»Und das ist auch schon die ganze Geschichte unserer Jagd nach der Blutroten Hand«, sagte Magnus und machte dabei eine dramatische Geste mit seiner Teetasse. Flüssigkeit schwappte über den Tassenrand und spritzte durch Tessas Projektion.
Tessas ernsthafte graue Augen leuchteten auf, als sie lächelte. Obwohl sie immer einen so ernsten Eindruck machte, lächelte sie im Grunde recht oft. Magnus grinste zurück. Er hatte sich ein paar Minuten Zeit genommen, bevor Alec und er aufbrechen wollten; außerdem waren die Schattenjäger noch damit beschäftigt, ihren offiziellen Bericht über die Blutrote Hand auszuarbeiten.
Auch Magnus musste Bericht erstatten, aber es war gut, dabei Tessas Gesicht zu sehen, auch wenn es sich nur um eine Projektion handelte.
»Das ist eine ziemlich beeindruckende Geschichte«, bemerkte Tessa.
»Wirst du dem Spirallabyrinth davon erzählen?«, fragte Magnus.
»Ich werde dem Spirallabyrinth in der Tat etwas erzählen«, antwortete Tessa. »Allerdings etwas, das nicht im Entferntesten dem ähnelt, was ich gerade von dir gehört habe. Aber wie
du weißt, sind die meisten Geschichten ohnehin eine Frage der Interpretation.«
»Du weißt jetzt alles«, sagte Magnus. »Alles Weitere überlasse ich dir.«
»Bist du glücklich?«, fragte Tessa.
»Ja, ich bin froh darüber, dass ich nicht länger fälschlicherweise beschuldigt werde, einen Kult anzuführen, der entschlossen ist, die Welt in Schutt und Asche zu legen«, erwiderte Magnus. »Außerdem bin ich froh darüber, dass kein verrücktes Hexenwesen mehr Dämonen losschickt, die mich durch ganz Europa verfolgen. Das alles ist hocherfreulich.«
»Das glaube ich gern«, sagte Tessa sanft, »aber bist du glücklich?«
Da Magnus sie schon lange kannte, gab er für einen Moment seine Zurückhaltung auf – gerade so weit, um mit einem einfachen »Ja« zu antworten.
Tessa lächelte, ohne das geringste Zögern oder Widerstreben. »Da bin ich froh!«
Doch jetzt war Magnus derjenige, der zögerte. »Darf ich dich etwas fragen? Du hast doch einen Schattenjäger geliebt.«
»Glaubst du, ich habe damit aufgehört?«
»Hattest du dabei jemals Angst?«
»Ich hatte ständig Angst«, sagte Tessa. »Es ist ganz natürlich, dass man Angst davor hat, das Kostbarste auf der Welt zu verlieren. Doch du brauchst keine Angst zu haben, Magnus. Ich weiß, dass Hexenwesen und Schattenjäger sehr unterschiedlich sind und dass es eine Kluft zwischen den Welten gibt, die manchmal schwer überwindbar scheint. Aber jemand hat einmal zu mir gesagt: ›Dem richtigen Mann wird das gleichgültig sein.‹ Ihr könnt eine Brücke über die Kluft bauen und euch treffen. Ihr könnt etwas viel Größeres erschaffen, als jeder Einzelne von euch allein fertigbringen würde.
«
Einen Moment lang herrschte Stille, während beide an die vielen Jahre dachten, die sie bereits durchlebt hatten, und an die, die noch vor ihnen lagen. Das Sonnenlicht schien noch immer hell durch das Fenster von Magnus’ Hotelzimmer in Rom, doch es würde nicht mehr lange währen.
»Trotzdem verlieren wir am Ende unsere Liebe. Das wissen wir beide«, sagte Magnus schließlich widerstrebend.
»Nein«, widersprach Tessa. »Die Liebe verändert dich. Die Liebe verändert die Welt. Ich finde, dass man diese Liebe gar nicht verlieren kann, egal wie lange man lebt. Vertrau auf die Liebe! Vertrau ihm!«
Obwohl Magnus genau das wollte, konnte er Asmodeus’ Worte nicht vergessen: Er war ein Fluch für die Welt. Und er erinnerte sich daran, wie er Shinyun mit seinen Blicken angefleht hatte, Alec nicht zu erzählen, wer sein Vater war. Natürlich wollte er Tessa nicht belügen. Aber er wusste nicht, wie er ihr versprechen sollte, ihrem Rat zu folgen.
»Was wäre, wenn ich ihn verliere, weil ich die Wahrheit sage?«
»Was wäre, wenn du ihn verlierst, weil du sie ihm verschweigst?«
Magnus schüttelte den Kopf. »Mach’s gut, Tessa«, sagte er nur, statt ihr zu bestätigen, dass er ihrem Rat folgen würde.
Tessa drängte ihn nicht. »Du auch, mein Freund! Ich wünsche euch beiden alles erdenklich Gute.«
Dann verblasste ihre Projektion, und ihre weiche braune Haarmähne verflüchtigte sich wie eine Wolke in der Luft. Einen Augenblick später stand Magnus auf und zog sich um. Er wollte sich mit Alec am Institut treffen, damit sie endlich ihren Urlaub fortsetzen konnten.
Ein Portal öffnete sich und zerteilte die Luft vor der Eingangstreppe des Instituts. Magnus stand am oberen Ende der Stufen.
Er hatte bereits alle umarmt, einschließlich zweier italienischer Nephilim, die angesichts dieser Geste sehr erstaunt wirkten und sich ihm förmlich vorstellten, noch während sie von ihm gedrückt wurden, Magnus’ Umarmung allerdings zugleich enthusiastisch erwiderten. Die beiden hießen Manuela und Rossella. Magnus fand, dass sie einen netten Eindruck machten.
Alec umarmte niemanden außer Aline, die er dafür umso fester in die Arme schloss. Magnus blickte auf Alecs Hinterkopf, während dieser sich über Aline beugte, und tauschte einen Blick und ein Lächeln mit Helen.
»Ich hoffe, dass der Rest eures Urlaubs fantastisch wird«, sagte Helen.
»Ganz bestimmt! Und ich hoffe, dass dich dein Auslandsjahr von einem großartigen Ort zum nächsten führt.«
»Die Sache ist allerdings die: Ich bin das Reisen ein wenig leid und hier eigentlich ziemlich glücklich«, erklärte Helen.
Aline kam herüber und stellte sich neben Helen.
»Habe ich ›Reisen‹ gehört?«, fragte sie. »Ich habe mir gedacht, wenn du gern Gesellschaft beim Besuch des Prager Instituts hättest, könnte ich dich begleiten. Ich habe weiter keine Pläne – außer gegen die Mächte des Bösen zu kämpfen. Aber das könnten wir ja auch zusammen machen.«
Helen lächelte. »Wir finden bestimmt eine Lösung.«
Alec wich Leon Verlac aus, der versuchte, ihn zu umarmen, woraufhin Leons beidseitige Wangenküsschen ins Leere gingen. Alec gesellte sich wieder zu Magnus am oberen Ende der Treppe.
»Und jetzt … setzen wir unseren Urlaub fort? Bist du bereit?«, fragte Magnus und streckte die Hand aus.
Alec ergriff sie. »Ich kann es gar nicht erwarten!«
Gemeinsam traten sie durch das Portal, dicht gefolgt von ihrem Gepäck. Sie ließen das römische Institut hinter sich und landeten im Wohnzimmer von Magnus’ Loft in Brooklyn
.
Magnus hob die Hand und drehte sich langsam im Kreis. Sämtliche Vorhänge glitten auseinander, alle Fenster sprangen auf. Sonnenlicht flutete über die Dielenbretter und die bunten Flickenteppiche mit ihren scharlachroten, gelben und blauen Schattierungen. Es brachte die in Kalbsleder gebundenen Zauberbücher zum Glänzen und die neue Kaffeemaschine, die Magnus gekauft hatte, weil Alec es nicht gutheißen konnte, dass er seinen Kaffee einfach aus den umliegenden Cafés herbeizauberte.
Der Große Vorsitzende Miau Tse-tung näherte sich Magnus zögernd, mit gesenktem Kopf und gerunzelter Stirn, bevor er ein paarmal um dessen Beine strich. Anschließend sprang der Kater wie ein geschickter Bergsteiger an Magnus hinauf, landete in seinen Händen, kletterte an seinem Arm hoch und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Dort schnurrte er in Magnus’ Ohr, leckte ihm mit seiner Schleifpapierzunge über die Wange und sprang – nachdem das obligatorische Begrüßungsritual abgeschlossen war – wieder auf den Boden, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
»Ich liebe dich auch, Miau Tse-tung«, rief Magnus ihm nach.
Alec reckte die Hände in Richtung Decke, streckte sich und wiegte sich hin und her, bevor er sich auf das Zweiersofa fallen ließ. Dann schleuderte er seine Schuhe von den Füßen und lehnte sich in die Kissen zurück. »Es ist so schön, wieder in New York zu sein. Zu Hause. Ich brauche Urlaub von diesem Urlaub.«
Er streckte eine Hand nach Magnus aus, und Magnus kroch neben ihn auf das Sofa und spürte, wie Alecs Finger wie ein Kamm durch seine Haare fuhren.
»Keine Sehenswürdigkeiten, die man nicht verpassen darf. Keine aufwendigen Verabredungen zum Abendessen, die Fluggeräte erfordern. Und definitiv keine Kulte und blutrünstigen Hexenwesen«, flüsterte er Alec ins Ohr. »Einfach nur zu Hause.
«
»Es ist schön, wieder hier zu sein«, sagte Alec. »Mir hat die Aussicht aus diesem Fenster gefehlt.«
»Ja«, bestätigte Magnus verwundert. In seinem Leben hatte es schon so viele Fenster und so viele Städte gegeben. Aber dass ihm eine bestimmte Aussicht gefehlt hatte, war neu für ihn.
»Und ich habe Izzy vermisst.«
Magnus dachte an Alecs leidenschaftliche Schwester, die Alec mit seinem Leben schützen würde. »Ja.«
»Und Jace.«
»Hmm«, murmelte Magnus.
Er lächelte an Alecs Wange und wusste, dass Alec sein Lächeln spüren konnte, auch wenn er es nicht sah. Magnus hatte noch nie zuvor eine Aussicht vermisst, doch es fühlte sich gut an, dass ihm diese hier gefehlt hatte. Irgendwie war es seltsam, auf die typischen New Yorker Reihenhäuser und den blauen Himmel hinauszublicken, die schwungvollen Bogen der Brooklyn Bridge und die glitzernden Wolkenkratzer von Manhattan zu sehen und damit ein Gefühl der Rückkehr zu verbinden – der Rückkehr an einen Ort mit Freunden und Verwandten.
»Ich glaube nicht, dass uns schon jemand zurückerwartet«, sagte Alec.
»Wir müssen ihnen ja nicht erklären, warum wir früher nach Hause gekommen sind«, meinte Magnus. »Ich erkläre nie irgendetwas. Das spart Zeit und verstärkt meine geheimnisvolle Aura.«
»Nein, ich meinte …« Alec schluckte. »Ich vermisse sie, aber es würde mir nichts ausmachen, etwas mehr Zeit mit dir allein zu verbringen. Wir brauchen ihnen gar nicht zu sagen, dass wir schon zurück sind.«
Magnus’ Miene hellte sich auf. »Ich kann uns jederzeit durch ein Portal in den Urlaub zurückbefördern. Wir können es noch immer in die Oper schaffen, wenn du willst. Vielleicht etwas später.
«
»Ich könnte behaupten, dass mein Handy kaputtgegangen ist«, schlug Alec vor. »Oder dass es mir in den Tiber gefallen ist.«
Magnus grinste spitzbübisch. »Ich habe eine bessere Idee!«
Er sprang vom Sofa hoch und schlenderte in den hinteren Teil seines Lofts. Dort sprach er eine Zauberformel und machte mit den Armen zwei ausholende Gesten, sodass alle Möbelstücke zur Seite geschoben wurden.
Anschließend drehte er sich zu Alec um und trug plötzlich eine knallgrüne Lederhose. »Soweit ich mich erinnere, wollten wir als Nächstes Berlin besuchen.«
In der nächsten Stunde inszenierten sie Fotos für gleich mehrere Urlaubswochen, indem sie vor Hintergründen posierten, die Magnus an die Wand des Lofts zauberte. Das erste Bild zeigte sie beim Tanzen in einem Berliner Klub. Danach ging es weiter zur Vorderseite des Prado in Madrid. Alec verfütterte Kekse an eine kleine Taubenschar, die Magnus vom Dach herbeigezaubert hatte.
»Ich könnte auch einen Stier kommen lassen«, schlug Magnus vor. »Der Authentizität halber.«
»Kein Stier!«, widersprach Alec.
Das letzte Foto zeigte sie vor der Jama-Masjid-Moschee in Neu-Delhi, mitten in der farbenfrohen Menschenmenge, die das Eid-al-Fitr
-Fest feierte. Magnus zauberte silberne Schalen mit Gulab Jamun
, Ras malai
, Kheer
und ein paar anderen beliebten Süßspeisen herbei, mit denen sie sich gegenseitig auf höchst fotogene Weise fütterten.
Alec streckte die Hand aus, um Magnus für einen Kuss an sich zu ziehen, hielt jedoch inne, da seine Finger vor Zucker klebten. Magnus machte eine Geste, woraufhin eine glitzernde Magiewoge seiner Bewegung folgte und die Desserts, die Kulisse und den Sirup an ihren Händen verschwinden ließ. Anschließend beugte er sich vor, umfasste Alecs Kinn und küsste ihn
.
»Jetzt, da wir den Besichtigungsteil unseres Urlaubs abgehakt haben, können wir ihn endlich genießen«, sagte er, lehnte sich an ein Bücherregal, das mit uralten Zauberbüchern vollgestopft war, und nahm Alecs Hand.
»Das wäre toll«, antwortete Alec schüchtern.
»Rückblickend«, fuhr Magnus fort, »wäre eine extravagante Reise vielleicht sogar etwas übertrieben gewesen für eine so junge Beziehung wie die unsere.« Er zeigte auf sie beide.
Alec begann zu grinsen. »Ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass ich den Urlaub vermasseln würde.«
»Wie um alles in der Welt hättest du ihn vermasseln sollen?«
Alec zuckte die Achseln. »Würde ich dir das Wasser reichen können? Wäre ich interessant genug?«
Magnus fing an zu lachen. »Und ich wollte dir die Welt zeigen und was für ein großartiges und romantisches Abenteuer das Leben sein kann! Deshalb habe ich dieses Abendessen mit Ballonfahrt über Paris organisiert. Ist dir eigentlich klar, wie lange die Organisation gedauert hat? Allein dafür, dass der Tisch und die Stühle bei Seitenwind aufrecht stehen blieben, habe ich Stunden an Magie gebraucht, wovon du gar nichts mitbekommen hast. Und trotzdem habe ich eine Bruchlandung hingelegt.«
Alec lachte mit ihm.
»Ich habe es vielleicht etwas übertrieben«, gab Magnus zu. »Aber ich wollte dir die ganze Herrlichkeit und den Glanz Europas zu Füßen legen. Ich wollte, dass du dich amüsierst.«
Als er Alec wieder ansah, runzelte dieser die Stirn.
»Ich habe
mich amüsiert«, sagte er. »Aber das alles war überhaupt nicht nötig. Es waren nur Orte. Du musst nichts inszenieren, um mich zu gewinnen. Ich brauche weder Paris noch Venedig oder Rom. Ich brauche nur dich.«
Einen Moment herrschte Stille. Die Nachmittagssonne schien durch die offenen Fenster, ließ den Staub in der Wohnung
tanzen und warf einen warmen Schein auf ihre miteinander verschränkten Hände. Magnus konnte den Verkehrslärm von Brooklyn hören, die gelben Taxis, die drängelten und hupten.
»Ich wollte dich schon seit einiger Zeit etwas fragen«, setzte Magnus an. »Als Shinyun und ich in Rom in dem Pentagramm gekämpft haben, hast du sie angeschossen. Du hast mir erzählt, dass du Dutzende von Illusionen von mir sehen konntest, die gegen Dutzende ihrer Illusionen kämpften. Woher hast du gewusst, welche davon die echte Shinyun war?«
»Ich wusste es nicht«, erklärte Alec. »Aber ich wusste, wer du
warst.«
»Ach. War eine meiner Versionen attraktiver als die anderen?«, fragte Magnus entzückt. »Lässiger und weltmännischer? Mit dem gewissen Etwas?«
»Keine Ahnung. Aber du hast nach einem Messer gegriffen«, sagte Alec. »Du hattest es schon in der Hand, hast es dann aber wieder losgelassen.«
Magnus’ Schultern sanken enttäuscht herab. »Du hast mich erkannt, weil ich im Kämpfen schlechter war als sie?«, fragte er. »Tja, das ist wirklich eine deprimierende Feststellung. Vermutlich zählt ›erbärmlicher Kämpfer‹ zu den zehn Dingen, die einen Schattenjäger am meisten abtörnen.«
»Nein«, antwortete Alec.
»Rangiert das dann an elfter Stelle, direkt nach ›sieht in Schwarz nicht wirklich gut aus‹?«
Erneut schüttelte Alec den Kopf. »Bevor wir uns kennengelernt haben, war ich oft wütend und habe Menschen verletzt, weil es mir nicht gut ging. Und wenn es einem nicht gut geht, fällt Freundlichkeit nicht leicht. Die meisten Leute tun sich damit sogar unter normalen Umständen schwer. Der Dämon, der für diese Illusion verantwortlich war, konnte sich das jedenfalls nicht vorstellen. Aber unter all diesen identischen Gestalten gab es nur
eine einzige Person, die zögerte, jemanden zu verletzen – selbst im Moment der allergrößten Angst. Und das musstest du sein.«
»Ach«, sagte Magnus.
Er nahm Alecs Gesicht in seine Hände und küsste ihn erneut. Obwohl er Alec schon so oft geküsst hatte, würde er sich nie daran gewöhnen, wie Alec auf ihn reagierte – und wie er
auf Alec reagierte. Jeder Kuss fühlte sich wie der erste an. Magnus wollte
sich nie daran gewöhnen.
»Wir sind allein«, murmelte Alec an Magnus’ Mund. »Die Wohnung ist mit Schutzzaubern versehen. Wir können also nicht durch Dämonen gestört werden.«
»Die Türen sind verschlossen«, bestätigte Magnus. »Und ich habe die besten Schlösser, die man mit Geld und Magie kaufen kann. Bei meinen Türen funktioniert nicht mal eine Entriegelungsrune.«
»Klingt gut«, sagte Alec.
Magnus konnte ihn kaum verstehen. Alecs Lippen an seinem Mund raubten ihm jeden klaren Gedanken.
Rasch schnippte er mit den Fingern in Richtung des Betts, woraufhin die gold und scharlachrot gemusterte Bettdecke auf die andere Seite des Raumes flog wie ein Segel, das sich losgerissen hatte. »Können wir …?«
Alecs Augen leuchteten vor Verlangen. »Ja.«
Sie fielen auf die Matratze und umschlangen einander auf dem Seidenlaken. Magnus schob seine Hände unter Alecs T-Shirt und spürte die warme, glatte Haut unter der abgetragenen Baumwolle und das Zittern von Alecs Bauchmuskeln. Sein eigenes Verlangen brannte wie eine Flamme, die aus seinem Bauch in seine Brust hinaufstieg und seine Kehle zuschnürte. Alexander. Mein wunderschöner Alexander. Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich will?
Doch eine dunkle Stimme flüsterte in seinem Hinterkopf,
murmelte, dass er Alec nicht die Wahrheit über seinen Vater und sein Leben sagen durfte. Magnus wollte seinem Freund die Wahrheit über jedes Detail seiner Existenz zu Füßen legen, aber dieses eine würde Alec nur in Gefahr bringen. Er musste es zurückhalten.
»Warte, warte, warte!«, keuchte Magnus.
»Warum?«, fragte Alec mit weichen, vom Küssen geröteten Lippen und vor Verlangen umnebeltem Blick.
Ja, warum eigentlich? Gute Frage! Magnus schloss die Augen und stellte fest, dass es hinter seinen Lidern noch immer strahlend hell war, spürte, wie sich die Konturen von Alecs Körper warm und süß und perfekt an die seines eigenen schmiegten. Er ertrank im Licht.
Magnus schob Alec von sich weg – allerdings nicht weit, da er es nicht ertragen hätte. Alec war jetzt eine Handbreit von ihm entfernt; nur ein Streifen purpurroter Seide trennte sie.
»Ich will nur nicht, dass du etwas tust, das du später vielleicht bereust«, sagte Magnus. »Wir können so lange warten, wie du willst. Wenn du warten willst, bis … bis du dir über deine Gefühle im Klaren bist …«
»Was?« Alec klang verwirrt und auch ein wenig gereizt.
Die Male, in denen Magnus sich schöne, sinnliche Momente mit Alec ausgemalt hatte, oder Momente, in denen er selbst sich aufopferungsvoll und großzügig zeigte, hatte sein geliebter Alec nicht so verärgert gewirkt.
»Ich habe dich in der Abkommenshalle geküsst, vor der Engelsstatue und allen, die ich kenne«, sagte Alec. »Hast du da nicht verstanden, was das bedeutet?«
Magnus erinnerte sich daran, wie er Alec zu Beginn eines Krieges gegenübergestanden hatte, in der Annahme, ihn für immer verloren zu haben. Und daran, wie ihm bewusst geworden war, dass das nicht stimmte. Einen einzigen herrlichen Moment lang
hatte er Gewissheit gefühlt – Gewissheit, die wie eine Glocke durch die Abkommenshalle geschallt und in seinem ganzen Körper widergehallt hatte. Aber solche Momente waren nicht von Dauer. Magnus hatte zugelassen, dass sich Schatten des Zweifels einschlichen und seine Gewissheit verdrängten – Zweifel an sich selbst, an seiner Vergangenheit und an Alecs Zukunft.
Alec beobachtete ihn aufmerksam. »Du hast vor mehreren Jahrhunderten einen Dämonenkult gegründet, aber ich habe keine Fragen gestellt. Ich bin dir durch ganz Europa gefolgt. Ich habe im Orientexpress eine ganze Meute von Dämonen niedergemetzelt – für dich. Ich bin in einen Palazzo gegangen, in dem es vor Mördern und Menschen wimmelte, die alle Small Talk machen und tanzen wollten – für dich. Für dich habe ich das römische Institut belogen, und ich hätte auch den Rat belogen.«
Das war nicht gerade wenig. »Es tut mir leid, dass du das alles auf dich nehmen musstest«, murmelte Magnus.
»Ich will nicht, dass es dir leidtut!«, widersprach Alec. »Mir tut es nicht leid. Ich wollte das. Ich wollte das alles, zusammen mit dir. Da ist nur eine Sache, die mich gestört hat: wenn du in Schwierigkeiten gesteckt hast und ich nicht da war. Ich will, dass wir gemeinsam in Schwierigkeiten stecken. Ich will, dass wir zusammen sind, egal was passiert. Das ist alles, was ich will.«
Alec verstummte, und Magnus wartete. Einen Moment später fuhr Alec leise fort: »Ich habe noch nie zuvor jemanden so sehr geliebt. Vielleicht drücke ich es nicht richtig aus, aber das ist es, was ich fühle.«
Ich habe noch nie zuvor jemanden so sehr geliebt.
Magnus’ Herz schien aufzubrechen und seine Adern mit Liebe und Verlangen zu füllen. »Alec«, flüsterte er. »Du hättest es nicht besser ausdrücken können.«
»Was stimmt dann also nicht?« Alec kniete sich auf das Bett, das Haar hinreißend zerzaust, die Wangen gerötet
.
»Es ist dein erstes Mal«, erklärte Magnus. »Ich will, dass es perfekt ist.«
Zu Magnus’ Überraschung grinste Alec. »Magnus«, sagte er, »ich habe so lange
darauf gewartet. Wenn wir jetzt nicht sofort
weitermachen, dann springe ich aus dem Fenster.«
Magnus fing an zu lachen. Es war seltsam, zu lachen und gleichzeitig Verlangen zu empfinden, und er war sich nicht sicher, ob er das je mit jemand anderem als Alec erlebt hatte. Er streckte die Hand aus und zog seinen Freund an sich.
Alec keuchte auf, als ihre Körper kollidierten, und kurz darauf lachten beide nicht mehr. Alecs Atmung ging schneller, als Magnus ihm das T-Shirt auszog. Seine Berührungen waren hungrig und neugierig. Seine Hände fanden den Kragen von Magnus’ Hemd, rissen es auf, schoben es ungeduldig von seinen Schultern und fuhren an seinen nackten Armen hinunter. Er küsste Magnus’ Hals, seine nackte Brust und den flachen, nabellosen Bauch. Magnus glitt mit den Fingern durch Alecs zerzauste dunkle Haare und fragte sich, ob jemand jemals so viel Glück empfunden hatte.
»Leg dich zurück«, flüsterte Magnus schließlich. »Leg dich zurück, Alexander.«
Alec streckte sich auf dem Bett aus, sein wunderschöner Körper war von der Taille aufwärts nackt. Sein Blick war auf Magnus geheftet, als er nach hinten griff und mit den Händen das Kopfteil des Bettes umfasste, wobei seine Armmuskeln deutlich hervortraten. Das Sonnenlicht fiel durch das Fenster auf Alecs Körper, sodass es wirkte, als würde er schwach leuchten. Magnus seufzte und wünschte sich, mit Magie die Zeit anhalten zu können, um bis in alle Ewigkeit in diesem Moment zu verweilen.
»Oh, mein Liebster«, murmelte er. »Ich bin so froh, wieder zu Hause zu sein.«
Alec lächelte. Magnus beugte sich über ihn, und sie umschlangen
einander. Ihre Körper passten perfekt zusammen: Brust an Brust, Hüfte an Hüfte. Alecs Atem ging stoßweise und stockte, als Magnus’ Zunge ihren Weg in seinen geöffneten Mund fand. Magnus’ Hände befreiten Alec von den verbliebenen Kleidungsstücken, und dann waren sie endlich zusammen – Haut an Haut, Atem an Atem, Herzschlag an Herzschlag. Magnus fuhr mit den Ringen an seinen Fingern über Alecs Kehle und wieder hinauf bis zu dessen Lippen. Alec leckte und saugte an Magnus’ Fingern und den Edelsteinen. Magnus schauderte vor qualvoller Sehnsucht, als Alec ihn sanft in die Handfläche biss. Alle Stellen, an denen sie sich küssten und berührten, fühlten sich an wie Alchemie – die Verwandlung des Alltäglichen in Gold. Sie gingen gemeinsam weiter, bewegten sich erst langsam und zuletzt schnell und fordernd.
Als die Bewegungen abgeebbt waren und sich das Keuchen in leises Flüstern verwandelt hatte, lagen sie im schwindenden Sonnenlicht und hielten einander fest umschlungen. Alec schmiegte sich an Magnus’ Seite, und sein Kopf ruhte auf der Brust des Hexenmeisters. Magnus strich über Alecs weiches Haar und blickte voll Staunen zu den Schatten über dem Bett hinauf. Er hatte das Gefühl, als wäre so etwas zum ersten Mal auf der Welt passiert. Es fühlte sich an wie der Beginn von etwas Strahlendem, Leuchtendem und ganz und gar Neuem.
Magnus hatte immer das Herz eines Vagabunden gehabt. Im Lauf der Jahrhunderte hatte seine Abenteuerlust ihn an so viele verschiedene Orte geführt, immer auf der Suche nach etwas, das sein rastloses Verlangen stillen würde. Ihm war nie bewusst gewesen, dass alles plötzlich einen Sinn ergeben, dass irgendein Ort und irgendeine Person sein Zuhause werden könnte.
Er gehörte zu Alec. Sein Vagabundenherz würde endlich Ruhe finden
.
Das Portal öffnete sich direkt vor dem verwitterten Hongsalmun
unweit der Hügelkuppe. Die rote Farbe, die das Holztor einst zum Leuchten gebracht hatte, war vor einem Jahrhundert abgeplatzt, und Schlingpflanzen wanden sich an seinen Pfählen und Stangen empor.
Shinyun trat aus dem Portal und atmete die frische Bergluft ein. Sie überblickte ihren Besitz und ihre unpassierbaren Schutzschranken. Nur ein Fuchs war vor langer Zeit hier vorbeigekommen, völlig ausgehungert auf der Suche nach Nahrung. Doch er hatte keine gefunden, und heute war nur noch das Skelett von ihm übrig.
Langsam folgte Shinyun dem gewundenen Pfad aus Schotter und Gestrüpp, der sich den Hügel hinaufschlängelte. Das alte Zuhause ihrer Familie in Korea galt bei den Einheimischen als verfluchter, von Geistern heimgesuchter Ort. Shinyun nahm an, dass das in gewisser Weise auch zutraf. Sie war der Geist ihrer Familie, der letzte. Sie war ausgestoßen worden und konnte den Ort doch nie wirklich hinter sich lassen.
Als sie das Haus betrat, erweckte sie es mit einer Handbewegung zum Leben: Im Kamin flammte ein Feuer auf. Ihre beiden Nue-Dämonen mit ihren Affengesichtern, leuchtend roten Augen und messerscharfen Zähnen fuhren aus dem Kamin auf und kamen zu ihr, wobei ihre Schlangenschwänze durch die Luft peitschten.
Die beiden Dämonen folgten ihrer Herrin in geringem Abstand, als sie durch den Hauptkorridor zur Rückseite des Hauses ging. Am Ende des Korridors schien es nicht mehr weiterzugehen, doch im nächsten Moment flackerte die Wand auf und verschwand. Shinyun und ihre Dämonen passierten die Stelle und stiegen eine versteckte Treppe hinunter, während sich die Mauer hinter ihnen wieder schloss.
Im hinteren Bereich des Kellers stand ein rostiger Metallkäfig,
der mit mächtigen Schutzzaubern bewehrt war. Shinyuns Dämonen waren keine Haustiere. Sie waren Wächter. Sie hielten Eindringlinge fern und hinderten andere am Verlassen des Orts.
Shinyun schob die Riegel zurück und betrat den Käfig. Die Dämonen fauchten den Haufen in der Ecke an, woraufhin der schmutzige grünhäutige Hexenmeister den Kopf hob. Sein Gesicht war fast vollständig von einer verfilzten Haarmasse verdeckt, die einmal schneeweiß gewesen, jetzt aber grau vor Schmutz war.
»Ach, du lebst noch«, sagte er. »Was für ein Pech.«
Er sank auf den Haufen aus Heu und Sackleinen zurück, als wäre es Seide.
»Aber es freut mich ungemein, dass du so mitgenommen aussiehst«, fügte er hinzu. »War Magnus Bane also doch ein anspruchsvollerer Gegner als erwartet? Wer hätte das gedacht? Ach ja, richtig: Ich hatte dir ja gesagt, dass du keine Chance gegen ihn hast. Mehrmals sogar.«
Shinyun verpasste ihm einen niederträchtigen Fußtritt in die Körpermitte und trat ihn so lange weiter, bis sie mit einem Stöhnen belohnt wurde.
»Vielleicht hat es nicht so geklappt, wie ich es mir erhofft hatte«, keuchte sie. »Aber das wird dir genauso leidtun wie mir. Denn ich habe einen anderen Plan, einen Plan für all die ältesten Flüche – und du wirst mir dabei helfen, ihn umzusetzen.«
»Das bezweifle ich«, sagte der Mann. »Hilfsbereitschaft liegt nicht in meiner Natur.«
Shinyun schlug ihn, trat ihn, bis er sich vor Schmerzen zusammenkrümmte, und wandte dann das Gesicht ab, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte.
»Du hast gar keine Wahl. Niemand wird versuchen, dich zu retten«, sagte sie kalt und bestimmt. »Du bist ganz auf dich allein gestellt, Ragnor Fell. Alle denken, du wärst tot.«