Dann folgte eine seltsame Zeit. In den Stunden, bevor Heist mit dem Pick-up zurückkam und mich wieder abholte, verfiel ich in einen Bann oder eine Trance, als wäre auch das kleine Hotelzimmer eine Art Tunnel und ich hätte mich dafür entschieden zu bleiben, statt gerettet zu werden. Ich streifte meine nassen Sachen ab und duschte heiß, und während ich einerseits den Schlamm des Schwemmkegels und den Gestank des Tunnels und meiner obdachlosen Mitfahrer in Heists Pick-up dringend abschrubben wollte, trauerte ich andererseits um einen Verlust, den ich gar nicht richtig auf den Punkt bringen konnte. Ich hatte das Gefühl, ausrangiert worden zu sein. Aus einer Kollegialität ausgestoßen, bei der ich gerade erst auf den Trichter gekommen war, als ich bei strömendem Regen in einer Grube erbärmlich hoffnungslose Aufgaben zu erfüllen versucht hatte.
Ich saß im Bademantel vom Doubletree da, fand eine Zeitschrift namens Inland Empire und las sie von der ersten bis zur letzten Seite durch. Ich zappte von einem Sender zum nächsten. Verschwitzt, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Lippen feilschte Bruce Willis an einem riesigen Mobiltelefon um die Leben entsetzter Geiseln. Auf einem anderen Sender feixte und mauerte ein milchgesichtiger Senator in Bezug auf die Konsequenzen seines langen und quietschfidelen Doppellebens. Das Glimmen des Fernsehers wärmte mich nicht, wie mir am Feuer in der Tonne warm geworden war, und ich schaltete ab.
Ich sah immer noch die Gesichter am Feuer vor mir, wo ich mich mit der verpeilten Sage unterhalten hatte. Ich fragte mich, warum Heist nicht darauf bestanden hatte, alle müssten den Tunnel verlassen. Sie hätten hierher kommen, sich in dieses Zimmer drängen und die ganzen flauschigen Handtücher verwenden können, und dann hätten wir die ganzen Kekse aus dem Foyer stibitzt. Danach hätten Heist und ich den Berg hochfahren können, wo ich den Bruce Willis gegeben, meine Rettungsaktion durchgezogen und Arabella und mich aus dieser absurden Landschaft rausgeholt hätte, aber natürlich erst, nachdem Heist und ich ausgedehnte Stunden auf dem flauschigen Teppich vor dem flackernden Feuer im Kamin einer rustikalen Blockhütte verbracht hätten. Solchen albernen und selbstironischen Gedanken hing ich nach, nur ließen sich die leider nicht so leicht abstellen wie der Fernseher.
Dem Zimmerservice verdankte ich eine Platte »Toast mit fangfrischem Thunfisch und Käse« und konnte im Bademantel auf der Tagesdecke lange in meinem dissoziativen Zustand dahinschwimmen. So gesehen, war es einfach nur reines Glück, dass ich schon wieder angezogen und sogar geschminkt war, als Heist zurückkam. Oder weniger Glück als eine moralisch verworfene Wendung meiner Trance: Ich hatte auf die krasseste und übelste Weise vorgehabt, die nächstgelegene Singles-Bar im Inland Empire aufzusuchen und mich flachlegen zu lassen. Wenn Heist kein Interesse hatte, dann eben jemand anders.
Meine fleischlichen Gelüste, die ersten seit der Wahl, waren weder bunt noch glücklich. Sie waren missmutig, ein Produkt des Reizentzugs im Hotelzimmer und des Störungsfelds außerhalb dieses Zimmers. Ich überlegte kurz, Roslyn anzurufen. Trotz der verschiedenen Zeitzonen war es dafür noch nicht zu spät. Ich war ziemlich sicher, dass sie noch wach war und ihre Angst in Weißwein und Komaglotzen von The Crown oder Pretty Little Liars ertränkte. Sie hätte mir meine Absichten nur zu gern ausgeredet, wie sie mich im letzten Jahr schon von einigen Tinder-Klippen zurückgeholt hatte. Aber dann hätte ich erklären müssen, wo ich auf meiner Suche nach Arabella hingefunden und wo ich nicht hingefunden hatte. Ich hätte Heist erklären müssen. Ich rief sie nicht an.
Dank Google war mein Ziel schnell gefunden. Eine Bar namens PianoPiano, wo zwei Pianisten an ihren Flügeln angeblich nicht jugendfreie Songs zum Besten gaben, ideal für die Abschiedsfeiern von Junggesellen und Junggesellinnen, und außerdem sollte die Bar im Vergleich zu den ansonsten verschnarchten Singletreffs von Claremont ein Hexenkessel sein. Yelp-Empfehlungen zufolge war der Laden sogar die angesagte Adresse für brunstentflammte Raubkatzen – ich konnte mich ja der Illusion hingeben, zu den jüngeren Weibchen vor Ort zu gehören und eine Beute ins Doubletree zurückzuschleifen.
Es schadete auch nicht, dass ich nur den Hotelparkplatz überqueren musste, um zum PianoPiano zu kommen. Ich konnte mir zeigen lassen, wie man im Inland Empire vögelte, und den Eingeborenen dafür ein paar Ostküstentricks beibringen. Ich war in einen Brunnen der Verworfenheit gefallen, der das zu fordern schien. Als Heist wieder klopfte, war ich daher aufgebrezelt bis Oberkante Unterlippe.
Der Regen hatte eine Spur nachgelassen, die Sonne irgendwo hinter dem Sturm hatte aber längst das Handtuch geworfen. Es hätte sechs Uhr abends oder vier Uhr morgens sein können, was mein Gefühl der Entrückung nur verstärkte. Heist hatte den Regenponcho abgelegt. Vielleicht hatte er darunter auch während unseres ganzen Abenteuers die groteske rote Cowboyjacke getragen. Vielleicht war er längst mit ihr verwachsen.
»Wo fahren wir diesmal hin?«, fragte ich.
»Wir könnten was essen und reden.«
»Mein Mantel hängt in der Dusche und muss noch trocknen.«
»Wir bleiben drinnen.«
Auf der Sitzbank im Pick-up, dem Platz der Thermoskanne, lag eine dampfende weiße Papiertüte, folienbeschichtet und oben umgeknickt. Duftende indische Sachen vom Take-away. Ich hatte einen Bärenhunger. Wir hielten hinter dem Tattoo- und Wellness-Bau. Die Aussicht darauf, wieder in sein Büro zu kommen, war schauderhaft und faszinierend, und ich wappnete mich innerlich. Aber er ließ den Motor laufen, nahm einen Halbliterbecher aus der Tüte und sagte: »Bin gleich wieder da.«
»Für das Mädchen?«, fragte ich, als er zurückkam.
»Für Jeanne.«
»Das Opossum?«
Er nickte. »Sie verträgt nur ungewürzten weißen Reis.«
»Bis die Infektion abgeheilt ist, oder? Und dann wieder Fünfsterneküche, Lamm Biryani, ein Glas Chardonnay.«
Ich erntete ein Lächeln. Heist war nicht völlig immun gegen meinen Deppencharme. Und anscheinend kannte er das Wort Chardonnay. Damit ließ sich doch arbeiten.
Der Regen hatte nachgelassen. Er schaltete den Scheibenwischer ab, und nur der laufende Motor untergrummelte unsere kleine Raumkapsel mit den beschlagenen Scheiben.
»Wo fahren wir hin?«
Er hatte den Gang eingelegt und umrundete das Gebäude. An der Zufahrt zum Foothill Boulevard wartete er eine Lücke im Verkehrsstrom ab; durchs Kaleidoskop der Windschutzscheibe waren die glitzernden Scheinwerfer kaum eindeutig auszumachen.
»Zu mir. Zum Essen. Außer Sie wollen im Pick-up essen.«
»Wer ist das Mädchen?« Ich brauchte plötzlich eine Auskunft. »Braucht sie nichts zu essen? Warum sagen Sie mir nicht, wie sie heißt?«
»Sie heißt Melinda. Ich habe ihr eine Bleibe besorgt. Sie wohnt jetzt bei Leuten.«
Eine Bleibe, bei Leuten. Das reichte mir nicht ganz. »Eine Gastfamilie?«
»Nicht offiziell. Das System war nichts für sie.«
»Also eine inoffizielle Gastfamilie?« Ich bin der Lorax, der Schutzpatron der Ausreißer.
»Melinda steht nicht so auf Moms und Dads. Sie brauchte ein anderes Format.«
»Und was für eins?«
»Ich hab ihr geholfen, vom Radar zu verschwinden. Wollen Sie essen?«
»Konventionellerweise nennt man das Kidnapping, Mr. Heist.«
»Dann bin ich wohl unkonventionell.« Das wäre ein schlagfertiger Konter gewesen, wenn Heist zu so was imstande gewesen wäre. Stattdessen legte er jedes Wort frei, als würde er es gerade prägen und sich zu seiner Erwiderung vorantasten. Der Mann war in fast schon autistischem Maße unprovozierbar.
»Und jetzt haben Sie sie auch in irgendeinem Abflussrohr untergebracht? Ach nein, die Leute aus dem Abflussrohr siedeln Sie ja um. Wo schaffen Sie die eigentlich hin? Auch weg vom Radar?«
»In Pomona gibt es eine Notunterkunft. Vielleicht sind sie noch da, wenn Sie Beweise brauchen.«
»Nein, ich brauch ein Abendessen. Und dringend einen Drink, ehrlich gesagt.«
»Ich glaub, ich hab noch Wein.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Wir fädelten uns auf den Foothill ein, wendeten aber gleich wieder im großen Bogen auf eine Schotterstraße, durch eine Toröffnung in dem hohen Zaun, hinter dem der Trailerpark lag, der mir schon aufgefallen war. Mein Herz oder mein Magen machte wieder einen Satz. Ein Abendessen in seinem Büro am Foothill Boulevard schien jetzt die zivilisiertere Option. Das hier war der nächste Schwemmkegel, ein dunkler Wald, auf dessen Betreten ich nicht gerade versessen gewesen war. Schon weil ich dafür nicht angemessen gekleidet war.
Wahrscheinlich war ich immer noch ein bisschen aufgewühlt, immer noch überdreht von unserer Rettungsmission in den überfluteten Bachbetten und dem Betontunnel. Jetzt, wo ich Heist wieder im Visier hatte, bekam mein Lechzen nach der Zufallsbekanntschaft in einer Pianobar etwas von sauren Trauben. Die Frühlingsgefühle richteten sich bereitwillig wieder auf meinen nicht rauchenden Marlboro-Mann aus. Das Knistern zwischen uns im Pick-up hatte das wieder angefacht, oder vielleicht war es auch nie ganz weg gewesen. Ich wollte trocken bleiben, klar, und ich hätte mich liebend gern in ein edles Restaurant oder auch eine schrille Bar ausführen lassen. Aber ich wollte auch wieder durchnässt werden. Andererseits hatte ich schlicht und einfach Angst vor dem Trailerpark. Ich wollte nicht mich selbst retten müssen.
Ich schwieg, und wir rumpelten hinein, vorbei an hellen und dunklen Trailern, teils aufgebockten und teils solchen, die aussahen, als wären ihre Eigentümer erst kürzlich hier aufgekreuzt und könnten jederzeit wieder weiterfahren. Was erst eine Straße oder zumindest ein Feldweg zu sein schien, zerfiel in ein Labyrinth, das von keinerlei Straßenlaternen erhellt wurde und sich bis ans Ende vom Gelände erstreckte. Dort hielt Heist neben einem Airstream, der ebenfalls am Rand einer Schotterschlucht stand, über der nur in der Ferne die Lichter der Zivilisation glänzten. Am Himmel senkte sich ein Flugzeug zur schemenhaft zu erkennenden Bergkette im Süden. Wir stiegen aus dem Pick-up. Heist nahm die Tüte und ging auf den Airstream zu. Die aufgedunsene Silberkugel erinnerte an einen Partyballon aus Silberfolie oder an einen Spielzeugzeppelin, der auf der Erde gelandet war und sich schwer und angeschlagen in einem Krater niedergelassen hatte. Mir versagte die Stimme.
Die Hunde freuten sich, als wir kamen. Ich sagte mir, dass das bestimmt irgendeine Bedeutung hatte. Drinnen war alles warm und eng und abgerundet, Einbaumöbel aus Hellholz und blass gestrichene Wände wie in einer Schiffskajüte. Die Tischplatte, auf der Heist das Essen vom Inder auspackte und anrichtete, bestand aus einem Hackklotz mit Scharnieren, der über den kleinen Herd geklappt werden konnte. Die Hunde drängten sich auf den Decken vom Bett, das die eine Seite des Airstream ausfüllte und die einzige Sitzgelegenheit darstellte. Also zog ich den Mantel aus, setzte mich, und sie beschnüffelten mir die Achselhöhlen. Neben dem Duft der Speisen roch es nach Mann und Hund, ein sehr konzentriertes Aroma. Aber kein schlechtes. Heist holte Teller und Besteck aus einem Fach unter der Decke. Er zog auch den Korken aus einer Flasche Rotwein und schenkte zwei Saftgläser voll. Ich trank ein halbes Glas und fing an, mit den Hunden herumzuschnüffeln. Sie wurden erregt und versuchten sich an Zungenküssen, alle zusammen und jeder einzeln.
»Wie heißt der hier?«, fragte ich Heist, ohne mich umzudrehen. »Zungenküsse gibt’s bei mir erst nach einer ordnungsgemäßen Vorstellung.«
Heist griff über mich hinweg, legte den Hunden nacheinander die flache Hand auf die Köpfe und sagte: »Jessie, Miller und Vakuum.«
»Vakuum?«
»Vakuum macht gern sauber. Sehen Sie nachher.«
»Was gibt’s zum Essen?«
Er stand an der Arbeitsfläche, zog eine Pappschachtel heran und warf einen Blick hinein. »Weiß ich nicht.«
»Wie meinen Sie das? Haben Sie das nicht bestellt?« Ich verlegte mich aufs Necken. Auf dem Parkplatz hatte ich vor fünf Minuten noch den Vorgesetzten oder Bezirksstaatsanwalt für seinen bösen Bullen gegeben. Jetzt ging’s Richtung Trailergirl.
»Ein Freund führt ein Restaurant namens The Blessings. Wenn er was übrig hat, verschenkt er Mahlzeiten.«
»Almosen für Sie und Ihre Straßenkinder?«
»Er gibt den Leuten gern zu essen. Ich hab ihm ein paarmal geholfen.«
»Ich wollte nichts unterstellen.« Ich trank noch einen Schluck, und Heist füllte mein Glas auf. Ich fühlte mich schon ein bisschen gaga. Oder immer noch. »An der Uni haben meine Freundinnen und ich uns mal total zugekifft und sind uneingeladen zu einem Hare-Krishna-Fest gegangen. Das könnte das beste Essen meines ganzen Lebens gewesen sein.«
Heist zog die buschigen Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er schien mich nur wieder zu taxieren, als überlegte er, wie er meine Labilität und meinen Sarkasmus in den Rahmen seiner Ruhe bringen könne. Hier im Airstream war der Regen nicht mehr zu hören, oder er hatte aufgehört. Es war, als wären wir gegen die Außenwelt druckabgedichtet worden. Jessie, Miller, Vakuum, Heist und ich spielten Sardinen, nur dass uns niemand suchte. Die Umgebung war unmöglich im Hinterkopf zu behalten, das Labyrinth der identischen Trailerkästen, das öde Finsterland, das sich im Mondschein um uns erstreckte. Wahrscheinlich wirkten die kleinen Fenster vom Airstream wie Leuchtfeuer, aber die Akkordeonvorhänge waren gegen alle neugierigen Blicke versiegelt, das musste ich ihm lassen. Heist füllte die Teller, schöpfte Saag Paneer und Tikka Masala um zusammengerollte knusprige Dosa und reichte mir eine Portion. Ich fiel genauso dankbar darüber her wie am Morgen über den Kaffee.
»Wissen Sie, warum ich so angezogen bin?«, fragte ich mit vollem Mund.
»Nein.«
»Ich wollte zu so einem Klavierduell. Also zwei Pianisten, die auf zwei Klavieren spielen. Das soll eine total schmalzige Szene sein – schmalzig, aber pornografisch.«
»Hab ich noch nie ausprobiert.«
»Wir könnten nachher noch hingehen!«
»Vielleicht sollten wir eher unsere Situation besprechen.«
»Ja, natürlich.« Vakuum schob mir seine Schnauze unter dem Arm durch, um mir Basmati-Reiskörner vom Ausschnitt zu lecken. »Meinen Fall, meinen Sie. Arabella.«
»Ja. Sie haben ja mit Sage sprechen können.«
»Das Mädchen im Schwemmkegel, meinen Sie. Die mit der Toilettenkabine.«
»Ja. Was war Ihr Eindruck?«
»Sie hat einen Mann erwähnt, vielleicht einen älteren Mann. Einen Buddhisten.«
»Aha.«
»Wenn ich sie richtig verstanden habe, trägt Arabella jetzt meinen Namen.«
»Ich wollte, dass Sie das mit eigenen Ohren hören.«
»Habe ich.« Offenbar bedurfte es einer Nancy Drew und eines Hardy Boy, damit daran nicht mehr zu rütteln war. Das sprach ich aber nicht aus. »Kann ich mal –« Ich griff an ihm vorbei, um mir Rotwein nachzuschenken. In einem Airstream war alles in Griffweite. Hier hätte man sich betrinken und fett werden können, wenn die Hunde nicht ab und zu hätten Gassi gehen müssen.
»Bedeutet Ihnen das etwas?«
»Wie meinen Sie das? Sie hören sich an wie ein Psychotherapeut.« Meine Eltern ließ ich vorläufig aus dem Spiel. »Glauben Sie, Arabella wäre meine Fantasiefreundin oder so? Oder ich ihre?«
»Nein.«
»Sie ist ausgerissen, sie wollte nicht gefunden werden. Ich dachte, das wäre Ihre Spezialität.«
Er antwortete nicht. Anders als Vakuum waren Jessie und Miller auf den Bäuchen liegen geblieben, Vorderpfoten sphinxartig vorgestreckt, und hatten uns stirnrunzelnd beim Essen zugesehen. Jetzt schob Heist Reis mit Soße und Gemüse zusammen und fütterte die Hunde. Geduldig warteten sie, bis sie an die Reihe kamen – auch Vakuum –, Heist machte zwei-, dreimal die Runde, und jeder bekam etwas von allem auf seinem Teller ab. Ich musste zugeben, dass die Hunde reinlichere Esser waren als ich; ich hatte mich darauf verlassen, dass schon auf meinem Teller landen würde, was mir von der Gabel fiel.
»Buddhisten heißt doch Mount Baldy, oder?« Das war mein Ziel gewesen, bevor ich bei Heist ins Büro gekommen war, bevor ich überhaupt ins Flugzeug gestiegen war.
»Könnte es.«
»Dann fahren wir da also hin?«
»Geh ich mal von aus«, sagte Heist. »Ich mag den Laden nicht besonders.«
Das irritierte mich enorm, aber er hatte ja kein Geld von mir genommen und mir auch keine leeren Versprechungen gemacht.
»Morgen?«
»Gern. Für heute Abend ist es zu spät.«
»Haben wir sonst noch was zu diskutieren?« Ich kippte mein Glas und merkte, dass es schon wieder leer war.
»Nur wenn Sie Lust haben.«
Irgendetwas hatte sich in meiner hormonzernagten Laune aufgelöst oder war geronnen. In mir selbst geronnen, meine ich. Und Heist? Wenn ich dieses Hieroglyphengesicht ansah, war unmöglich zu sagen, ob meine Flirtversuche überhaupt ankamen. Vielleicht hatte ich mir all die Gegenseitigkeit bloß eingebildet. Mein Stolz reagierte gereizt.
»Ich hätte mit meinem Wagen kommen sollen«, sagte ich.
»Dann würde ich Sie jetzt nicht mehr fahren lassen.«
Glaubte Heist, ich könne keine zwei Saftgläser Merlot vertragen? Chuck you, Farley! Dann spürte ich, dass sich seine Hand auf meine legte, die geistesabwesend Jessies Hals und Ohren gekrault hatte. Seine großen rauen Finger schoben sich zwischen meine, das Gewicht unserer verschwisterten Hände lag auf dem Fell des Hunds und bewegte sich nicht. Ich betrachtete seine gebogenen Knöchel auf meinen, sah ihm nicht ins Gesicht. In Jessies Nackenwirbeln waren unsere Hände genauso kompliziert wie Heists Gesicht, wie eine Zeichnung von Escher oder ein Sleeve-Tattoo. Erleichterung gab es nicht.
»Jessie mag ich am liebsten. Wissen Sie, warum?«
»Warum?«
»Er hat das röteste Fell.« Vielleicht war ich betrunken. »Und das weichste.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich. Und er ist der nobelste. Er hat die tiefsten Gedanken; die anderen können ihm nicht das Wasser reichen.«
»Was denkt er denn?«
»Er fragt sich, warum Sie hier eigentlich keine Musik haben.« Ich zog meine Hand unter seiner weg. »Kann ich noch etwas mehr Wein haben?« Er schenkte mir nach, mit großen, aber sanften Augen. Ich trank, bekleckerte mich, plötzlich völlig im Kleister, weil ich kaum etwas gegessen hatte. Ich wischte mir die Lippen mit dem Handrücken ab, und Vakuum leckte mir die Knöchel sauber. Ich riss ein Stück Dosa ab, bekam ein paar Bissen hinunter und fütterte Jessie mit dem Rest. »Ich mag Hunde.«
»Ja.«
»Ich meine, eigentlich steh ich auf Katzen, aber diese Hunde mag ich jeden für sich.«
»Es sind gute Hunde.«
»Ich habe ein Klaxon in meiner Handtasche.«
»Was meinen Sie damit? Ist Klaxon eine Droge?«
»Eine Droge?«
»Ich meine nichts Verbotenes. Das hört sich an wie ein Antidepressivum.«
»Nein, Sie Dummerchen, das ist so eine kleine Hupe.«
»Eine kleine Hupe?«
»Ach, vergessen Sie’s, völlig egal.«
»Okay.«
»Ich küsse keine Männer mit Bart.«
»Kein Problem.«
Ich küsste ihn. Im Beisein der Hunde wäre mir das ohne Zungeneinsatz rührend viktorianisch vorgekommen. Ich konnte meine Zunge eh nicht im Mund halten. Die Hunde standen auf, passten sich unseren Positionen an, legten sich wieder hin. Sie kuschelten sich an uns und bildeten haarige Schwimmwesten. Nur Vakuum hatte sein eigenes Drehbuch und suchte auf dem Boden meinen Teller. Heist hatte ihn da abgestellt, als wir uns richtig aufs Bett gelegt hatten, ohne dass ich das so ganz mitbekommen hatte.
»Es ist zu hell.«
Heist knipste die Lampen aus. Ich nutzte das, um meinen Rock glatt zu streichen, aber auch den obersten Knopf meiner Bluse zu öffnen. Ich hatte schließlich Brüste zu bieten. Er hatte sie nie angestarrt, oder ich hatte ihn nie dabei ertappt.
Ich fuhr Heist mit den Händen durch die faszinierenden Haare, die seidigen Wellen an den Schläfen. Sie fühlten sich rau an, nicht fettig. Ich streichelte ihm den Kopf. Er hatte die Augen geschlossen. Ich küsste ihm die Lider, schob seinen Kopf sanft hierhin und dorthin, legte Nase und Lippen an den sehnigen Hals. Endlich fanden seine Hände mich, streichelten mir Schultern und Rücken, als wäre ich einer seiner Hunde. Ich hauchte ihm Weinatem ins Ohr, knabberte an seinem Ohrläppchen. Vielleicht bedampfte ich den ganzen Airstream wie eine Tüte vom Take-away. Ich sehnte mich danach, dass er mir die Folie abzog.
»Wen hast du gewählt?«, flüsterte ich.
»Wie bitte?«
»Sag nichts, völlig egal, vergiss es.« Genauso wichtig wäre es gewesen, den Hunden diese Frage zu stellen. Ich schob ihm eine Hand unter die berühmte rote Jacke. Dass Heist Toilettenkabinen in Dämme einbaute und Ausreißer aller möglichen Gattungen von Lebewesen hegte und pflegte, sorgte für den idealen muskulösen Körperbau; er war kein falscher Cowboy mit einem Pick-up. Ich roch ihn und leckte ihm das Schlüsselbein.
»Sag was.«
»Was denn?«
»Irgendwas, Wörter, bloß damit ich nicht nur mein Keuchen höre.«
»Du fühlst dich wahnsinnig an.«
»Du fühlst mich doch noch gar nicht.«
»Noch nicht.«
»Du fühlst dich so weit auch toll an.« Er hatte einen Waschbrettbauch wie ein Unterwäsche-Model. Sonst stand ich nicht auf so was, aber jetzt konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als ihm da unten durch die Naturkrause zu fahren. Unversehens war ich unter seinem Hosenbund und hatte seinen harten Schwanz in der Hand.
»Du musst das nicht machen«, sagte er.
»Ich will aber.«
»Du bist betrunken.«
»Bin ich nicht. Okay, bin ich, aber es könnte schlimmer sein.«
»O Gott.«
Er war nicht beschnitten, auch so was, was ich sonst nicht mochte und jetzt doch, dieses herrliche Freilegen seines austernroten wulstigen Selbsts. Ich nahm ihn in den Mund, nur die pulsierende Spitze. Dann saugte ich richtig, lutschte ein bisschen, bis er sich aufbäumte, in Jessies Fell stöhnte und ich plötzlich den Mund voll hatte.
So oft hatte ich mich abgewendet und es einem Mann mit der Hand gemacht. Hier nicht. Ich wollte, was er hatte, oder war betrunken genug. Süß hinter dem Salz, ein Vegetarier, sagte ich mir. Vakuum sprang mir aufs Gesicht, aber ich schubste ihn weg. Auf meiner Reise an Heists Körper hinab war ich auf die Knie geglitten, aus dem Bett und auf den Boden. Jetzt schob ich mich zwischen die Hunde zurück.
Heist hielt sich eine Hand vors Gesicht. »Tut mir leid.«
»Wieso das denn?«
»Weil’s so schnell ging.«
»Pass auf, wenn du nicht so mitgemacht hättest, hätte ich dich wahrscheinlich vergewaltigt.« Ich bog ihm einen Finger hoch wie bei einem Seestern auf einem Stein. Seine Wangen zeigten Tränenspuren, die sich in den Koteletten verliefen. »Was ist denn?«
»Tut mir leid. Ist eine Weile her.«
»Du weinst aber nicht immer, wenn du kommst, oder?«
»Nein.«
»Okay. Das fänd ich sonst nämlich eher schräg. Küss mich.« Ich legte mir die Hand, die ich ihm vom Gesicht gezogen hatte, zwischen die Beine und küsste ihn. Wie vorherzusehen und zu schätzen war, wollte er sich nach Süden schieben. »Nein«, flüsterte ich. »Mach’s mir mit der Hand.« Ich schwamm schon, war völlig überflutet und stellte mir vor, wie er da ertrank. Außerdem wollte ich sein Gesicht sehen. Wenn er unter meinen Horizont abgetaucht wäre und mich geleckt hätte, hätte ich zu viel an die Hunde denken müssen.
»Verstehe.«
»Ich will kein Verständnis, ich will kommen.« Ich raffte im Liegen meinen Rock hoch und führte seine Hand in mein Höschen. »Da. Ja.« Ich war wirklich überschwemmt. »Du sollst bloß wissen, womit du es hier zu tun hast.« Es brauchte nicht viel, ich konnte mich seinem Rhythmus anpassen und ihm über die Ziellinie folgen, wenn seine unbeholfenen Finger nur nicht immer von der richtigen Stelle abgerutscht wären. Ich schloss die Augen und leckte mir die Lippen. Ein Hund fing an zu winseln. »O fuck, o fuck, o fuck –«
»Was?«
»Nein, nicht aufhören, o fuck!«
Ich umklammerte seinen Arm und spürte, wie unter der Lederjacke seine Muskeln spielten, während sich seine Finger jetzt nicht mehr ungeschickt an mir zu schaffen machten. Ich kletterte einen Baum hoch, und im Wipfel schrie ich. Der winselnde Hund – Vakuum, glaube ich, der sich auf dem Boden außen vor gelassen fühlte – bellte einmal auf. Der wilde Detektiv nahm mich in die Arme wie ein Kind, bis ich ihn wegstieß.
»Jetzt weinst du«, sagte er leise. Er sprach immer leise.
»Und?«
»Ich –«
»Halt mal den Schnabel.«
Darauf verstand er sich. Also atmeten wir fünf da nur in dieser Raumkapsel ins Nichts. Der Airstream musste nicht mal abheben und eine Bruchlandung hinlegen, um einen zerstörten Planeten zu finden. Er hatte nur an einem Grubenrand in der gemeindefreien Zone zwischen Upland und Claremont geparkt werden müssen. Was hatte ich bloß aus meinem Leben gemacht, dass ich zum Kommen hierher gekommen war?
»Alles klar?«, flüsterte Heist nach einer Weile.
»Ja.«
»Du warst wunderschön.«
»Das weiß ich ja nun nicht. Aber das war mein erstes Mal seit der Wahl.« War das übertrieben? Klar, in den Zombiewochen der Obama-Regierung hatte ich es mir nachts oder morgens unter der Dusche ab und zu halbherzig selbst gemacht, ohne dem groß Beachtung zu schenken. Aber Orgasmen waren bei mir keine Lappalien. Die Reise zu einer Person, die sich die in der Gemeinschaft anderer erlaubte, war ein privates Epos gewesen. Für mich war es alles andere als selbstverständlich, dass solche Vergnügungen jenseits des neoliberalen Traums zu haben sein würden.
»Okay«, sagte er eher lahm. Die in mir freigesetzte Tränenflut war faktisch eine Flut des Zorns. Heist konnte mich in den Armen halten, aber ich konnte ihn dabei hassen. Vakuum leckte mir die Wangen ab. Ich ließ ihn. Männer hatten die Welt demoliert, in der Frauen und Hunde leben mussten, und in diesem Augenblick zählte ich Heist dazu – zu den Männern, meine ich, nicht zu den Hunden. Ich dachte wieder an Arabella, die irgendwo da draußen bei ihrem potenziellen Fluchthelfer war, dem sogenannten Buddhisten mit seinen chinesischen Freunden. Ob sie jetzt gerade in einem Trailer war? Hatte sie Hunde, die sie wärmten?
»Hast du Zigaretten?«, fragte ich. »Oder dürfen hier nur E-Zigaretten gedampft werden?«
»Tut mir leid. Ich hab weder noch.«
»Du bist mir ja ein Solider.« Ich schnappte mir die Weinflasche und trank einen großen Schluck ohne Umweg über ein Glas. Er sagte nichts.
»Jetzt weiß ich auch, warum’s hier keine Musik gibt. Das ist eine Zwischenlösung. Weil dir nur noch ein Plattenspieler, eine Sammlung alter Vinylscheiben und vielleicht noch ein bisschen nichtkommerzielle Foie gras zu einem stinknormalen Berniebruder fehlen, stimmt’s?«
Ich war richtig stolz auf mich, aber Heist hatte keine Ahnung, wovon ich redete. Meine Galle fand kein Ziel. Sie war in diesem Kontext genauso deplatziert, wie ich im Inland Empire nichts zu suchen hatte, in dieser Zwischenzone, wo ich nicht mal mehr einen Blick auf eine unwiederbringlich verlorene Welt erhaschen konnte. Die Amtseinführung war in zwei Tagen, wenn ich richtig mitgezählt hatte.
»Ich kann Zigaretten oder Musik besorgen, wenn du das brauchst«, sagte er mitleiderregend.
»Nein.«
»Okay«, sagte er wieder, um mich oder sich selbst zu beruhigen.
»Nein, das ist nicht okay. Vergessen Sie nicht, was mich zu Ihnen gebracht hat, Mr. Heist.« Meine dicke Zunge hatte Schwierigkeiten, nicht »Heischt« zu sagen, aber im Geist war ich plötzlich putzmunter, offen und wütend. Jedenfalls einen Augenblick lang. Ich merkte, dass sich mein Kopf eigentlich in die Dunkelheit zurückwünschte. »Ein Mädchen wird vermisst.«
»Ja.«
»Und morgen fahren wir den Berg hoch, wie wir das schon heute hätten machen sollen, und wir werden sie finden, und ich bring sie nach New York City zurück und komm nie mehr in diese Scheißgegend zurück.«
»Verstehe.«
Heist musste mir zeigen, wie man die Spülung der winzigen Einbautoilette mit dem Pedal auf dem Boden betätigte, und er musste mich auf dem Weg dorthin und auch auf dem Rückweg ins Bett festhalten, damit ich nicht umkippte. Und dann schoben wir uns, ich in meinen unordentlichen Klamotten und er in seinen, abzüglich der roten Lederjacke, unter die Bettdecke, die drei Hunde legten sich so auf uns, dass ich sie nicht mehr unterscheiden konnte, wenn ich sie in der Felldunkelheit streichelte, und so schliefen wir ein, alle fünf.