Strandgeflüster

Kerstin Burmeister stand am Strand von Sünnum und sah auf die Nordsee. Die Wellen plätscherten an diesem Abend träge ans Ufer, als sei ihnen am Ende des Tages die Puste ausgegangen. Die Natur hatte beim Sonnenuntergang wieder einen unsichtbaren Pinsel in die Hand genommen und am Himmel mit kräftigen Gelb-, Orange- und Rottönen ein Gemälde von solcher Intensität erschaffen, dass dagegen selbst Meisterwerke bekannter Künstler wie Kinderzeichnungen wirkten. Vereinzelte Schleierwolken ließen die Farben etwas verblassen, als wäre das sich ständig ändernde Bild mit Aquarelltechnik gemalt worden.

Das Rauschen des Meeres, in das sich immer wieder die Schreie der Möwen und die Rufe der Austernfischer mischten, war nicht nur die ewige Symphonie des Nordens, sondern auch die Melodie von Kerstins Leben. Obwohl sie nicht an der Küste aufgewachsen war, gab es für sie keinen schöneren Ort – vor allem nicht nach der ersten Begegnung mit ihm.

Ein lauer Wind strich sanft über ihre Haut und spielte mit den halblangen Haaren, die sie an diesem Abend offen trug. In den ersten Wochen hatte sie sich noch gegen ihre Gefühle gewehrt, aber in seinen Armen spürte Kerstin wieder jene Leichtigkeit des Seins, die sie in ihrer Ehe verloren hatte. Er war …

Kerstin schüttelte den Kopf, als könnte sie die Gedanken an ihn damit aufscheuchen wie einen Vogelschwarm, aber es gelang ihr nicht. Dabei war sie doch eine verheiratete Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stand und ihre romantischen Träume schon vor langer Zeit in einer Kiste verstaut und unter dem Gerümpel alltäglicher Banalitäten vergraben hatte.

Eine Windbö trug Gelächter und Stimmengewirr vom Kroog zu ihr herüber. Obwohl Kerstin das reetgedeckte Anwesen mit der Schankwirtschaft vom Strand aus nicht sehen konnte, erschien vor ihrem geistigen Auge sofort ein Bild des hufeisenförmig angelegten Gebäudes – die Sonnenblumen vor den weiß gekalkten Wänden wirkten mit ihren gelben Köpfen wie ein pflanzliches Begrüßungskomitee, das jeden Gast persönlich willkommen hieß. Neben dem Eingang stand eine Holzbank, deren ursprünglich dunkelblaue Farbe inzwischen verblasst war.

Im Innenhof wucherten üppig blühende Hortensien, Rosensträucher und Wildblumen in leeren Bierfässern, die die rüstige Friesenbrauerin Gesine Felber als Pflanzentröge nutzte. Dazwischen standen aus alten Schiffsplanken gezimmerte Bänke und Tische, an denen sich die Sünnumer auf ein Bier und einen Klönschnack trafen. Ausrangierte Schiffslaternen sorgten in der Dunkelheit für ein behagliches Licht.

Vielleicht könnten sie sich eines Tages gemeinsam im Kroog sehen lassen.

Bis dahin …

Eine Gestalt, die mit gesenktem Kopf an den Brandungsausläufern entlanglief, erregte ihre Aufmerksamkeit und Kerstin schritt Richtung Deich, sie wollte nicht gesehen werden. Zu ihrer Erleichterung ging die Person, die unter der weiten Jacke und mit über den Kopf gezogener Kapuze nicht zu erkennen war, weiter an der Wasserlinie entlang. Den Blick hielt sie auf den Boden gerichtet, als suche sie etwas. Doch dann blieb sie abrupt stehen, sah auf, genau in ihre Richtung, und eilte mit schnellen Schritten direkt auf sie zu.

Kerstin lief in geduckter Haltung zu ihrem roten VW Beetle zurück, den sie auf dem Parkplatz hinter dem Deich abgestellt hatte. Sie ärgerte sich über sich selbst, denn sie hätte bis zum Treffen im Wagen bleiben sollen – aber dann wäre ihr der prachtvolle Sonnenuntergang entgangen, den sie sich unbedingt hatte ansehen wollen.

Hoffentlich hatte sie mit ihrem Leichtsinn nichts riskiert. Spontanität war ein Luxus, den sie sich in ihrer momentanen Situation keinesfalls leisten konnte.

Kerstin hatte den Deich fast erreicht, als die Gestalt ein paar Meter vor ihr auftauchte.

Kerstin blieb stehen und fluchte innerlich. Wenn sie erkannt wurde, musste sie sich eine gute Ausrede einfallen lassen, denn ihr Mann vermutete sie beim monatlichen Treffen der Landfrauen und nicht am Strand von Sünnum.

Sie gab sich einen Ruck, schließlich musste sie sich so normal wie möglich verhalten: »Oh, Sie haben mich aber erschreckt.«

Die Gestalt, die ihr Gesicht hinter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze und einem hochgezogenen Multifunktionstuch versteckte, blieb reglos und schweigend vor ihr stehen.

»Dürfte ich bitte durch?«

Statt der Aufforderung nachzukommen, machte die Gestalt einen Schritt auf Kerstin zu. Jetzt nahm sie verwundert wahr, dass die Hände ihres Gegenübers in dünnen schwarzen Lederhandschuhen steckten. Na, so kalt war es nun wirklich nicht, dachte sie kurz, doch da hob die Gestalt blitzschnell die Hand und Kerstin erkannte nur noch die metallene Klinge eines Messers, die auf sie zuraste. Instinktiv riss sie den Arm schützend vor ihr Gesicht. Als die tödliche Waffe ihren Unterarm aufritzte, stieß sie einen schmerzverzerrten Schrei aus und presste die Hand auf den blutenden Schnitt. Fassungslos sah sie ihr Gegenüber an und spürte, wie ihr Herz in der Brust wild pochte und dumpfe Panik in ihr aufkam.

Was wollte der Unbekannte von ihr?

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie ihre Angst mit dieser Geste vertreiben, und trat nach ihrem Angreifer. Während ihr Widersacher dadurch einen Moment abgelenkt war, drehte Kerstin sich um und rannte, so schnell es auf sandigem Untergrund möglich war, zurück zum Meer. Die Füße versanken bei jedem Schritt im pudrigen Sand. Keuchend kämpfte sie sich Meter für Meter voran und bald ragte der Leuchtturm von Sünnum in unmittelbarer Nähe vor ihr auf. Kerstin schrie und fuchtelte mit den Armen. Vielleicht bemerkte sie der alte Joris, der im Leuchtturm wohnte.

»Keiner wird dir helfen«, zischte da eine Stimme direkt hinter ihr. Kerstin mobilisierte ihre letzten Kräfte und rannte weiter zum Wasser.

Doch plötzlich drehte sich die Welt und die Nordsee verdrängte den Himmel. Einen Moment lang überlegte Kerstin, warum das Meer nicht auslief wie ein umgekippter Eimer. Dann begriff sie, dass sie gestürzt war und, vom Schwung getragen, über den Strand rollte. Sand und winzige Muschelstückchen drangen trotz der zusammengekniffenen Lippen in ihren Mund und staubten in die Nasenlöcher. Kerstin rappelte sich wieder auf und blickte hinter sich. Entsetzt bemerkte sie, dass ihr Verfolger sie längst eingeholt hatte und ihr nun auf Armeslänge gegenüberstand. Dann machte er einen Satz, packte grob ihren verletzten Arm und zog sie zu sich. Kerstin wollte sich mit aller Kraft losreißen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Als sie den Kopf hob, erkannte sie ein Ankermotiv auf dem Multifunktionstuch ihres Angreifers. Wie konnte das sein? Sie kannte das Tuch. Sie hatte es ihm geschenkt.

Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz, der wie ein Tsunami über sie hereinbrach. Fassungslos starrte Kerstin auf das Messer, das in ihrer Brust steckte.

»Warum hast du das getan?«

Einige Augenblicke hielt sie sich noch aufrecht, dann fiel sie in sich zusammen wie eine Marionette mit zerschnittenen Fäden. Kräftige Finger griffen unter ihre Achseln und zogen sie in die auflaufende Brandung, wo ihr Körper zu einem Spielball der Wellen wurde.