Kapitel 15

Ich wartete zwei Stunden und nahm schließlich doch Zuflucht zu einem Glas Merlot. Und dann einem zweiten. Als Heist gegen halb vier kam, setzte er sich nicht direkt zu mir an den Tisch, sondern unterhielt sich erst mal mit einem angegrauten Erzschürfer, der fast so lange an einem Tisch in Türnähe gesessen hatte wie ich an der Bar und auf die Straße rausgespäht hatte, als erwarte er jemanden. Ich überlegte, mich zu ihnen zu gesellen, um mitzubekommen, worum es ging, aber da hatten sie sich schon mit einem Händedruck verabschiedet. Ihr Gesprächsthema überstieg wie so vieles meinen Horizont und war vielleicht Teil der Falle, in die ich getappt war. Schmollend merkte ich, dass ich mal wieder den ganzen Spaß verpasste.

»Phoebe.«

Ich boxte ihn auf die belederte Schulter. »Na, alter Knabe«, sagte ich. Ich merkte, dass ich schon wieder mit meiner präventiven Albernheit anfing. Ich hatte die letzte Nacht in seinem Bett verbracht. Wenn ich mich idiotisch benahm, konnte ich vielleicht verbergen, wie idiotisch ich mich fühlte. »Hast du den Fall gelöst?«

»Nicht ganz.« Ich sah, dass er mein Weinglas musterte.

»Trinkst du einen mit?«, fragte ich.

»Jetzt nicht.«

»Möchtest du wissen, wie’s im Zendo war?«

»Wie war’s im Zendo?«

»Ich hab einen süßen kleinen Feger kennengelernt.«

»Wie bitte?« Heist wirkte angespannt, was mich beruhigte. Ich verlor vielleicht den Glauben an seine Fähigkeiten, aber dafür konnte ich meine Paranoia beschwichtigen. Der sogenannte wilde Detektiv machte weder als Rächer noch als Verschwörer viel her und taugte auch nicht zum Lover; nach ein paar seltsam verheulten Orgasmen würde ich ihn wahrscheinlich völlig vergessen. Wenn ich endlich wieder Internet hatte, wartete wahrscheinlich schon eine Mail von Roslyn auf mich und informierte mich darüber, dass Arabella aus eigenem Antrieb nach New York oder auf den Campus vom Reed College zurückgekehrt war.

»Da war nichts zu finden«, sagte ich. »Nicht mal eine von Leonard Cohens verlorenen Sandalen. Ich sitze hier schon stundenlang.«

»Hast du mit jemandem gesprochen?«

»Nee. Warum?«

»Nur so. Bloß –«

»Du kannst dir nicht vorstellen, dass ich mal zwei Stunden lang die Klappe halte, stimmt’s?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Was ist denn los? Du siehst nervös aus. Hast du nicht gesagt, das wär ’ne Sackgasse?« Aus dem Augenwinkel musterte er die Bargäste, eine von Heists wenigen detektivischen Angewohnheiten, die mir bisher aufgefallen waren. Eine harmlosere Kollektion beschickerter Bergschrate ließ sich aber kaum vorstellen. Nach zwei Stunden Mahnwache und zwei Gläsern Wein gefielen sie mir sogar langsam. Ich war in einer Welt des Backenkrauts gelandet, die nichts mit Williamsburg, Brooklyn, zu tun hatte. Sie ließ Heist in attraktivem Licht erscheinen. Hier repräsentierte er einen adretten jungen Mann aus dem Westen. Und ich verspürte nur einen ganz flüchtigen Drang, diese Herren am Kragen zu packen und Auskunft zu verlangen, wen sie gewählt hatten. Wahrscheinlich hätte ich zu hören bekommen, sie hätten den Namen des jeweils anderen hingeschrieben, wenn sie überhaupt zur Wahl gegangen waren.

»Ich hab auch nicht gesagt, das wäre eine Sackgasse.« Er sprach leise. »Ich glaube, wir sollten weiter hochfahren. Willst du zahlen, und wir reden im Wagen?«

»Okay.«

Ich griff nach dem Portemonnaie, aber er sagte: »Ich übernehm das schon.«

»Echt? Wie galant!« Ich sprach es französisch aus.

»Ich möchte nur nicht, dass du deine Kreditkarte benutzt«, sagte er knapp. Er legte einen Zwanziger auf den Tresen und nahm mich am Arm. Es gefiel mir, wie er mich anpackte, aber draußen machte ich mich los. Wir gingen an meinem Wagen vorbei zu seinem Pick-up, der ein Stück den Hügel hoch auf dem Randstreifen stand.

Wir stiegen ein, aber er fuhr nicht los. Ich sagte: »Was ist los? Du warst da eben doch auch total kontaktfreudig.«

»Mein Gesicht ist hier bekannt, dein Name nicht. Es könnte ratsam sein, keine so deutliche Spur zu hinterlassen.«

»Mir doch egal, wenn die meinen Namen kennen.« Ich widersetzte mich instinktiv seinem Vom-Radar-verschwinden-Bockmist. »Aber apropos, vielleicht sollte ich Brotkrumen streuen.«

»Lieber nicht.«

»Raus mit der Sprache, Herr Detektiv.« Ich versuchte es immer noch auf die spielerische Tour, aber niemand retournierte die Bälle übers Netz. Heist hatte den Wagen noch nicht angelassen, sprach aber mit den Händen am Lenkrad und starrte geradeaus, wahrscheinlich in Richtung dessen, was ihn da oben am Berg beschäftigte. Nach den langen Stunden in der Blockhausbar gewöhnten sich meine Augen nur langsam an den grell reflektierenden Nachmittagsschnee, also senkte ich den Kopf und wartete seine bewusst gesetzten Pausen ab. Im Profil sahen seine absurden Koteletten aus wie der Stehkragen eines russischen Grafen.

»Wenn wir Sage richtig verstanden haben, benutzt Arabella manchmal deinen Namen. Vielleicht auch hier am Berg.«

»Ja und?«

»Hast du mal überlegt, dass sie in irgendwas Illegales reingerutscht sein könnte?«

Da blieb mir kurz die Luft weg. Nicht zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, dass ich vielleicht verloren gegangen war und als die Gelackmeierte dastand. Nur war es jetzt Arabella, die mich umgarnte. Sie hatte meinen Namen vor mir in die Welt reisen lassen, und den Grund dafür konnte ich nur raten. Mein Name hatte vielleicht Dinge erfahren, von denen ich noch nichts wusste.

»Wie meinst du das – illegal?«, hörte ich mich krächzen.

Heist antwortete nicht gleich. Und dann ging er nicht auf meine Frage ein. Er sah weiter auf die Straße und in die immer schräger einfallende Bergsonne.

»Kannst du fahren?«

»Na klar«, sagte ich leicht pikiert.

»Ich würde deinen Wagen nämlich nur ungern hier mitten in der Stadt stehen lassen. Fahr mir mal ein Stück in den Goat Ridge Canyon nach, da gibt’s eine Stelle, wo wir deine Karre parken können.« Der abgedroschene Ausdruck gehörte dermaßen in die Gegend hier, dass ich keine Lust hatte, ihn damit aufzuziehen. Ich war zwar trotzdem drauf und dran, merkte aber, dass ich angesichts seiner düsteren Implikationen sprachlos war. »Dann kannst du bei mir reinspringen, und wir fahren weiter hoch.«

»Gut.«

Er betrachtete meine grünen Wildlederslipper, die vom Steinsalz auf dem Blockhausparkplatz schon angeschmuddelt waren. »Du solltest dich darauf gefasst machen, dass wir ein Stück wandern müssen.«

Ich hatte meine immer noch feuchten Stiefel in einen Schmutzwäschesack aus dem Doubletree gesteckt und im Koffer verstaut, als ich noch vom Check-in am Flughafen Los Angeles geträumt hatte, was jetzt tausend Jahre her zu sein schien.

»Ich buddel meine Stiefel aus.«

»Gut.« Ich kapierte nur langsam, dass er auf mein Aussteigen wartete.

Stattdessen packte ich ihn an der Schulter. »Herrgott, Charles.« Ich spürte ihn unter der Jacke, und er fühlte sich konturierter und interessanter an, als ich gedacht hatte. Ich wollte, dass er endlich von meinen Schuhen hochsah.

»Stimmt was nicht?«

»Sag mir doch endlich, was hier eigentlich los ist.« Ich sagte es herrisch, aber doch ergebnisoffen, falls er irgendwem Diskretion zugesichert hatte. Okay, wäre das Lenkrad nicht im Weg gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich rittlings auf seinen Schoß gesetzt. Ich schwankte wie verrückt zwischen Hohn und Spott einerseits und Lust und Angst andererseits. Entweder war Charles Heist eine Schnarchnase und Witzfigur und sein Berg eine einzige Zeitverschwendung, oder er war ungeheuerlich und unwiderstehlich und plante insgeheim, unter vereisten Felsen über mich herzufallen.

Jetzt sah er mir in die Augen, aber sein Blick war eine Wüste. Ein Leben lang hätte ich hindurchkriechen und um einen Schluck Wasser flehen können. Und seine Antwort – na gut, da hatte ich nichts Besseres verdient: ein müheloser Kompromiss zwischen beidem, was unausgesprochen zwischen uns lag: »Das kann ich noch nicht sagen.«

»Du könntest mir wenigstens sagen, wo du in den letzten beiden Stunden gewesen bist.«

»Das Tageslicht schwindet«, sagte er. »Reden wir, wenn du wieder hier im Pick-up bist.«