Mein Hotel lag nur anderthalb Kilometer von Uplands staubigen gelben Geheimnissen weg, aber es hätte auch eine Million sein können. Claremont präsentierte sich als uneinnehmbare Festung standortfremder Schattenbäume und gut gepflegter Designvillen, die sich um einen Universitätscampus scharten, der so leer und vollkommen war wie ein Bühnenbild. In diesem fröhlichen Simulakrum entdeckte ich nichts, was zum Kaufen verleitete, abgesehen von einem quirligen Plattenladen, aber ich konnte hier gar keine Platten abspielen. Also setzte ich mich mit meinem Smartphone in eine Bäckerei samt Café namens Some Crust, las Elena Ferrante an einem Tisch im Freien und hoffte, ein lustiger Student würde mich anbaggern. Stattdessen wurde ich von lustigen Senioren angebaggert. Vielleicht hatten die neuerdings genauso Oberwasser wie der Ku-Klux-Klan. Ich zog mich ins Hotel zurück.
Stilistisch erinnerte mein Zimmer an den Spruch eines Gangsterliebchens in irgendeinem alten Film bei Betreten eines Apartments: »Frühes Nichts.« Mir blieb nur Facebook, wo der Wahlausgang meine Freunde auf schrille zänkische Karikaturen reduziert hatte. Oder ich entschied mich für CNN, wo die üblichen Lallokraten ihre schrillen karikaturesken Drohgebärden ausagierten, ohne reduziert werden zu müssen, da die einzige Errungenschaft ihres Lebens darin bestand, für diese schöne neue Welt präformiert worden zu sein. Das Fernsehen hatte sich selbst gewählt, fand ich. Von mir aus konnte es sich dann auch selber sehen. Ich las mein Buch.
Am zweiten Tag ohne Anruf von Heist fing es an zu regnen. Das Gewitter begann dramatisch verheißungsvoll mit einem Blitzschlag morgens um drei, zu dem es scheinbar direkt über dem Doubletree kam. Unmittelbar nach dem blendenden Blitz, der mich geweckt hatte, erschütterte ein Doppelknall mein Zimmer. Kommentierte die Welt das Jahr 2017 mit einem »Danke, kein Bedarf«, weil da eine ganze Palisade von Vollpfosten ins Kabinett gewählt worden war? Vielleicht war ich nach Kalifornien gekommen, um mit ihm zusammen ins Meer zu rutschen.
Das Gewitter war aber nur die Ouvertüre eines trüben Dauerregens, der den anschließenden Tag und die Nacht hindurch nicht aufhörte, aber unscheinbar blieb, solange ich mein Zimmer nicht verließ. Der ausgedörrte Wüstenboden, der all die Schattenbäume Lügen strafte, konnte das Wasser gar nicht aufnehmen. Der Regen schoss in Sturzbächen von den Berggipfeln herab, die sich jetzt hinter grauen Nebeldächern verbargen. Die schäumenden Pfützen machten jede Gehwegüberquerung zur Wildwasserfahrt, nur hatte ich kein Floß dabei. Alle Welt weiß, dass Südkalifornien nicht für Fußgänger geschaffen ist, aber an diesem Tag hätte man Amphibienfahrzeuge gebraucht.
Ich blieb in meinem Zimmer und schrieb Mails – bis auf die einzige dringende, die ich Roslyn schuldete. Ich wusste, dass meine Freundin völlig aufgelöst war und darauf wartete, dass ich ein Wunder vollbrachte. Und nun hatte ich mich in ihr Spiegelbild an der Westküste verwandelt: eine Frau, die allein in einem Zimmer saß. Ich war Arabella vielleicht näher; anzunehmen war das schon. Aber ich konnte es nicht beweisen.
Meine Gedanken kreisten um meinen frisch gekürten Heiland. Ich googelte verschiedene Kombinationen aus »wild«, »Detektiv« und »Heist«, aber, Wunder über Wunder, er hatte weder eine Website noch einen Wikipedia-Eintrag. Dass sein Name »Raub« bedeutete, half auch nicht gerade weiter. Die meisten Ergebnisse, bei denen es nicht um Gaunerkomödien ging, verlinkten mich zu steinerweichenden und reißerischen Zeitungsberichten über Kinder, die von ihren Erziehungsberechtigten in Florida oder sonst wo missbraucht worden waren, und schließlich brach ich die Suche angewidert ab. Durch die lausigen Lautsprecher meines Laptops spielte ich ein bisschen Leonard Cohen auf YouTube. Eine eher schwache Geste in Richtung Arabella, aber vielleicht konnte ich sie auf die Weise irgendwie heraufbeschwören und dazu bringen, nach Hause zu kommen.
Am dritten Morgen hielt ich es nicht mehr aus, rief Heists Nummer an, erreichte aber nur seinen Anrufbeantworter. »Ich kann gerade nicht rangehen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.« Ich rief zweimal an, hinterließ aber keine Nachricht. Anders als beim ersten Mal, als ich seine Stimme gehört hatte, konnte ich mit ihrer seltsam flachen Ruhe jetzt ein Gesicht verbinden: ein seltsam flaches und ruhiges Penisgesicht, von Haaren überwuchert. Ich bekam es nicht aus dem Kopf, musste aber auch immerzu an sein Büro denken. Ob das in seine Decke gehüllte struppige Mädchen wohl von seiner Pritsche hochschreckte, wenn das Telefon klingelte? Oder er? Wessen Bett war das überhaupt? Schlappten das Mädchen und das Opossum zusammen Wasser aus dem Napf in der Ecke? Ich fühlte mich fast verpflichtet, bei ihm einzubrechen und das Kind zu befreien, aber die Ungewissheit lähmte mich ebenso wie die absurde Hoffnung, Charles Heist könne Arabella plötzlich aufgabeln und meinem vernachlässigten Leben und meiner Entwicklung Sinn geben. Ich sehnte mich nach meiner Bürowabe und nach dem nächsten Tinder-Rendezvous im Bourgeois Pig.
Ich schickte meiner einzigen Bekannten in Los Angeles eine Lebenszeichen-Mail, einer Freundin von der Highschool, die meine Kündigung bei Facebook gelikt und geschrieben hatte, ich solle mich doch mal melden. Als sie jetzt meinen Aufenthaltsort erfuhr, eröffnete sie mir, dass Culver City, wo sie in einer Galerie arbeitete, an einem Werktag fast zwei Autostunden entfernt war, auch ohne den Regen, der die ängstlichen Fahrer Südkaliforniens noch mal aufs halbe Tempo drosselte. Aber ich hatte ja keine anderen Verpflichtungen, außer ich fuhr den Berg hoch, um auf eigene Faust beim Zen-Zentrum herumzuschnüffeln – dessen Lage war bei Google Maps deutlich ausgewiesen. Nein, ich würde Heist noch einen Tag Aufschub geben. Also schrieb ich zurück, ich würde sie zum Abendessen im besten Restaurant einladen, das sie mir in Culver City zeigen könne. Ich musste ums Verrecken aus dem Doubletree und diesem ganzen Inland Empire raus.