27
Im Feuer geschmiedet
Alec erkannte, dass sie zahlenmäßig deutlich unterlegen waren. Jeder Kultanhänger im Amphitheater – und es handelte sich um eine sehr große Menge – hatte sich ihnen zugewandt. Nicht wenige waren bereits aufgestanden und im Begriff, ihre Waffen zu ziehen: hauptsächlich Knüppel und Stöcke, obwohl Alec auch mehrere Klingen aufblitzen sah.
»Wow, dieser Kult hat wirklich viele Mitglieder«, murmelte Aline. »Sie müssen Fahrgemeinschaften gebildet haben.«
Helens kurzes Lächeln verblasste, als zwei Kultanhänger ihren Arm packten. Aline rammte dem einen ihren Ellbogen in die Kehle, während Helen dem anderen einen Kopfstoß gegen die Brust verpasste. Ein Dummkopf griff Alec an und kassierte dafür umgehend einen Faustschlag ins Gesicht. Dann sah Alec sich einer ganzen Mauer aus grapschenden Händen und tretenden Füßen gegenüber und verlor Magnus aus den Augen.
Der einzige Weg zu Magnus führte durch diese Mauer.
»Meine Damen«, sagte Alec. »Darf ich bitten?«
»Es ist mir ein Vergnügen«, murmelte Helen zuckersüß und verpasste einem Mann einen Tritt gegen die Kniescheibe.
Alec wich einem schlecht ausgeführten Schlag aus und revanchierte sich mit einem wesentlich besseren Kinnhaken. Zwischendurch feuerte er Pfeile auf dämonische Silhouetten ab, die am Himmel kreisten.
Wenn es nach ihm ging, konnte er den ganzen Tag so weitermachen. Er bewegte sich ausschließlich in eine Richtung: auf das Podium zu. In Magnus’ Richtung. Bis er seinen Freund erreicht hatte, war alles andere nebensächlich.
Alec konnte Magnus durch die Lücken zwischen den Zuschauern ausmachen: Er stand auf der Plattform, als hätte er gerade zu der Versammlung gesprochen. Shinyun war neben ihm, schrie und wedelte mit den Armen. Zum Glück beteiligte sie sich noch nicht am Kampf. Als Magnus sich seitlich drehte, sah Alec, dass sein Hals und Hemd blutbespritzt waren und sich auf seinem Gesicht ein dunkler Bluterguss abzeichnete.
Der Anblick zerriss Alec das Herz. Dann fiel Magnus’ Blick auf ihn, und es folgte ein kurzer Moment der Stille inmitten des Kampfgetümmels – wie im Auge eines Orkans, in dem die Zeit stillzustehen schien. Magnus wirkte so nah, dass es Alec so vorkam, als ob er nur die Hand ausstrecken müsste, um ihn zu berühren, seine Blutergüsse zu lindern und sich zwischen ihn und die Menge zu stellen.
Er erinnerte sich, wie er vor nicht allzu langer Zeit zu Magnus’ Reihenhaus in Brooklyn gelaufen war – damals, als ihre Beziehung noch ganz frisch gewesen war. Danach war so viel passiert – auf der Welt und in Alecs Leben. Der Ausbruch des Kriegs hatte unmittelbar bevorgestanden, während Alec keine Erklärung für das Durcheinander aus Wut und Verwirrung und Sehnsucht in seinem Herzen finden konnte.
Magnus und er hatten sich damals erst seit ein paar Wochen gekannt. Und es hatte für Alec einfach keinen Sinn ergeben, dass er jede Gelegenheit nutzte, um Magnus zu treffen, während seine Familie ihn beim Training glaubte und seine Lügen jederzeit auffliegen konnten. Er hatte die ganze Zeit solche Angst gehabt und sich mit dieser Angst so allein gefühlt.
Alec hatte bereits einen Schlüssel besessen – Magnus hatte ihm erklärt, dass es für ihn so praktischer wäre. Außerdem war seine Wohnung mit genügend Schutzzaubern versehen, sodass er genau wusste, wenn jemand anderes als Alec diesen Schlüssel nutzte. Alec war in die Wohnung gestürmt; sein Herz hatte viel zu schnell geschlagen. Magnus hatte in der Mitte des Lofts gesessen, ganz in seine Arbeit vertieft. Er hatte ein orangefarbenes Seidenhemd getragen und mit zwei beringten Händen gleichzeitig drei Zauberbücher durchgeblättert, während blaue Funken aus den Buchseiten hervorstoben. Schon der Gedanke an die Reaktion seines Vaters, wenn er von seiner Anwesenheit in Magnus’ Wohnung gewusst hätte, hatte Alec ein mulmiges Gefühl bereitet.
Dann hatte Magnus von seinen Zauberbüchern aufgeschaut, ihn angesehen und gelächelt. Und Alecs Herz hatte nicht länger gepocht wie ein Gefangener, der verzweifelt versuchte auszubrechen. Damals hatte Alec gedacht, dass es ihm genügen würde, für den Rest seines Lebens einfach in dieser Tür zu stehen und zu beobachten, wie Magnus bei seinem Erscheinen lächelte.
Jetzt lächelte Magnus genauso, ungeachtet des Grauens, das rund um sie herum seinen Lauf nahm. Und um seine goldgrünen Augen bildeten sich winzige Fältchen. Es handelte sich um ein süßes, überraschtes Lächeln, als wäre Magnus so verblüfft – und so glücklich – , Alec zu sehen, dass er darüber alles andere vergessen hatte.
Alec hatte fast das Gefühl, als könnte er das Lächeln erwidern.
Doch im nächsten Moment rief Helen: »Shinigami-Dämonen!«
Die Blutrote Hand machte keine halben Sachen. Von allen Flugdämonen gehörten die Shinigami mit ihrem heimtückisch grinsenden, haifischähnlichen Maul und enormen zerfledderten schwarzen Flügeln zu den gefährlichsten. Es bereitete ihnen Vergnügen, Menschen die Gesichter abzureißen und ihre Knochen zu Pulver zu zermalmen.
Ein Schatten fiel über Alec. Er blickte in einen grinsenden Schlund hinauf, in dem es von Zähnen nur so wimmelte, und feuerte einen Pfeil ab.
Der erste Shinigami entging dem Pfeil knapp und flog geradewegs auf die Schattenjäger zu, dicht gefolgt von zwei weiteren Exemplaren dieser großen Kreaturen. Ein zweiter Pfeil holte den nächsten Shinigami aus der Luft, der dadurch ins Trudeln geriet und unkontrolliert zwischen die Sitze krachte. Dann griffen die restlichen Dämonen sie an.
Einer von ihnen landete mit dumpfem Dröhnen in unmittelbarer Nähe auf den Stufen. Aline stürmte vor, ging mit ihren Seraphklingen auf ihn los und schlug ihm tiefe Wunden in die Brust. Der Shinigami brüllte auf und riss sie mit einem schnellen Flügelschlag von den Füßen.
Dann bäumte der Dämon sich auf und ragte hoch über Aline auf. Seine Flügel löschten das Licht der Sterne aus und bildeten ein zerklüftetes schwarzes Loch am Nachthimmel. Ein weiterer Shinigami-Dämon machte inmitten der Kultanhänger eine Bruchlandung, woraufhin diese hastig davonstoben, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Eremiel!« Helens Schrei übertönte das Getöse. Sie tanzte zwischen den großen Gestalten umher, und die weißen Hiebe ihrer Seraphklingen erhellten die Nacht.
Alec sprang zur Seite, um einem herabstoßenden Dämon auszuweichen, dessen Klauen sich beinahe in seine Schulter gruben. Er rutschte auf dem Rücken weiter und durchbohrte den Flügel des Dämons mit einem weiteren Pfeil, woraufhin dieser krachend zu Boden ging. Alec sah sich nach den anderen um. »Aline, pass auf! «
Aline, die wieder auf die Beine gekommen war, flitzte zwischen zwei Shinigami hin und her und zerfetzte sie mit ihren Seraphklingen. Aber ein weiterer Dämon näherte sich ihr im Sturzflug.
Helen packte Aline und zerrte sie in allerletzter Sekunde in Sicherheit. Der Dämon verfehlte die beiden, zischte vorbei und machte kehrt, um ein weiteres Mal anzugreifen. Er fletschte seine Fangzähne, jeder so lang wie eine menschliche Hand. Helen rappelte sich auf und hielt sich die verletzte Schulter. Als das Monster zum Angriff ansetzte, ging sie auf die Knie, umfasste die Seraphklinge mit festem Griff, richtete sie steil nach oben und schlitzte auf diese Weise den Dämon vom Nabel bis zum Hals auf.
»Beim Erzengel!«, rief Aline. »Das war großartig!«
Helen strahlte, allerdings nicht lange: Kaum hatte sie den einen Dämon erledigt, als auch schon ein weiterer vor ihr landete und mit einem krallenbewehrten Flügel nach ihrem Gesicht schlug. Doch Aline war schon zur Stelle und trennte den Flügel mit einem Hieb vollständig am Gelenk ab. Helen ließ einen Rundumschlag mit der Seraphklinge folgen, der den Shinigami köpfte.
Alec richtete seine Aufmerksamkeit auf einen weiteren Dämon, der aus der Luft herunterschoss, und konnte gerade noch verhindern, von einem scharfen Flügel zweigeteilt zu werden. Blitzschnell folgte er mit seinem Bogen der Flugbahn des Dämons und traf ihn in den Rücken. Der Shinigami stürzte in der Mitte des Amphitheaters ab.
»Alec!«, brüllte Aline. »Die Plattform!«
Alec drehte sich genau in dem Moment um, als sich eine gewaltige Lichtsäule aus dem wirbelnden Strudel herabsenkte und auf ein riesiges, leuchtendes Pentagramm aus Blumen traf, das die Bühne umgab. Schlagartig wurde das gesamte Amphitheater hell erleuchtet .
Magnus war nur noch als Silhouette auszumachen, in sengendes, blendendes Licht gehüllt. Alec konnte gerade noch seine Augen erkennen. Sie waren auf Alec gerichtet. Magnus’ Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen.
Dann verschwanden Magnus und Shinyun. Das grelle Licht erfüllte das Pentagramm aus Mondwindenblüten und überstrahlte alles, was sich im Inneren befand.
Alecs Herzschlag setzte für einen Moment aus. Er wollte zur Plattform stürmen, doch ein Kultanhänger stellte sich ihm drohend in den Weg. Alec schickte ihn mit einem Hieb zu Boden und sah dann in das erschrockene Gesicht des Mannes unmittelbar dahinter. Er sprach leise, aber laut genug, dass alle ihn hören konnten: »Verschwindet jetzt, wenn euch euer Leben lieb ist.«
Die Kultanhänger in seiner Nähe ergriffen die Flucht, wodurch der Weg zum Pentagramm frei wurde. Voller Panik rannte er darauf zu … und prallte gegen eine unsichtbare Barriere, so hart wie eine Granitmauer.
Ein dünner Mann mit spärlichen Barthaaren stand vor den Kultanhängern neben dem Pentagramm, als wäre er ihr Anführer. Alec hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
»Wo ist Magnus?«, fragte Alec fordernd.
»Wer bist du?«, konterte der bärtige Mann.
»Wir sind Schattenjäger«, sagte Helen, die mit großen Schritten nahte, um sich an Alecs Seite zu stellen. Aline brachte sich an seiner anderen Seite in Position. »Und ihr alle steckt bis über beide Ohren in Schwierigkeiten. Was ist hier los? Wer bist du
»Ich bin Bernard, der Anführer dieses Kults.«
Jemand hinter dem Kultführer verkündete jedoch: »Wir waren uns darüber einig, den Großen Grimm und die Verfluchte Tochter zu verraten. Aber niemand hat zugestimmt, dass du unser Anführer wirst, Bernard. «
Bei diesen Worten färbte sich Bernards Gesicht über seiner weißen Robe dunkelrot.
»Wer ist der Große Grimm?«, erkundigte sich Aline.
»Unser Gründer, Magnus Bane«, antwortete Bernard.
Helen schnappte hörbar nach Luft.
»Wir sind allerdings schon vor vielen Jahren von seinen Lehren abgerückt – also, für die Kinder zu sorgen und den Reichen Geld abzunehmen und an die Armen zu verteilen«, stellte Bernard klar. »Seitdem er weg ist, sind unsere Ziele überwiegend bösartiger Natur. Einige von uns begehen Morde – seit einiger Zeit sogar viele Morde. In der Hauptsache sind wir zwar bösartig, aber entspannt.«
»Magnus ist also unschuldig! Gewissermaßen«, sagte Aline. Helen wirkte verwirrt.
Doch Alec kümmerte das alles überhaupt nicht. Er drängte sich an Bernard vorbei, holte zitternd tief Luft und zog eine Seraphklinge aus dem Gürtel.
»Raguel!« Ihr himmlisches Licht erstrahlte.
Eine Seraphklinge gegen einen Irdischen einzusetzen war eine schreckliche Sache – sein Vater hatte ihm immer eingetrichtert, dass kein aufrechter Schattenjäger jemals so handeln würde.
Bevor jemand einen Finger rühren konnte, um ihn aufzuhalten, platzierte Alec die Spitze der glühenden Seraphklinge so nahe an Bernards Hals, dass der Kragen seines weißen Hemdes sich schwarz zu verfärben und zu qualmen begann.
»Wo ist Magnus?«, herrschte Alec ihn an. »Das ist deine letzte Chance!«
Bernard verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Sein Mund öffnete sich, und eine Stimme, die eindeutig nicht seine war, drang aus seiner Kehle, grollend und knackend wie ein Lagerfeuer.
Die Stimme eines Dämons. Die Stimme eines Höllenfürsten .
»Der Große Grimm? Er ist doch genau hier.«
Mit ruckartigen Handbewegungen zeigte Bernard auf das von unheimlichem Licht durchflutete Pentagramm. In dessen flammender Mitte nahmen fahle Schemen Gestalt an. Alec konnte mit jedem Moment klarer umrissene Konturen erkennen.
»Finde ihn«, forderte der Dämon in Bernard Alec auf. »Wenn du kannst!«
Die Szene im Pentagramm zeichnete sich deutlicher ab. Vor Entsetzen fühlte sich Alecs Mund wie ausgetrocknet an.
Er konnte Magnus sehen. Er konnte mehr als einen Magnus sehen.
»Eines dieser kämpfenden Paare ist der echte Magnus Bane und die echte Shinyun Jung. Betrachte es als Prüfung, kleiner Schattenjäger. Wenn du ihn erkennst, kannst du ihn retten.«
Alec hielt seinen Bogen und sein Schwert umklammert, jeder Muskel war angespannt. Er war kampfbereit und wollte nichts mehr, als Magnus zu retten. Doch jetzt stand er da wie versteinert vor Entsetzen.
Hundert Magnus Banes kämpften gegen hundert Shinyun Jungs um ihr Leben. Alle waren identisch. Hundert Magnus Banes in weißen Roben stachen auf weitere hundert Shinyuns ein. Und jeder von ihnen hätte der echte Magnus sein können. Vielleicht war derjenige, der schon am Boden lag und auf den tödlichen Schlag wartete, der echte Magnus und brauchte dringend Alecs Hilfe. Oder vielleicht war derjenige, der im Begriff stand, den Kampf zu gewinnen, der wahre Magnus. Und er lief Gefahr, von Alec getötet zu werden – beim Versuch, ihn zu retten.
»Bei aller Bescheidenheit: ein genialer Zaubertrick«, bemerkte der Dämon in Bernards Körper. »Clever, aber zugleich äußerst grausam, weil er dir Hoffnung schenkt. Du brauchst nichts weiter zu tun, als den echten Magnus Bane zu erkennen. Ist das nicht in allen Märchen so? Der Prinz kann seine wahre Liebe auch dann erkennen, wenn sie eine andere Gestalt angenommen hat – ein Schwan unter anderen Schwänen, ein Kieselstein an einem Sandstrand.« Bernard lachte leise. »Wenn die Welt doch nur ein Märchen wäre, Nephilim.«