Auf ähnliche Weise war ich vielleicht selbst schuld, aber als der zweite Gang kam, sagte ich mir, dass ich mich nie wieder bei Stephanie melden und sie vielleicht blockieren würde, falls ich nicht sogar den Mumm hatte, sie zu entfreunden. Natürlich wurde das Gespräch an dem Punkt zumindest eine Spur interessanter.
»Alle wollen raus aus New York«, klärte sie mich auf, was wohl als eine Art Gratulation gedacht war. »Du bist der Zeit nicht mal voraus. Hier draußen läuft das eher unter ›Warum hast du so lange gebraucht?‹«
»Ich muss meiner Zeit nicht voraus sein«, sagte ich. Tatsächlich war ich ein bisschen perplex, hier in einem sündhaft teuren Restaurant zu sitzen, wo jeder Tisch in dunkeloranges Licht getaucht war und an der Bar ein echter viertklassiger – aber erkennbarer – Filmschauspieler saß. Die schiere Weltläufigkeit in Sachen Ausstattung und Codes hatte mich aus dem Konzept gebracht, war ich es doch gewohnt, mich überlegen zu fühlen, ein Gefühl, das in Upland und Claremont nicht erschüttert worden war. Stephanie hatte mich zuerst in der Galerie treffen wollen, wo ich mir in der Retro-Bohème der Angestellten und Sammler, unter Frauen in Lederjacken und Stöckelschuhen und Männern mit Bärten und T-Shirts, die sich flüchtig, blasiert und dünkelhaft einen ganzen Häuserblock aus weißen Wänden und unergründlichen Objekten besahen, wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern vorkam.
»Hier draußen wirst du du selbst«, sagte Stephanie jetzt.
»Ach ja?«
»In New York sorgt diese neurotische, koffeingesättigte Atmosphäre dafür, dass man das Gefühl hat, in jeder Sekunde des Lebens würde etwas Bedeutendes passieren. In Wirklichkeit ist man die ganze Zeit am Scheißefressen. Da ist es doch dermaßen ungesund, dass du dich buchstäblich nicht mehr im Spiegel ansehen kannst. Und du fährst mit der U-Bahn zu einem Job, der dir kaum die Miete zahlt, und du merkst nur nicht, wie dich das alles ankotzt, weil alle Welt dir erzählt, was für ein Glückspilz du bist.«
Jede Wette, dass sich Stephanie im Spiegel ansehen konnte. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Kleid, das ihre fitnessgeformten und so jungmännlichen Arme zeigte, dass ich fast rollig wurde. Ich wappnete mich für ein Infomercial über die Vorteile einer reinen Avocadodiät.
Stattdessen sagte sie: »Bei den hiesigen Weiten kannst du dir nichts vormachen. Da wachst du jeden Morgen auf und musst entscheiden, wer du in einer totalen Leere bist.«
Das konnte glatt auf mich in meinem Zimmer im Doubletree gemünzt sein. Ich legte die Gabel weg, die immerzu in Aktion gewesen war, damit ich so bald wie möglich aufbrechen konnte. »So ein Zufall«, sagte ich. »Ich hab nämlich das Gefühl, dass ich in den letzten Tagen genau so eine Erfahrung der Leere gemacht habe.«
Sie zuckte die Schultern. »Füg dich ins Unvermeidliche.«
»Ich hatte das Gefühl, die Berge wären gleichzeitig zu nah und zu weit weg.«
»Wilde Ränder«, sagte sie sibyllinisch.
»Wie meinen?«
»Davon hat L. A. mehr als jede andere Stadt der Welt. Wilde Ränder, egal woran die Stadt grenzt – Meer oder Berge.«
»Das ist Wahnsinn.« Die Genugtuung von etwas weniger Zweideutigem gönnte ich ihr nicht.
»Du spürst, dass die Landschaft nur mit einer dünnen Schicht Zivilisation verspachtelt ist. Hier ist alles irgendwie nur provisorisch.«
Tja, zum einen gibt es das Mansplaining, und dann gibt es den Ton einer Frau, die einer anderen dieses Männerklären darlegt. Sie bestätigte meine Vermutung. »Wir arbeiten mit einem Künstler zusammen, und Wilde Ränder ist der Titel seiner nächsten Ausstellung.«
Und du hast ihn gefickt oder willst ihn ficken. Stephanie wurde so rot, dass sie das nicht mehr hinzufügen musste.
Und ich wollte plötzlich alles, was sie hatte, bis hin zu den Portobellos und der Grütze auf ihrem Teller, die sie kaum angerührt hatte. Ihr Vorsprung bei der Flucht nach Los Angeles, ihre Culver-City-Version der Begegnung mit der Leere, war so viel weniger schäbig als in meinem Fall. Ich hatte überlegt, wie bald ich den Parkdienst bitten konnte, meinen Mietwagen vorzufahren, um nach Osten zum Doubletree zurückzukehren. Jetzt wollte ich eine Nacht bei ihr auf der Couch heraushandeln.
»Es gibt viele wilde Ränder«, sagte ich. »Aber es gibt auch einen Überschuss an allem anderen. Eine irrwitzige Menge an San und Los mit Rancho als Beilage.« Ich ging in eine alberne Defensive. Ich hatte das Gefühl, wir wären an dem Punkt angelangt, wo man auf das Herzblatt im eigenen Leben anspielt, um klarzumachen, dass man eins abbekommen hat. Ein Leben, meine ich. Absurderweise überlegte ich, Charles Heist zu erwähnen oder zu fragen, ob sie mal von dem wilden Detektiv gehört hätte. Heist hatte etwas von einem Mann in meinem Leben – er meldete sich nie.
»Wo wohnst du noch mal?«
»Montclair – ich meine, Claremont.« Upland war mir aus irgendeinem Grund peinlich. »Das ist, na ja, ’ne ganz schön andere Szene.« Ich deutete vage in Richtung Filmstar.
»Da hat’s mich noch nie hingezogen.« Der Satz hörte sich an wie ein plötzlicher Sympathieentzug.
»Wenn Los Angeles einen Mittleren Westen hat, hab ich den anscheinend gefunden.« Bis dahin hatte ich nur erwähnt, dass ich eine vermisste Freundin suchte. Jetzt ging mir durch den Kopf, dass sie auf den Gedanken kommen konnte, ich selbst wäre diese »Freundin«, womit sie nicht ganz falschgelegen hätte. Ich probierte es mit einem Kalauer. »Da ist nichts da da.« Stephanie biss nicht an.
Nachdem wir derart Blicke in die Leere der anderen geworfen hatten, blieb Stephanie und mir nur mehr übrig, eine Weile das orangefarbene Monster zu verabscheuen und dann aufs Dessert zu verzichten. Wir hakten diese Tagesordnungspunkte ab, und ich hielt mein Versprechen und übernahm die Rechnung.