geste.
»Na gut, du verrückter Lightwood. Zeig uns den Weg – wir werden deinen Mann da schon rausholen!«