Kapitel 10

Wir folgten dem tiefer werdenden Strom oder wurden von ihm geführt. Heist und ich suchten erhöhten Boden, die Hunde spritzten durch die Tiefen, bis wir dann in eine winzige Siedlung hinabstiegen, ein Städtchen vielleicht, Zelte und Unterstände aus Wellblech, die alle im Regen glänzten. Die Gässchen zwischen den zwölf oder fünfzehn Notunterkünften erinnerten an die Depots von Messies: Pyramiden aus ungleich gehackten Holzscheiten, zerlegte Fahrräder, ein Stapel Computertastaturen und weitere Regenwasserkanister, die teilweise schon voll waren. Zunächst gab es keine Anzeichen von Leben bis auf zwei Kinderfüße, die à la Diogenes aus einem großen Betonrohr ragten, und einen Welpen, der eine leere Dose beschnupperte. Die drei Huskys umringten ihn, woraufhin er sich erst auf den Rücken legte und unterwürfig krümmte und dann ihre Schnauzen anstupste. Heist winkte mich durch das großenteils verlassene Dorf hindurch, und wir gingen weiter.

An der nächsten Anhöhe tauchte der Tunnel unter uns auf. Das schlammige grobe Geröll wich plötzlich einem winkligen Betonaquädukt, einem Kanal, der die Wildwasser in immer schnellerem Fließen zu einer dunkel überwachsenen Öffnung im steilen Felswall leitete. Beim Näherkommen sah ich den vom schutzbietenden Dach gebildeten flachen Tunnel. Die schrägen Flanken des Aquädukts waren bis weit in die dunkle Höhle hinein mit Zweimannzelten und Schlafsäcken getüpfelt; von unserer erhöhten Warte aus waren vielleicht dreißig davon zu sehen. Die Bewohner hatten diese schiefen Ebenen erklommen und möglichst viel von ihrem Hab und Gut aus den Unterkünften mitgenommen. Das waren die Tunnelmenschen. Das Gebilde, das sie sonst beherbergte, versteckte und Schutz vor Intimfeinden wie unbarmherziger Dauersonne und Überwachungshelikoptern gewährte, hatte sie im Sturm verraten.

An der Mündung, die sich Heist und mir beim Abstieg zeigte, leitete eine Frau den Bau dessen, was der Hüne Laird einen Damm genannt hatte. Freundlich gesagt, war er noch in Arbeit. Ein klappriges Sofa war mitten in die Wassermassen gestellt worden, als Bollwerk, an dem das Wasser vorbei- und unter dem es hindurchströmen musste. Trotz des Gesteins und der Asphaltbrocken, mit denen man die Breschen abzudichten versucht hatte, trotz der durchweichten Kleidungsstücke und verrotteten Decken, der Planen und Zeltbahnen, die als Abdichtung zwischen das harte Material gestopft worden waren, kam das Wasser durch. Es konnte ja nur in den Tunnel – die Ingenieure, die ihn erbaut hatten, hatten die grundlegende geologische Beschaffenheit des Planeten auf ihrer Seite gehabt.

Eine Frau, wahrscheinlich die erwähnte Kate, hatte die Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt und watete durch die Strömung. Ihre Jeans und Daunenskijacke waren triefnass. Ihre Helfer, zwei schwarze Männer ohne Hemden, der eine mit knotigen Dreadlocks, wirkten wie unbewusste Mitspieler in einem avantgardistischen politischen Theaterstück – zur Vervollständigung des Plantagenklischees fehlte nur ein Schauspieler mit Hut und Lederpeitsche. Der eine mühte sich mit einer Betonplatte ab, wusste aber nicht, wohin damit. Ich sah die Platte schon genauso wie er: eine Bereicherung, die nicht vergeudet werden durfte. Diese Kämpfer der Sonne hatten ihr Dorf geplündert, um das Wasser zu bekämpfen, und nichts dabei gewonnen.

»Sie müssen raus aus dem Tunnel«, sagte Heist.

»Das ist ein freies Land, Charles.« Ohne in ihrer Arbeit zu stocken, sprach Kate mit einem abgespannten Blaffen, das trotz der tosenden Wasserstrudel und des pfeifenden Winds zu hören war. Eine Stimme, die ich eher einem Mittelschulrektor oder dem Pedell in einem Gerichtsdrama zugeordnet hätte.

»Kann ich mit ihnen reden?«

»Das gehört zum freien Land.« Jetzt drehte sie sich um und sah uns an. Die Stimme kam aus einem Gesicht, das an die Oberseite einer eingefallenen Pastete erinnerte und älter wirkte als ihr stämmiger Körper. »Ein wahrer Gentleman würde allerdings in die Schützengraben hinabsteigen und mit anpacken.« Sie nahm mich zur Kenntnis und korrigierte sich: »Damen gelten in diesem Fall als Gentlemen.«

»Phoebe möchte sich dringend mit dem Mädchen unterhalten, Sage, falls sie noch da ist.« Heists Hunde waren herbeigewatet, um neue Hände abzulecken, und der eine sprang aufs Sofa.

»Na, da hast du doch eine Aufgabe. Sage und Martin sind mit einer Sackkarre oben auf dem Hügel.« Sie deutete auf eine zerbröckelnde Steigung zu ihrer Rechten. »Sie können Hilfe gebrauchen. Laird hat mich im Stich gelassen.«

Weil er kein Trecker ist, wollte ich sagen, behielt es aber für mich.

Wir fanden Martin und Sage fast ganz oben auf der Anhöhe, wo sie gerade frustriert Pause machten. Sie waren den Tränen nah, oder vielleicht weinten sie auch, im Regen war das schwer zu sagen. Mich erinnerten sie an amerikanische Dutzendjugendliche, die gerade erst dem Schulgesangsverein Ade gesagt hatten, um eine Karriere als Obdachlose einzuschlagen. Auf Kates Betreiben hatten sie eine mobile Toilettenkabine von der Baustelle auf der anderen Seite der Monte Vista Avenue mühsam über eine kaputte Stelle im Zaun gewuchtet. Jetzt waren sie mit der Sackkarre in der Wasserrinne stecken geblieben, und die Räder versanken im Schlamm. Heist und ich warfen meinen Regenschirm und unseren Stolz über Bord, packten mit an und veranstalteten unser eigenes avantgardistisches Theaterstück, das eher in Richtung Beckett ging: Vier Personen versenken ein Klo in einer Grube. Widerwillig akzeptierte Kate das Opfer der Toilettenkabine. Sie und ihre Helfer, zu denen sich jetzt auch Martin gesellte, legten die blaue Plastikkabine auf die Seite und versuchten, sie in den Damm zu integrieren. Sage und ich folgten Heist endlich in den Tunnel, nachdem Kate ihn für uns freigegeben hatte.

»Geht ihr beiden euch mal aufwärmen«, sagte Heist. Weiter drinnen führte eine aus Beton gegossene Treppe zu einer trockenen Plattform hoch. Dort kräuselte Rauch aus einer Metalltonne empor. »Ich red mal mit ein paar Leuten.«

Sage und ich setzten uns zu drei anderen ans Feuer. Ich hatte meine Handtasche weiter unter den Arm geklemmt, und jetzt wühlte ich darin nach Kleenex, um mir die tropfnassen Haare abzutupfen. Unter dem Mantel war ich trocken geblieben, aber der eine Fuß steckte in einem quatschnassen Stiefel. Sage war schlimmer dran, ihre schmutzig grüne Army-Jacke hätte man wie einen Schwamm auswringen können. Sie kauerte sich zusammen und sah mich erwartungsvoll an. Heist hatte ihr gesagt, ich hätte Fragen an sie.

»Charles meint, du hättest ein Bild erkannt.«

Sie nickte ängstlich.

»Sie heißt Arabella.« Die Vokale hallten durch die Grotte des Aquädukts.

Mit mäuschenhafter Entschiedenheit schüttelte sie den Kopf. »So hat sie sich nie genannt.«

»Kannst du dich noch an ihren Namen erinnern?«

»Bist du ihre Freundin?« Ich merkte, dass sich Sage bewusst auf das konzentrierte, was in ihr fremd war und sie so weit und unwiderruflich aus dem Schulgesangsverein vertrieben hatte. Die Aufgabe, eine Toilettenkabine zu besorgen, hatte sie fest in der Realität verankert, aber ein Anker konnte sich losreißen. »Hast du eine Zigarette?«

»Nein, sorry.«

»Ich wollte auch gar keine.«

»Aha.«

»Es tut mir nur echt leid, dass du deine Freundin verloren hast. Ich würde dir gern helfen.« Jetzt war Geträller angesagt.

»Kannst du vielleicht auch. Hast du sie – hier gesehen? Im Schwemmkegel?«

»Wir sind zusammen hergekommen. Mit einem Mann.«

»War das Martin?«

»Nein, ein anderer. Älterer.«

Ich bekam eine Gänsehaut. »Meinst du – Charles? Meinen Freund, der uns gerade geholfen hat?« Die Skeptikerin in mir musste wieder an das struppige Mädchen in Heists Büro denken. Wenn ich einen Kriminellen oder Entführer suchte, war der wilde Detektiv immer noch mein einziger Verdächtiger.

Sie schüttelte wieder den Kopf. »Der Mann ist jetzt nicht hier. Ein Buddhist.«

Ich wurde hellhörig. »Etwa aus dem Kloster auf dem Berg, auf Mount Baldy? Dem Retreat?« Ich fragte mich, warum Heist nicht einfach mit mir da hochgefahren war, um das zu prüfen, wenn er es gewusst hatte. Aber vielleicht hatte er das ja auch gar nicht. »War das ein Mönch?«

Sie kicherte. »Er ist mit den Affen befreundet, er ist mit den Kaninchen und den Bären befreundet. Er kennt jeden.«

»Ist er ein Mönch? Glaubst du, sie ist noch bei ihm?«

»Nee. Wo ist Martin hin?«

»Der hilft beim Dammbau.«

»Dieser Regen hilft bei gar nichts.«

»Stimmt«, sagte ich.

»Nicht mal gegen die Dürre.«

Ich wollte an ihrem Skalenknopf drehen, um sie zum richtigen Sender zu bringen. »Was ist mit dem Mann, der mit meiner Freundin unterwegs war?«, fragte ich. »Wo ist er hin?«

»Er hat chinesische Freunde.« Sie lachte. »Ich meine nicht Phoebe, weil sie keine Chinesin ist.«

»Das bin ich«, sagte ich. »Ich bin Phoebe.«

»Nicht du. Das ist ihr neuer Name, der von deiner Freundin. Ist mir grade wieder eingefallen.«

»Wie meinst du das?«

»Phoebe. Ihr seid beide Phoebe.«