S am wusste nicht, was er erwartet hatte, als er nach draußen trat und damit die schützende Kammer aufgab, die dieses schäbige Etablissement ihm bot. Ein wenig hilflos kam er sich vor, wie er den Mantel in seiner Hand hielt. Der war hinüber. Schweiß, Sperma und Sams Gewicht auf ihm hatten genügt, um aus dem teuren Teil einen Fall für die Tonne zu machen. Möglich, dass eine Reinigungsfirma das wieder hinbekam. Sicher war er sich nicht. Das war Kaschmir oder so etwas Ähnliches. So ein weiches und sich teuer anfühlendes Kleidungsstück hatte er noch nie in den Händen gehalten, geschweige denn darauf gelegen.
Mr. Boyd trat zu ihm und Sam wusste im ersten Moment nicht, woher er gekommen war. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Sam brannte der Hintern noch immer und in seinem Inneren war kehrseitig genug Hitze, um ihn erneut geil werden zu lassen. Sein Schwanz füllte sich prompt mit Blut. Doch die Last und der Druck, den er noch bis eben gespürt hatte, bevor er die Folterkammer betreten hatte, waren weg. Noch einmal durchgefickt zu werden, dagegen hatte er ganz und gar nichts. Aber es war dennoch genug. Der Friede, den er so sehr vermisst hatte, war wieder zurück, und das nach einer Behandlung, die in der Qualität für ihn völlig neu war.
Sein Leben war zwar nach wie vor beschissen und wie er Nino kannte, war er sich sicher, dass es auch mit ihm nicht vorbei war. Jetzt aber galt nur das eine und das war, wie konnte er Master Cecil Boyd elegant loswerden, ohne diesen wunderbaren Mann vor den Kopf zu stoßen. Denn das hatte er nicht verdient.
Mr. Boyd war das, was er unter einem integren Mann kannte. Nona hatte ihm beigebracht, dass man solche Menschen niemals respektlos behandeln sollte. Nur einmal hatte er diesen Grundsatz missachtet und er bereute es bis heute. Dabei war er damals erst acht Jahre alt gewesen. Wie auch immer, Mr. Boyd schien mit der Inspektion seinerseits nicht zu Ende zu sein. Er fragte aber nicht, ob es ginge. Vielmehr wandte er sich abrupt ab und hielt direkt auf Nino an der Bar zu.
„Haben Sie etwas mit ihm zu schaffen?“, fragte er.
Sam wurde heiß und kalt. Ein paar mehr Leute waren im G – mehr, als er in Erinnerung gehabt hatte. Sie mussten zwischenzeitlich gekommen sein und sie wirkten reichlich desinteressiert. Diese Haltung war es, die sie verriet. Jedes Wort wurde geradezu aufgesogen. Mr. Boyd passte nicht hierher und Sam erkannte aus dem Augenwinkel, dass zwei Gäste sich anstießen und Richtung Ausgang gingen.
Fuck, dachte Sam und unterdrückte den Drang, einen Seufzer auszustoßen.
„Er ist mein Kerl!“, rief Nino in diesem Moment und stellte damit seinen Anspruch gegenüber jedem in der Bar klar. „Das nächste Mal Pfoten weg, Kleiner. Aber er will ab und an spielen. Da kann ich ihn schlecht bändigen. Wird mir ein Vergnügen sein, ihn für seine Untreue zu bestrafen.“ Er grinste breit.
Mr. Boyd nickte, als würde er zustimmen, sagte aber dann: „Er gehört jetzt mir. Sollte ich erfahren, dass er noch einmal von Ihnen angefasst wurde, dann zeige ich Sie an.“
Sam war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen genommen. Ein paar der Gäste lachten.
„Du Scheißkerl!“, rief Nino, hechtete um den Bartresen und war doch irgendwo mitten auf der Strecke stecken geblieben. Wie in einem Comic war Nino in der Bewegung erstarrt, wirkte blass und eher kränklich. Es war eine Sache von Bruchteilen von Sekunden gewesen. Mr. Boyd war ihm entgegengekommen und platzierte noch im Lauf einen Schlag genau in die Körpermitte. Mit etwas Verspätung verspürte Sam einen Phantomschmerz auf gleicher Höhe – in seinem Schritt. Solidarität mit Nino. Das war nichts, was er wollte. Doch welcher Mann blieb kalt, wenn man einen anderen dabei sah, wie er seine Eier poliert bekam? Dann erkannte er seinen Irrtum. Der Schlag hatte exakt in die Körpermitte gezielt und getroffen. Mr. Boyd hatte Nino aufgefangen und die Faust verharrte noch immer auf Bauchhöhe. Nino keuchte und taumelte zurück, als Mr. Boyd ihn losließ. Er stöhnte leise. Mr. Boyd folgte ihm, packte ihn mit zwei Fingern an der Nase und zwang ihn in die Knie. Nino wimmerte nur noch.
„Kennst du diesen Mann?“, fragte Mr. Boyd sanft und deutete auf Sam.
Nino nickte und bereute es zutiefst. Er schrie auf, weil Mr. Boyd ihm zeigte, was er von der Antwort hielt.
„Noch einmal: Kennst du diesen Mann?“, fragte er ihn freundlich.
„Nein“, schrie Nino wimmernd auf.
Sam zerknüllte fast den Mantel.
„Das ist gut. Sollte ich je hören, dass er von dir belästigt worden ist, dass er sich unwohl fühlt oder in einer anderen Art und Weise von dir geschädigt wurde, dann werde ich dich erst fertigmachen und dann wegen Körperverletzung anzeigen. Verstehen wir uns jetzt?“
Nino rief „Ja“ und sah sich unvermittelt wieder freigelassen. Blut tropfte ihm aus der Nase und Sam verzog das Gesicht. Mr. Boyd stand über Nino, vergewisserte sich, dass die Nachricht angekommen war und wandte sich wieder Sam zu. „Gehen wir, und Mr. Petrow, Sie können draußen auf mich sauer sein“, sagte er.
Sam merkte tatsächlich erst als er draußen stand, dass er wütend war. Dabei überhörte er, dass Mr. Boyd ihn wieder förmlich ansprach. Die Distanz war wiederhergestellt. „Ich kann meine Angelegenheiten selbst regeln“, rief er ihm erbost nach.
Mr. Boyd nickte. „Sie haben recht, das können Sie. Tun Sie mir nur einen Gefallen: Sollten Sie je auf jemanden treffen, der Schwierigkeiten hat, seine Angelegenheiten zu regeln, und dies ihm die Gesundheit und das Leben kosten könnten, dann mischen Sie sich ein.“
„Was?“
„Lassen Sie uns gehen! Und seien Sie sich gewiss, dass ich mich nicht eingemischt hätte, wenn ich nicht wüsste, wie solche Beziehungen funktionieren. Sie brauchen ab und zu Schmerzen und dieses Arschloch würde Sie, sobald Sie nicht mehr können, so fertigmachen, dass Sie im Krankenhaus landen. Denn dass ich Sie hatte, wird er Ihnen niemals verzeihen.“
Sam ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen und sah Mr. Boyd fassungslos an.
„Und Sie meinen, ich hätte das nicht selbst gepackt?“, fragte er.
Mr. Boyd blieb stehen und wandte sich zu ihm um. „Nein, hätten Sie nicht, und bevor Sie hochfahren: Nur wenige Menschen schaffen das. Wenn man am Boden ist, kann man sich glücklich schätzen, wenn man Freunde hat oder jemanden in der Nähe, der das nicht ausnutzt. Und ich weiß, wovon ich spreche. Ich kenne Menschen wie Ihren Ex und ich weiß, wo Sie gerade stehen. Bevor Sie denken, wie kann das jemand wie ich sagen, der doch ganz offensichtlich mit einem goldenen Löffel geboren wurde: Ich bin drogensüchtig und ich habe kein Problem damit, das zuzugeben. Stärke ist nicht, vor anderen zu verbergen, dass man schwach ist. Stärke ist, wieder aufzustehen, sobald man es kann, und wenn man dabei die Hand ergreift, die einem geboten wird. Und jetzt, Mr. Petrow, wo wohnen Sie? Sie hatten keine Unterlagen Ihrer Bewerbung vorgelegt, aus denen ich das hätte entnehmen können.“
„Sie sind mir gefolgt“, flüsterte Sam. „Also wissen Sie es doch!“
Mr. Boyd lächelte. „Es hätte auch die Adresse eines anderen Freundes sein können. Lassen Sie uns gehen.“
„Sie sind ein gottverdammter Stalker!“, gab Sam mit einem Brummen von sich.
„Möglich, wahrscheinlich. Jedoch denke ich auch, dass Sie gut zu uns passen würden. Aber es ist und bleibt Ihre Entscheidung. Mehr Sorge bereitete mir, in welchem Zustand Sie uns verlassen hatten und ich kann nicht aus meiner Haut.“
„Nehmen Sie viele Streuner auf?“
Mr. Boyd lachte und Sam ging dieser Laut durch und durch. Ein wenig Verlegenheit war es, die ihn dazu brachte, zumindest eine Hand in die Hose zu schieben, dabei den Stoff zu spannen und dadurch Druck auf seinen Hintern auszuüben. Er verbat sich jedes Anzeichen des Unbehagens. Er war glücklich. Ein merkwürdiges Gefühl, dabei hatte er sich noch vor Sekunden gegen die Fürsorge und die Einmischung gewehrt. Dann fiel ihm siedend heiß etwas ein.
„Was ich noch sa…“
Weiter kam er nicht. Das Problem, das er ansprechen wollte, verstellte ihnen den Weg.
„Hallo Freunde!“ Zwei Männer traten auf sie zu. Sie hatten ihnen je links und rechts in einem Hauseingang und schlecht einsehbaren Ecke aufgelauert. Sie lächelten und Sam stellten sich die Nackenhaare auf. „Hat einer von euch zweien Feuer?“
„Tut mir leid, mein Freund hat auch keines“, gab Mr. Boyd zur Antwort. Sam fragte sich nicht, woher der das wusste. Vielmehr hatte er Sorge, dass die Situation eskalieren konnte und er hoffte, dass Mr. Boyd den Männern gab, was sie wollten, und die keine Waffe zogen.
„Das ist natürlich bedauerlich. Wir nehmen aber auch gern dein Geld und deine Uhr und dein hübsches Smartphone. Bitte mit Zugangscode.“ Die zwei Männer, keine auffälligen Typen, mit Jeans, Jacke und Sweatshirt bekleidet, waren Mitte zwanzig, hatten dunkle Haare. Die kleinen Äderchen in ihrem Gesicht und die roten Augen verrieten, dass sie in ein paar Jahren hier in dieser Gasse liegen würden, während die Polizei ein Absperrband ausrollte. Doch im Moment sah es so aus, als würde die Polizei das wegen ihm und Mr. Boyd machen. Denn der Typ zu ihrer Rechten zog ein Messer.
„Und du auch, Maso. Los, dein Portemonnaie her! Wird sich zwar nicht lohnen, aber ich bin nicht so.“ Sein Kumpel lachte dreckig.
Sam bemerkte, dass er noch immer den Mantel Mr. Boyds in der Hand hielt. Mr. Boyd trat einen halben Schritt vor.
„Hey, langsam, Kleiner. Du magst vielleicht als Dom eine große Nummer sein. Aber hier gibt es keine Peitschen.“
„Da gebe ich Ihnen recht“, sagte Mr. Boyd. Er hob unvermittelt seinen Arm und schlug mit einem kurzen Stock auf die Hand des Angreifers mit dem Messer, fuhr dann dem anderen damit in die Seite. Nacheinander schrie erst der eine, dann der andere auf. Mr. Boyd kam hinter sie und hieb ihnen im Wechsel mehrfach auf den Hintern, was sie komisch nach vorn springen und aufjaulen ließ. „Ich bevorzuge auch eher kürzere Schlaginstrumente“, meinte er und schob das Gerät lässig ineinander.
„Was ist das?“, fragte Sam.
„Ein Teleskopschlagstock, den man unter dem Anzug tragen kann. Ich finde ihn sehr praktisch. Wenn ich mich schon in diese Gegend wage, würde ich mächtigen Ärger bekommen, wenn ich mich nicht zu Wehr setzen kann. Meine Partner wären ausgesprochen sauer, sollte ich mit Verletzungen nach Hause kommen. Lassen Sie uns gehen. Die zwei Herren haben genug.“ Damit trat er das Messer mit der Fußspitze weg und feuerte es unter eine der Mülltonnen. „Ich kann euch nur raten, den Job zu wechseln. Ihr werdet sonst dafür beim nächsten Mal im Knast landen.“
Sam ahnte, dass er sich für eine lange Zeit hier nicht mehr sehen lassen brauchte. Mit einem Seufzer arrangierte er den Mantel auf seinem Arm neu und folgte Mr. Boyd. Kurz riskierte er einen Blick zurück. Die Kerle hielten sich die Hände, wo Mr. Boyd sie getroffen hatte, und standen gebeugt in der Gasse. Ihre Gesichter waren eine gute Auskunft über den Schmerz, den sie empfanden. Sam war froh, dass Mr. Boyd etwas vom Schlagen verstand. „Sie ziehen Ärger an, oder?“, fragte er, als sie um die Ecke gegangen waren.
„Das ist kein Privileg, das ich allein habe. Sie sind, wenn ich das so sagen darf, auch kein Glückskind“, gab der Mann recht vergnügt zurück. Offenbar hatte ihn die Auseinandersetzung etwas aufgeputscht. Sam betrachtete ihn von der Seite, während sie den Weg zurückgingen, den er zuvor genommen hatte. Langsam dämmerte ihm, dass er es mit einer insgesamt recht komplexen Persönlichkeit zu tun hatte.
„Wie viele Partner sind es denn?“, fragte Sam neugierig.
„Vier!“ Mr. Boyd blieb stehen. „Lassen Sie mich Folgendes sagen: Wir sind an Ihnen interessiert. Und Ihr Misstrauen ist berechtigt. Selbstverständlich gibt es einen, wenn nicht mehrere Haken bei der ganzen Angelegenheit.“
„Sie versteigern mich an den Meistbietenden.“
Mr. Boyd blieb abrupt stehen. Sam bemerkte, dass der Mann fror und noch immer hielt er dessen ramponierten Mantel fest, den dieser offenbar bis zu diesem Moment vergessen hatte. Der Blick Mr. Boyds ruhte darauf. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, wandte er sich um und ging schnurstracks in ein Bekleidungsgeschäft, das sich keine fünfzig Schritt von ihnen entfernt befand. Sam war verwirrt, folgte aber und fragte sich, was er hier eigentlich tat.
„Es tut mir leid wegen des Mantels“, versuchte er sich zu entschuldigen.
Mr. Boyd lächelte. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Mir ist nur eben aufgefallen, dass es besser ist, wenn ich nicht so auffällig aussehe. Der Mantel ist keine Option mehr und es ist ziemlich kalt. Können Sie noch einen Moment?“
„Was? Ähm, mir geht’s gut! Ich sagte doch …“
„Dass Sie hart im Nehmen sind. Ja, ich weiß.“ Der Mann zog eine schlichte, aber dick gefütterte Jacke von einem der vielen Ständer und probierte sie an. Die Auswahl in dem Viertel war sicher nichts, was er gewohnt war. Die Jacke saß gut und verdeckte irgendwie den Eindruck, dass er nicht in diese Gegend gehörte. „Damit sollte es gehen. Den Mantel können Sie in die Kleiderbox werfen. Wenn Sie das für mich tun würden? Ich werde die Jacke bezahlen.“
Sam legte das Kleidungsstück ab und Mr. Boyd kam ihm bald darauf lächelnd entgegen. „Ich weiß nicht, ob ich Ihre Vorbehalte ausräumen kann. Doch eines verspreche ich Ihnen: Ich bin kein Freund von Menschenhändlern.“ Die Stimme, die eben noch freundlich geklungen hatte, wurde geradezu klirrend und hatte mehr mit dem Tonfall gemein, den Mr. Boyd Nino gegenüber angeschlagen hatte und der ihm noch immer im Ohr lag. „Der Haken an der Arbeit ist, dass sie nicht ungefährlich ist. Ich werde alles in die Wege leiten, sie so sicher wie möglich zu machen. Doch ein Restrisiko bleibt. Die Bezahlung ist entsprechend. Dreißig Prozent Ihres Einkommens erhalten Sie bar, als Scheck oder auf ein Konto Ihrer Wahl. Zehn Prozent werden zurückgelegt und Sie erhalten das Geld, wenn Sie uns verlassen. Es ist für einen Neuanfang bestimmt und das Kapital werden Sie meiner Einschätzung nach brauchen. Niemand erledigt diesen Job, ohne dass er Spuren hinterlässt. Darüber hinaus gibt es eine kostenlose medizinische Versorgung. Ihre Zähne werden saniert. Des Weiteren eine Ausbildung.“
Sam, der zwischen Staunen und Fassungslosigkeit wechselte, weil ihm aufging, dass er tatsächlich in Erwägung zog, das Angebot anzunehmen, stotterte: „Meine Zähne sind gut.“
„Richtig, aber unten scheint ein Backenzahn zu fehlen. Ungeachtet dessen gehört ein gepflegtes Aussehen zum Geschäftsprinzip.“
Sam schloss den Mund. Verdammt, der Kerl war zu aufmerksam.
„Sie erhalten außerdem Kost und Logis und annähernd geregelte Arbeitszeiten. Sie werden sie, wenn es sich anbietet, selbst frei einteilen können. Arbeitskleidung sowie Equipment werden gestellt. Ihr Wille, sich einzubringen und lernen zu wollen, wird aber Grundvoraussetzung sein, überhaupt die Stelle zu erhalten.“
„Und was ist der Haken, außer dass es gefährlich ist?“, fragte Sam. „Das beeindruckt mich nicht. Schauen Sie sich um! Die Gegend zur falschen Zeit und Ihnen steckt ein Messer im Bauch. Ich denke, ich kann mit Gefahr umgehen.“
Mr. Boyd trat näher und blickte zu ihm auf. Er vermittelte den Eindruck, dass Größe für ihn keine Rolle spielte. „Hier“, raunte er, „wo Sie sich auskennen, die Spielregeln beherrschen, mag das stimmen. Aber wir werden uns in Gebiete wagen, deren Regeln Sie nicht kennen. Ein Messer sieht man. Das, was Sie bei der Arbeit töten, wenn nicht gar vernichten kann, werden Sie nicht sehen.“
Sam fragte sich, worin die Steigerung lag, wenn töten weniger schlimm als Vernichtung war. Er wusste nicht, ob es besser war, zu schweigen oder zu fragen.
„Von wie viel reden wir?“, fragte er und war überrascht, dass diese Frage über seine Lippen kam. Er klang damit, als hätte er sich entschieden, und doch hatte er das nicht. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass sein Bauchgefühl gerade dazu tendierte, ja zu sagen und er dringend einen Grund suchte, um ein Nein über die Lippen zu bekommen. Die Gefahr zu sterben – mehr noch, vernichtet zu werden, schien ihn irgendwie nicht zu interessieren. Eher war ein faszinierendes Kribbeln in seinem Bauch.
„Ich kann Ihnen Zahlen nennen, Mr. Petrow. Ich kann Ihnen so viel sagen, dass Ihnen schwindlig wird. Doch letztlich ist es schwer zu schätzen. Das Segment, das wir anstreben, hat eine Spannbreite von 2.000 Dollar als unterste Grenze. Pro Kunden, pro Einheit, versteht sich. Wir denken jedoch, dass es durchaus mehr ist. Bei einem gewissen Angebot unsererseits leicht das Mehrfache des genannten Satzes. Fünfstellig dürfte erreichbar sein. Wir planen aber auch, einfache Begleitdienste anzunehmen. Kleinere Jobs. Die Preise sind entsprechend geringer. Jedoch weit aufwendiger für den Gesellschafter, der diesen Termin wahrnimmt. Wiederum abhängig vom Kunden.“
Sam hatte einen trockenen Hals. „Pro Nacht?“, fragte er und klang etwas piepsig.
„Ich denke, pro Nacht werden es nur selten mehr als zwei Kunden sein. Je nachdem. Das ist kein Massengeschäft. Wir sind kein Straßenstrich mit Fünfzehn-Minuten-Einsätzen für einen Blowjob.“
Sam sehnte sich nach einem Stuhl und darauf geschissen, dass er gar nicht sitzen konnte. Er hatte schon protestieren wollen. Dreißig Prozent. Der größte Anteil ging an seinen Zuhälter – wie ansprechend der auch aussehen mochte. Wenn er gesund war, brauchte er die Krankenversorgung nicht. Das war ein Luxus, den er sich im Zweifel auszahlen hätte lassen. Und überhaupt. Aber der Anteil, der ihm schon jetzt blieb, gerechnet auf 2.000 und mehr, wofür man auch immer mehr bekam, war so viel mehr, als er mit dem Mindestlohn bisher je erhalten hatte. Wenn ihn der eine oder andere Chef nicht hintergangen hätte. Theoretisch konnte er auf diese Weise zwei Monatslöhne und mehr in einer Nacht für seine Familie reinholen.
„Wollen wir?“, unterbrach Mr. Boyd seine Gedankengänge.
Sam konnte kaum folgen.
„Was wollen wir?“, fragte er daher. Dass es darum ging, dass sie sich auf dem Weg zu seinem Zuhause befanden, gelang ihm nur schwer zu vergegenwärtigen.
„Weitergehen!“ Mr. Boyd lächelte und Sam fühlte sich vage verspottet.
„Sie können gut lachen. Wenn Geld das ist, dem man ewig hinterherrennt, ist das, was Sie mir gerade sagten, ein Traum. Sie haben recht: Ich denke auch, dass die Sache einen Haken hat und Sie werden mir davon nichts erzählen.“
Mr. Boyd zupfte sich am Ohr und Sam dachte nur: Ertappt!
„Es ist kein leicht verdientes Geld“, sagte Mr. Boyd dann jedoch in einem Ton, der Sam verriet, dass er das ernst meinte. „Niemand macht diesen Job und geht unberührt zurück in sein altes Leben und setzt es fort. Bevor Sie kamen, war das Büro voller Bewerber, die wir übrigens alle ablehnten. Sie kamen allesamt aus dem Metier. Erhofften sich eine bessere Stelle. Sie machen diesen Job seit Jahren. Die wenigsten werden aussteigen und man sah es ihnen auch an. Sie hingegen sind frisch. Die alten Hasen wissen es und die, die es noch nicht erfahren haben, stehen kurz davor: Kaum jemand hört je wieder auf, eine Hure zu sein, wenn er sich einmal dazu entschlossen hat. Selbst wenn man alles dafür tut: Entweder wird man von jemandem erkannt oder aus anderen Gründen kann man nicht mehr zurück.“ Mr. Boyd unterbrach sich und Sam lief stumm neben ihm. „Sie da reinzuziehen, ist im Grunde der eigentliche Haken. Sie sind unschuldig. Aber es ist auch das, was ich suche. Menschen, die in dem, was wir tun, noch kein Geschäft sehen. Das wurden meinen Partnern und mir bewusst, als wir die Bewerber begutachteten. Wir brauchen niemanden, der sich auskennt.“
„Damit sie nicht so anspruchsvoll sind?“
Mr. Boyd lachte. „Oh nein, Sie sollen die anspruchsvollste Hure werden, die es je gegeben hat. Ich meine Ihre Performance. Was unser Innenverhältnis anbelangt: Ich glaube kaum, dass sehr viele Wünsche Ihrerseits offenbleiben werden. Ich erwarte gute Arbeit und ein ehrliches Miteinander. Ich sorge für den Rest.“
Sam nickte langsam. „Ich werde es mir überlegen“, sagte er leise.
„Ich würde nein sagen, wenn Sie sofort ja sagen“, meinte Mr. Boyd. Er war stehen geblieben und Sam erkannte, sie befanden sich in seiner Straße. Unbemerkt waren sie bei ihm zu Hause angekommen. „Sie sind ein merkwürdiger Mann, Mr. Boyd“, gestand Sam seine Gedanken ein. „Aber ich glaube, dass Sie wahrscheinlich der ehrlichste Mann sind, den ich im Umkreis von einer Meile finden kann.“
„Und ich glaube, Sie tun den Menschen Ihrer Nachbarschaft Unrecht und mir auch.“
Sam war verwirrt und verstand, dass sein künftiger Chef, und so dachte er zu seinem Erschrecken, doch noch etwas verschwieg. Aber gerade interessierte ihn das nicht so stark, um weiter in ihn zu dringen. Das, was er über ihn wusste, war ihm genug, um entscheiden zu können. Er musste nur bereit sein, sich ein für alle Mal zu verkaufen.
Wahrscheinlich war es gar keine so falsche Idee, dass ein Teil seines Einkommens zurückgelegt werden würde – sofern er zusagte. Auf die Idee würde er wahrscheinlich nicht selbst kommen, wenn er es ehrlich betrachtete. „Also, ich verkaufe meine Seele an Sie, meinen Körper, meine Ehre, mein Ansehen. Dafür bekomme ich eine Menge Zaster, einen Pensionsfonds, Krankenversorgung und das eine oder andere dunkle Geheimnis“, fasste er zusammen.
„Fast. Niemand kann Ihnen Ihre Ehre nehmen oder Ihre Integrität. Ich glaube nicht daran, dass bezahlter Sex einem Menschen die Ehre nimmt. Doch man kann sie verlieren, wenn man seine Ideale und Prinzipien verrät, und die sind bei jedem andere.“
„Sie sind sehr ernst, nicht wahr? Was auch immer Sie sagen. Bekomme ich eine Visitenkarte?“
Mr. Boyd ließ geschickt eine Karte zwischen seine Finger gleiten und reichte sie ihm. „AGENTUR“, wisperte Sam. „Irgendwie nichtssagend.“
„Ich mach dich kalt!“, zerriss auf einmal die eher ruhige Stimmung. Es waren kaum noch Passanten unterwegs und Sam durchlief es. „Ich bring dich um!“, wiederholte sein jüngerer Bruder mit lautem Brüllen. Gardinen bewegten sich, die ersten Fenster wurden geöffnet.
„Mika“, sagte er leise. „Sie müssen gehen“, wurde er jedoch augenblicklich bestimmter. „Er darf Sie nicht sehen!“
„Wer ist Mika?“, fragte Mr. Boyd und wirkte dabei, als wollte er sich auf keinen Fall fortbewegen. Sam widerstrebte es, ihn anzufassen und einfach fortzuschieben. Weg aus dem Gefahrenbereich. Er haderte zwischen Respekt und Angst um die Sicherheit des Mannes.
„Mika ist mein Bruder und er ist stocksauer.“
„Weswegen?“ Mr. Boyd war offenkundig immer noch nicht gewillt zu gehen. Die Haustür wurde aufgerissen und Mike kam herausgesprintet. Lass ihn keine Waffe haben, lass ihn keine Waffe haben, betete Sam im Stillen. Er hatte letztens eine Waffe aus dem Zimmer seines Bruders entsorgt. Doch dieser konnte sich leicht eine neue besorgt haben.
Mr. Boyd stellte sich vor ihn und Sam glaubte nicht, was dieser Vollidiot machte. Niemand stellte sich einem Angreifer in den Weg und er war ganz eindeutig derjenige, der des größeren Schutzes bedurfte.
„Aus dem Weg, du Schwuchtel“, schrie Mike. „Ich bring dich um, Schwanzlutscher!“
„Mischa, Mike“, rief Nona vom dritten Stock. „Er ist dein Bruder.“
„Er ist nicht mein Bruder. Er war niemals mein Bruder. Das ist ein Stück Scheiße. Eine Ratte. Nicht mein Bruder. Sag nie wieder, dass er mein Bruder ist, Nona.“
„Mikael Petrow, du wirst deinen Bruder nicht umbringen. Wenn du das tust, dann …“
„Was, Nona? Was wirst du tun? Er macht dich und mich und unsere Familie zum Gespött aller. Ich werde nicht zulassen …“
„Du wirst ihn in Ruhe lassen“, rief seine Großmutter erneut ein gutes Stück lauter und mit wachsender Verzweiflung. „Er ist dein großer Bruder und du wirst nicht sein Blut auf dich nehmen. Weg von ihm! Ich habe die Polizei gerufen.“
Mike tänzelte vor und zurück, als könne er sich nicht entscheiden. Seine Hände waren geballt, bereit als Faust im Gesicht seines eigenen Bruders zu landen. Keine Waffen, wie Sam erleichtert feststellte. Doch das Gesicht trug die Androhung roher Gewalt und Sam war nicht bereit, das Band, das sie miteinander verband, mit einem eigenen Faustschlag zu zerreißen. Dass Mike es wollte, musste er ignorieren. Heftige Schuld kochte in ihm hoch.
„Mischa“, flüsterte Sam.
„Sprich mich nicht an, du Schwuchtel. Du musstest unbedingt wieder zurück in den Laden. Du musstest dich unbedingt schlagen lassen. Ich habe gehört, dass dich Russak entlassen hat. Er hat dich entlassen, weil du schwul bist. Du bist eine Schande. Du bist eine Schande für uns alle. Wie kannst du überhaupt zurückkommen? Sie lachen über uns. Du bist kein Mann! Ich hasse dich!“
Mike drehte sich um und rannte fort.
„Mischa“, rief Nona. „Mike!“
Sam bemerkte, dass er seine Arme gehoben hatte. Er war an Mr. Boyd vorbeigegangen und hatte nach seinem Bruder greifen wollen. Er hörte die Schritte der leichten Turnschuhe auf dem Asphalt. Dann war er weg.
„Sam!“
Sam schaute nach oben.
„Komm nach Hause, Sam!“, sagte Nona. „Bitte komm zu mir!“
Sam folgte ihrer Aufforderung wie in Trance. An den Fenstern sah er die Leute, von denen Mike gesprochen hatte. Es war, als würde er fallen. Langsam trat er auf das Haus zu, in dem er aufgewachsen war, und es war ihm, als wäre er nicht mehr willkommen. Aber Nona hatte ihn gerufen. Die Schritte waren ihm noch nie so schwer vorgekommen, die Stufen so hoch. Sie wartete bereits in der offenen Tür auf ihn und ließ ihn und Mr. Boyd eintreten. Natürlich war ihm der Mann gefolgt. Er hatte gesagt, dass er ihn nach Hause bringen würde. Sam fuhr herum und wollte ihn anbrüllen. Aber jedes Wort blieb ihm im Hals stecken. Mr. Boyd traf keine Schuld und er war nicht der Typ Mann, der seine Wut an jemandem ausließ, der keine Verantwortung dafür trug.
„Sie können gehen“, sagte er gebrochen, die Visitenkarte in der Faust verschlossen. „Danke noch mal für alles.“
„Wer sind Sie?“, kam ihm seine Oma dazwischen.
„Cecil Boyd. Möglicherweise der künftige Arbeitgeber Ihres Sohnes.“ Elegant und formvollendet reichte er seiner Nona die Hand.
„Marina Petrowa und er ist mein Enkel. Sie sind beide meine Enkel“, stellte sie sich vor. Seine Nona zögerte, doch dann neigte sie ihr Haupt Richtung der angelehnten Küchentür. Sie hatte entschieden. „Kommen Sie. Ich habe Tee aufgesetzt. Wir haben nicht viel Zeit. Sam sollte gehen. Aber ich kann ihn doch nicht einfach rauswerfen und ich muss nachdenken. Man sollte niemals die Dinge überstürzen und noch sorgfältiger nachdenken, wenn man in Eile ist.“
„Was meinst du, wir haben keine Zeit?“
Nona ging vor und sie folgten. Sie setzte sich an den Esstisch und lud Cecil mit einer simplen Geste ein, sich ebenfalls zu setzen. Dabei wirkte sie abwesend und auch irgendwie nervös. „Nino, Ninok oder irgendwie in dieser Art. Er rief an und sagte, dass du dir gerade den Hintern versohlen lässt und dich … nun ja. Ein anderer Mann würde dich gerade … Ich konnte nicht verhindern, dass Mike das Gespräch annahm. Ich habe es zu spät mitbekommen. Der Mann war wütend und ich hörte, dass er dir schaden will. Es gefiel ihm, dass Mike so heftig reagierte. Mike war vorhin mit einem Freund da. Er ist kein guter Freund. Ich weiß, dass die Polizei schon öfter bei ihm gewesen ist. Er hat es mitgehört und Mike gesagt, dass er dich umbringen muss, weil Mike sonst nicht mehr respektiert werden würde. Du musst gehen, mein Junge. Ich will nicht, dass er dich umbringt, aber ich weiß auch nicht, wie ich es verhindern soll. Ich bin verzweifelt. Wie konnte das geschehen? Zwei Brüder!“
„Ich bin daran schuld“, flüsterte Sam und griff nach den Händen seiner Oma. „Es tut mir leid.“
„Das ist doch nicht wahr. Es gab und gibt immer wieder Männer wie dich. Daran trägst du keine Schuld. Aber du musst trotzdem gehen. Ich will nicht, dass Mike dich umbringt und ich fürchte, er wird genau das tun. Und du bist schon so viel größer als er. Er muss zur Schule und ich muss aufpassen, dass er seine Hausaufgaben macht. Mein Gott, was soll ich tun? Ich habe Geld. Du musst dir für heute Nacht ein Hotelzimmer suchen. Mike ist zu aufgebracht, um klar denken zu können. Du musst gehen.“
„Ich werde ihn begleiten“, sagte Mr. Boyd auf einmal. „Zumindest für diese Nacht sollte er sicher sein. Der Rest wird sich ergeben.“
„Ist es der Job, den Sam mir gesagt hat? Als Hure?“, fragte Nona auf einmal und Sam fühlte, wie er rot wurde.
Mr. Boyd nickte. „Angesichts der Lage hier würde ich jedoch sagen, er zieht besser in einen anderen Bundesstaat.“
„Sie sind nicht sonderlich stark. Wie wollen Sie auf meinen Jungen aufpassen und wie kann er je ein normales Leben führen, wenn er bei Ihnen ist?“, fragte Nona.
„Bitte, Nona!“, flehte Sam. „Er ist nicht dazu da, mich zu beschützen. Das muss ich selbst. Und ich muss dich beschützen und Mika!“
„Das weiß ich, Sascha“, flüsterte seine Oma. „Das weiß ich. Aber heute muss ich euch beide vor euch selbst schützen.“ Sie sah zu Mr. Boyd und Sam fürchtete das Gespräch. „Sam erzählte, dass er sich beworben hat. Ich vermute, dass er das bei Ihnen hat. Es geht darum, sich zu verkaufen. Wie kann das ein Beruf sein? Ich sehe die Frauen, wie sie an der Straße stehen. Das will ich für meinen Jungen nicht. Sie sehen, nun, nett aus. Daher bitte ich Sie, einfach zu gehen.“
„Bitte, Nona, er ist nett und ich glaube, er ist fair! Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ich ja oder nein sage. Im Moment weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Ich …“
Mr. Boyd legte die Hand auf seinen Arm. „Schau mich an“, sagte er und es war keine Bitte. Sam blinzelte und blickte ihn verwirrt an. „Nichts muss heute entschieden und durchdacht werden. Ich denke, dass ich jedoch heute meine Pläne modifizieren muss. Unter den Umständen kannst du nicht zu Hause bleiben und es ist nicht klug, allein in irgendein Hotel oder Motel zu gehen. Vertrau mir und komm mit mir.“
Sam suchte in den Augen des Mannes nach Farbe und fand keine. Grau, dachte er. Die Farbe der Augen konnte grau sein. Oder schwarz oder gar nichts. Oder blau. Da gab es blau. Mr. Boyd schnipste vor seiner Nase und er zuckte zurück.
„Du brauchst Ruhe“, wisperte er und schaute zu seiner Nona. „Ich würde gern einen Freund anrufen, dass er uns abholt. Wenn Sie ihn mir anvertrauen, dann versichere ich Ihnen, dass ich für seinen Schutz sorgen werde. Morgen, wenn wir uns alle wieder beruhigt haben, werden wir neu entscheiden.“
„Sie tun ihm nicht weh?“, fragte seine Oma und Sam war kurz davor, aufzujaulen. Aber er fühlte sich nicht gut. Alles ging den Bach runter und er war nicht einmal in der Lage, ein Wort über seine Lippen zu bringen. Er hätte an diesem Morgen nicht aufstehen sollen.
„Ich passe auf ihn auf und ich werde es Ihnen so oft versichern, wie es nötig ist. Sie haben mein Ehrenwort.“
„Schwören Sie bei Gott?“, fragte seine Nona.
„Wenn ich auf ihn schwören würde, wäre es eine Lüge. Er und ich sind uns nicht einig, was Recht und Unrecht ist. Aber ich schwöre es bei den Menschen, die ich liebe.“
Nona musterte ihn und nickte dann bedächtig. „Ich denke, dass das reichen muss. Geh mit ihm, Junge, und ruf mich an. Du wirst mich anrufen, oder bei Gott, ich finde dich und versohle dir den Hintern.“
Sam war nun ernsthaft versucht, wirklich aufzuheulen. Das war alles nicht witzig. Aber es war so absurd und fernab von allem, was er sich für den heutigen Tag vorgestellt hatte, dass er nicht glaubte, dass er noch ganz bei Verstand war. Mr. Boyd zog ein eher winziges Smartphone aus der Hosentasche. So ein teures Teil, wie alles, was er trug. Es passte zu ihm. Sogar diese billige Jacke wirkte an dem Mann edel. Mr. Boyd beugte sich unvermittelt vor und berührte ihn an der Hand. Aus seinem Gesicht sprach Sorge. „Seth“, sprach er, ohne ihn loszulassen, „kannst du den Wagen vorfahren? Ich glaube nicht, dass wir ohne Kampf aus dem Haus rauskommen werden können. Der Junge ist der Bruder von Alexander. Ich brauche etwas, was ihn beeindruckt, aber auch davon abhält, auf uns zu schießen.“ Mr. Boyd senkte den Kopf. „Ja, und nein, das ist kein Scherz. Wir kommen runter.“ Er legte auf und schien kurz zu überlegen. Noch immer eindeutig besorgt sprach er Sams Großmutter direkt an, die kreidebleich geworden war. „Mrs. Petrow, bitte bleiben Sie in Ihrer Wohnung!“
„Sie werden ihm doch nicht weh tun“, sagte sie leise.
„Es ist möglich, dass es etwas eskaliert, aber mein Sicherheitsmann ist in solchen Dingen geübt und wir werden ohne einen Verletzten gehen. Ich werde Sie heute anrufen, genauer Sam wird das. Vorerst wird es jedoch nötig sein, dass er keine Adresse rausgibt. Ich möchte seinen Bruder nicht vor unserem Geschäft haben. Es gibt noch mehr Menschen, für die ich verantwortlich bin, und ich möchte nicht, dass ihnen etwas passiert. Wenn sich die Lage beruhigt hat, lade ich Sie gern ein, sich alles bei uns anzuschauen, sofern dann Sam noch immer bei uns ist.“
„Es tut mir leid“, flüsterte Sam. „Ich hätte aufpassen sollen. Und ich weiß, wie Nino ist. Er ist ein kleines, rachsüchtiges Arschloch.“
„Das klären wir alles später, Sam. Bitte, gehen wir jetzt!“
Sam nickte und erhob sich. Dann aber riss er abrupt seine Großmutter in seine Arme und hielt sie fest. „Pass auf diesen kleinen Trottel auf. Ich liebe ihn und ich schicke Geld. Mach dir keine Gedanken. Ich werde für uns alle sorgen und auch für ihn. Egal, was es ist, ich werde Geld verdienen und euch helfen. Er soll seine Schule …“
„Sam, alles am Telefon. Jetzt! Wir müssen gehen!“, buchstabierte Mr. Boyd.
Sam schaltete um. In seinem Kopf war noch immer alles durcheinander und seine Gefühle ein einziges Knäuel. Doch Mr. Boyds Stimme und Anwesenheit waren wie ein Lichtstrahl, der widerstandslos bis zu seinem Innersten durchdrang. Er ordnete nichts, zeigte ihm aber einen Ausweg auf. Sam schob seine Nona von sich, die seine Wange tätschelte und ihn dann umdrehte, weil sie merkte, dass er nicht gehen konnte, wenn sie ihn nicht fortschickte. Mr. Boyd hatte die Wohnungstür geöffnet und eine Stimme erklang.
„Ist alles klar, Marina? Soll ich die Polizei rufen?“
„Alles gut, Maja, alles gut. Mischa ist weg.“ Nona drängte sich an ihm und dann an Mr. Boyd vorbei. „Du solltest die Tür aber vorsichtshalber schließen.“
Sam trat hinzu und schaute Maja, die langjährige Freundin seiner Großmutter, an. „Das hörte sich gerade schlimm an. Besser ist, wenn die Brüder sich eine Weile nicht sehen. Das beruhigt sich. Man wird älter“, murmelte sie und lächelte verkrampft.
Sam ließ sich von seinem Meister fortziehen und wurde dann endlich so weit wach, dass er ohne weitere Aufforderung der Treppe hinunter folgte.
„Du musst dich zusammenreißen, Sam. Nur für ein paar Minuten.“
„Ich …“ Sam schluckte. Er war kurz davor, auseinanderzubrechen. Nein, das war nicht richtig: Er zerfiel und es gab nichts, was das verhindern konnte. Erneut wurde er von Mr. Boyd gezogen und dirigiert, weil er nach oben schaute, um den letzten Blick auf seine Nona zu erhaschen. Dann stand er auf der Straße.
„Ich dachte, ich müsste dich holen, Cecil“, sagte ein dunkelhäutiger Mann, der eine Hand auf eine Waffe gelegt hatte, die er in einem Holster unter Jackett und Mantel trug, und mit der anderen den Türgriff festhielt. Er hatte die Tür bereits geöffnet und schaute sich um. „Wir sind hier auf dem Präsentierteller“, sagte er, während Mr. Boyd Sam in den Wagenfond schob und sich zu ihm setzte. Die Tür schlug zu, der Mann lief ums Auto und warf sich hinter das Lenkrad.
„Nach Hause, Seth. Und wenn der Junge kommt, nicht verletzen.“
„Aye“, erwiderte der Sicherheitsmann oder wie ihn Mr. Boyd genannt hatte und Sam hielt sich am Türgriff fest. Er hatte alles verloren und er schaffte es nicht, seinen Kopf zu bewegen.
„Sam, hör mir zu!“, rief Mr. Boyd. „Schau mich an!“
Während der Wagen Fahrt aufnahm und bald die Lichter und lang gewordenen Schatten der Stadt zu Schlieren zerflossen, suchte er Halt in dem Menschen, den er nicht kannte und der ihn doch auf eine Weise gelesen hatte wie nie ein anderer zuvor. Vielleicht ausgenommen seine Nona. „Du fühlst dich beschissen und das ist in Ordnung. Du weißt nicht weiter. Auch das ist in Ordnung. Und du weißt nicht, was du fühlen sollst. Es tut weh. Nichts macht einen Sinn und es tut richtig weh. Aber jetzt musst du nur atmen. Nur sitzen und du darfst weinen.“
„Ich weine nicht“, flüsterte Sam.
„Das tust du, aber nur dort, wo es keiner sieht.“