Schuld daran war die Wahl. Ich hatte für die große graue Nachrichtenorganisation gearbeitet, in einer bescheidenen, hart erkämpften Position, die mir ein Leben allmählichen Aufsteigens garantierte. So war das jedenfalls gedacht, bis ich dann ausstieg. Ich hatte alles richtig gemacht, genau wie eine gewisse erste weibliche Kandidatin, mit der wir alle gerechnet hatten – sogar meine männlichen Bekannten, die sie nicht ausstehen konnten –, weil sie dem rasenden Wahnwitz der Welt einen Riegel vorschob. Jetzt konnte sie in den Hügeln um Chappaqua herum spazieren gehen, und ich hatte ins Doubletree eingecheckt, anderthalb Kilometer westlich von Upland, Kalifornien.
Ich war als reinrassiges Produkt Manhattans groß geworden, im Verborgenen der Mittelschicht von Yorkville. Meine Eltern waren beide Psychotherapeuten, und ihre Ehe war eine laufende Instandhaltungsmaßnahme für die fahrige, havarierte Romantik meiner Mutter. Ich war ein Einzelkind und vielleicht eines zu viel. Ich verbrachte einen Großteil meiner Jugend damit, mich auf Elternhäuser mit mehreren Kindern und einem solchen Lärmpegel zu verteilen, dass ein Kind mehr oder weniger nicht ins Gewicht fiel. Nicht dass meine Eltern etwas dagegen hatten, dass ich Freunde mitbrachte. Wenn ich das tat, waren sie immer hocherfreut und servierten Tee und Kekse, unterzogen uns aber – wie ich heute noch den Eindruck habe – einer Art Paartherapie.
Ich ersparte meinen Eltern einen tiefen Griff in den Geldbeutel, indem ich an die Hunter College High School ging, und dann zwang ich sie zu einem tiefen Griff in den Geldbeutel, indem ich in Boston an die Uni ging. Im Sommer vor meinem vorletzten Studienjahr machte ich ein Praktikum bei einer Literaturzeitschrift, und als ich nach dem Abschluss nach New York zurückging, bekam ich dort eine Festanstellung. Die Redaktion bestärkte eine Frau darin, bestimmte radikale feministische Theoriepositionen, die ich mir an der Uni angeeignet hatte, auch dann nicht preiszugeben, als ich in einer Büroatmosphäre subtil ironisierter Belästigungen durch »Mentoren« vorankam, die zehn Jahre älter waren als ich. Dann ging’s weiter zu NPR, wo ich die Spickzettel vorbereitete, dank derer sich die Interviewer immer anhörten, als hätten sie Bücher gelesen, die sie gar nicht kannten. Schließlich schrieb ich Kommentare, mein Fuß in der Tür der Zitadelle.
An dem berüchtigten Tag im November, an dem sich mein Boss und seinesgleichen mit dem designierten Trumpeltier hinter geschlossenen Türen an einem langen Tisch zusammensetzten, um seine Geißelungen und Schmeicheleien entgegenzunehmen, reifte mein Entschluss zu kündigen. Zu Beginn der nächsten Woche riss ich tatsächlich die Klappe auf, gab meine Entscheidung bekannt, ritt ein bisschen auf meinen Prinzipien herum und versetzte mich und alle Leute in Hörweite in einen Schockzustand. Mein Hass war erstaunlich. Ich machte meiner Stadt Vorwürfe, das Monster im Turm hervorgebracht zu haben und jetzt nicht mehr besiegen zu können. Meine Fluchtroute hatte ich schon festgelegt, und meine versammelten Mentoren bekamen in der Angelegenheit genau wie meine Eltern exakt null Mitspracherecht. Nach meinem dreiunddreißigjährigen Tobsuchtsanfall war ich nur noch das Mädchen, das kündigte. Ich glaube, an dem Tag hab ich bei Facebook gewonnen, ob das nun was bringt oder nicht. In der sogenannten Blase, meine ich natürlich.
Roslyn Swados war bei NPR meine Vorgesetzte gewesen. Sie war zwanzig Jahre älter als ich, eine eingefleischte Radiomacherin und frisch geschieden, als wir uns anfreundeten. Ich hatte auch gerade eine Trennung ohne allzu viel Tiefgang hinter mir. Roslyn lud mich in ihre durchgestylte Maisonette in Cobble Hill zu einem Abendessen ein, das aus einer Flasche Weißwein, einem Baguette und einem riesigen Brocken Humboldt Fog bestand, einem Käse, den ich noch nie probiert hatte. In einer Orgie der Anteilnahme putzten wir alles weg und stiegen dann auf einen Riegel Toblerone um.
Roslyns Leben bewegte sich in den Bahnen des New York, das ich in meiner Jugend verklärt hatte und das uns Nachgeborenen immer weniger offenstand – das New York, das in Tausenden von Kurzgeschichten heraufbeschworen wird, die in den Achtzigern und Neunzigern in den Heften des New Yorker erschienen, die sich heute noch im Badezimmer meiner Eltern stapeln und die ich teilweise auswendig kann. Es passte nur zu gut, dass sie am Cheever Place wohnte, einem als Wahrzeichen dienenden baumgesäumten Block, der mein Refugium und Ideal bildete.
Wir waren beide nicht lesbisch, also konnte ich nicht in Roslyn verliebt sein. Es wäre sinnlos gewesen, sie sein zu wollen, weil es noch niemanden gab, von dem ich mich hätte scheiden lassen müssen. Ich war auch nicht Roslyns Tochter, da meine Mutter noch lebte und sie Arabella hatte, die in die zehnte Klasse ging, als ich sie kennenlernte, und noch zu Hause wohnte, auch wenn sie sich Roslyn in mancher Hinsicht schon entzog. Es war ein bisschen, als hätte ich mich wieder in andere Hände begeben, wie damals zu Schulzeiten. Hier handelte es sich um eine Familie, in der ich eine kleine Schwester der Mutter und eine große der Tochter sein konnte. Roslyn hoffte bestimmt, ich könne sie beide etwas länger aneinander binden. Ich machte ihr wegen dieser Überlegung nie einen Vorwurf. Unsere Freundschaft war echt, aber ihre Hoffnung war falsch, beides kommt vor. Ich konnte Mutter und Tochter nicht einmal für kurze Zeit aneinander binden.
Aber ich lernte Arabella kennen. Sie vertraute mir. Sie war mit zwölf Vegetarierin geworden, nachdem sie Jonathan Safran Foers Buch gelesen hatte, und in ihrem Zimmer hingen drei Poster: Sleater-Kinney, Pussy Riot und Leonard Cohen. Ihre sexuelle Ausrichtung war uneindeutig, aber ich hatte das Gefühl, die sexuelle Ausrichtung der ganzen Highschool in St. Ann’s war uneindeutig, also war sie in guter Gesellschaft. Den Kontakt zu ihrem Vater hatte sie abgebrochen. Sie spielte Gitarre, wenn auch schlecht. Ich machte mir Sorgen, als sie sagte, ihr Lieblingsstück wäre Cohens »Chelsea Hotel #2«, wo vom Blowjob auf dem ungemachten Bett die Rede ist, und war froh, als sich herausstellte, dass sie sich nicht mit der Frau, sondern mit dem männlichen Sänger identifizierte.
Arabella und ihre Freunde konnten sich an eine Zeit vor dem 11. September nicht oder kaum erinnern, vielleicht hatten sie mal einen Blick auf einem üblen Kanal erwischt, weil ihre Eltern nicht schnell genug die Fernbedienung unter den Kissen fanden, um wegzuzappen. Ich kam mir in ihrer Gegenwart zwar alt vor, unterstützte sie und ihre Generationsgenossen aber mit der bescheuerten Ergebenheit, die andere Leute Sportmannschaften entgegenbringen. Ich war ehrlich neidisch auf Arabella, als sie erklärte, sich für keine Uni an der Ostküste zu interessieren, und sich stattdessen am Reed einschrieb. Ich dachte, sie würde dort aufblühen.
An einem Septemberabend ging ich mit Roslyn essen. Wir trafen uns bei Prune an der First Street. Wir beugten uns über einen Eintopf aus Muscheln und Lauch, unser Lieblingsgericht, aber irgendetwas stimmte an dem Abend nicht, und das war nicht nur das »Alles läuft falsch« eines vorweggenommenen Wahldesasters. Arabella hatte nicht mehr zu Hause angerufen. Ihre SMS waren knapp, feindselig und trotzig. Roslyn wusste nicht, was sie machen sollte.
»Hast du im Studium deine Mutter angerufen?«, fragte sie geradeheraus.
»Meine Mutter war nicht der Typ, den man anrief«, setzte ich an, sagte es aber mit einer Zungenfertigkeit, die mir sofort leidtat.
»So sieht Arabella mich auch.«
Natürlich. Etwas bisher Schleierhaftes wurde klar, der Grund, warum ich mich so sehr in diese Familie eingebracht hatte. Ich hatte die Freiheit genossen, Mutter und Tochter gleichermaßen wahrzunehmen und zu bewundern, wozu sie beide nicht imstande waren. Im System meiner eigenen Familie hatte ich mich für eine Seite entscheiden müssen.
»Ich meld mich mal bei ihr«, sagte ich. Ich wusste, dass sie auf diesen Satz von mir gehofft hatte.
Ich bekam Arabella ans Telefon, einmal. Sie mochte weder ihre Seminare noch Portland. Sie wiederholte eine frühere Aussage, dass sie nämlich das Studium abbrechen und Mount Baldy aufsuchen werde, um Leonard Cohen zu finden. Ich nahm das mit amüsierter Skepsis auf – ein großer Fehler. Arabella roch das wahrscheinlich; sie ließ sich nicht zum Narren halten. Es war das erste Mal, dass ich mich bereit erklärt hatte, als Vermittlerin oder Spionin für ihre Mutter aufzutreten.
Dann kam die Novemberwoche, in der Cohen der nationalen Katastrophe einen zweiten Schicksalsschlag hinzufügte und tot umfiel. Als Roslyn Arabella auf dem Smartphone anrief, schrieb diese ihr nur eine SMS: Alles gut. Ich weiß noch, dass ich dachte, dass Alles gut irgendwie nie das bedeutet, was es besagt.
Ich drängte Roslyn, den Studiendekan zu kontaktieren. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich damit abgefunden hatte, zu wenig von ihrer Tochter zu hören. Arabella war in New York aufgewachsen, erinnerte ich sie. Das hieß, dass sie bestens gewappnet war, es hieß aber auch, dass der Rest des Landes, sogar das angesagte Portland, für sie ein fremdes Wunderland war – zumal nach dem 8. November.
Aber auch Roslyn war New Yorkerin. Abgelenkt, stoisch und jetzt genauso mitgenommen wie wir alle. Sie hatte zu viel Weißwein getrunken und zu wenig Humboldt Fog und Baguette gegessen, um die Wirkung abzufedern. Ich konnte ihr keine Vorwürfe machen. Sie gab sich mit Arabellas sporadischen tonlosen SMS zufrieden, bis Mitte Dezember auch diese versiegten, und wenn sie ihre Nummer anrief, bekam sie eine »Sprachbox voll«-Nachricht.
Roslyn erwachte aus ihrer Trance und kaufte ein Flugticket nach Portland. Sie war so aufgelöst, dass ich anbot, sie zu begleiten. Wir flogen an einem Freitagabend und waren zusammen, als der Wachschutz vom Reed uns ihr Wohnheimzimmer aufsperrte, das Einzelzimmer, das sie sich erkämpft hatte. In dessen Chaos fand sich ungeöffnete Post mit Stempeln bis zurück in den September, Unmengen unberührter Hausaufgaben und der zurückgelassene Pass, den ich jetzt Heist gegeben hatte. Wie die meisten achtzehnjährigen New Yorker hatte Arabella keinen Führerschein, also war sie ohne Ausweis abgetaucht, was uns alarmierte. Vor dem Rückflug in den Osten sprachen wir am Montag mit dem Studiendekan, aber Arabella war im System der Mentoren und Berater nicht aufgetaucht. Sie hatte von Anfang an auf unauffällige Weise immer wieder gefehlt, und niemand kannte sie.
Zurück in New York half ich der fast gelähmten Roslyn bei der ersten Detektivarbeit. Ein Kreditkartenbeleg dokumentierte eine Amtrak-Zugfahrt nach Los Angeles. Wie sich schnell herausstellte, hatte Leonard Cohen nicht auf Mount Baldy gelebt, sondern im eigentlichen Los Angeles, unter Juden und Popstars wie jeder vernünftige Mensch. Nicht so Arabella. Die letzte Kreditkartenspur – einige Lebensmittel – führte in einen Supermarkt namens Stater Brothers in der Mountain Plaza Shopping Mall im kalifornischen Upland, achtzig Kilometer von der Pazifikküste entfernt. Ich ging von einer Wallfahrt auf den Zen-Gipfel aus. Etwas Plausibleres fiel mir zu dem Ort nicht ein – nicht aus dem fernen New York und schon gar nicht dann in Upland selbst, nachdem ich Roslyn versprochen hatte, mich dort mal umzuschauen und ihre Tochter zu finden.
Harvard, Hillary, Trump, The New York Times. Namen, die ich nicht mehr in den Mund nehmen wollte, weil sie mich auf ein Leben festnagelten, das mit ihren Annahmen geronnen war. Dazu gehörte das Überlegenheitsgefühl gegenüber denen, die ich hasste – die reaktionären weißen Wähler oder die Männer, die mir die Chance nahmen, ihren Heiratsantrag abzulehnen, indem sie mir gar nicht erst einen machten. Aber im Gegensatz zu vielen Helikopterkindern um mich herum brauchte ich niemanden, der den Spiegel für mich hielt – zumindest bildete ich mir das ein. Wenn es ein Außen meines Schicksals gab, dann würde ich das erreichen oder im autoreferenziellen System der Vertrautheiten zur Hölle fahren. Vielleicht konnte ich Arabella zurückbringen und mit ihr einen Bericht aus der Außenwelt.