Kapitel 17

Vielleicht vierhundert Meter die Goat Ridge Road hoch bog Heist links ab. Hier hatte es nicht geschneit, oder der Schnee war geschmolzen – vielleicht war es die Südseite des Bergs. So viel zu Arabella im Baumwipfel oder dem Irrglauben, der Berg wäre so überschaubar wie seine Darstellung bei Google Earth. Ich folgte einem unbeschilderten Feldweg, der schnell gefährlich steil wurde; genauso schnell tauchte hinter einer Kurve ein Blockhaus auf, das kaum mehr als ein Schuppen war. Die Fenster waren dunkel, und eine Scheibe war zerbrochen.

Heist hielt in einer Spurrille, stieg aus und dirigierte mich in die verwilderte und überwucherte Auffahrt neben dem Blockhaus. Ich steuerte hinein, er ging neben mir her und wies mich ein, bis der Mietwagen von der Straße aus, von der wir abgebogen waren, nicht mehr zu sehen war. Dann setzte ich mich wieder auf die Beifahrerseite vom Pick-up. Heist hatte einen Augenblick abgeknapst, die Plane gelöst, einen Arm daruntergeschoben und wahrscheinlich die unendlich geduldigen Hunde getröstet. Das hätte ich jetzt auch gebraucht. Mir schob er aber nur über die Sitzbank eine Wasserflasche zu, setzte den Wagen dann zurück und fuhr uns wieder zur Straße, die den Goat Ridge hochführte. Im Vergleich zum Feldweg war das geradezu eine Autobahn.

»Du kennst immer so schöne abgelegene Stellen«, neckte ich ihn.

»Die kann man gar nicht alle kennen.«

»Wem gehört das Land hier?«

»Das gehört keinem. Die Forstverwaltung kümmert sich darum.«

»Wessen Blockhaus ist das dann?«

»Jetzt gehört’s grade deinem Wagen.«

»Das ist langsam meine Schmerzgrenze, Charles. Noch ein Zen-Koan, und ich fang an zu bellen.«

Er sah mich seltsam an.

»Red doch mal ordentliches Englisch mit mir, Tarzan, so wie sie’s dir damals im Mädchenpensionat beigebracht haben.«

Heist wusste, wie man ein Versprechen hält. »Sage hat kaum einen sinnvollen Satz von sich gegeben, aber sie hat immer wieder von Chinesen oben auf dem Berg gesprochen. Es gibt da ein Grundstück, das an ausländische Investoren verkauft wurde, bevor man den Berg zum Nationalpark erklärte und alle Schürfrechte zurückgenommen wurden. Soweit ich weiß, sind das Koreaner, keine Chinesen. Sie dürfte kaum die Erste sein, die das verwechselt. Die fielen auf wie bunte Hunde, als sie hier auftauchten, lange Ketten schwarze SUVs und eine private Vermessungsfirma. Die Anwohner hier oben praktizieren ein ›Leben und leben lassen‹. Man kann’s auch Wilden Westen nennen. Die Koreaner haben einen beliebten Wanderweg zum Gipfel mit einem hohen Zaun mit Stacheldraht obendrauf versperrt. Von öffentlichem Wegerecht hatten die anscheinend noch nie gehört. Die Forstverwaltung ließ auf auffällige Weise die Finger davon, sodass sofort die üblichen Gerüchte von wegen Korruption die Runde machten. Man munkelt, dass eine Survival-Bewegung da oben eine Anlage gebaut hat – ein Tiefflieger will da mal eine ganze Reihe von Wassertanks gesehen haben.«

Heist beugte sich beim Fahren und Reden vor. Er sprach so bedächtig wie immer, aber ich hörte einen Nachhall, ja sogar eine Sprachmelodie, als er endlich mal ein paar ganze Sätze formulierte. Sein linker Unterarm lag oben quer auf dem Lenkrad, seine Augen spähten in die Aussicht vor uns, außer in den Haarnadelkurven, wo er sich zurücklehnte und zum Lenken die rechte Hand zu Hilfe nahm. Sonst ruhte diese Rechte auf dem Schaltknüppel, auch wenn ich sie lieber auf meinem Knie gehabt hätte. Der Himmel fing um die Gipfel herum zu glühen an, ein diesiges Gelb unter rötlichen Streifen. Ich bekam viel von Dingen zu hören, die meiner Meinung nach nichts mit Arabella zu tun haben konnten – Schürfrechte? –, aber ich wollte seinen Erzählfluss nicht unterbrechen, auch nicht mit einem blöden Spruch à la »Es kann ja sprechen!«, auch wenn genau diese Entdeckung mein Interesse anstachelte. Und ich schob ihm auch nicht die Zunge ins Ohr.

»Keiner steckt seine Nase hier so schnell in Sachen, die ihn nichts angehen, aber beim Umhören hab ich heute erfahren, dass jemand mit den Leuten von der Anlage eine Vereinbarung getroffen hat, um Zugang zu dem alten Wanderweg zu kriegen. Da sind bei ein paar Leuten die Alarmanlagen losgegangen. Der Berg hat einen gewissen Reiz für Leute, die ihr eigenes Ding durchziehen wollen. Vor allem Eigenbrötler und Einzelgänger, klar.«

Er stockte, löste sich wieder aus dem Hier und Jetzt und widmete sich irgendeinem inneren Horizont. Vielleicht wusste er auch nicht recht, was er mir erzählen konnte, ob ich schlechte Nachrichten verkraften würde.

»Aber auch … Gruppen. Leute, die Rituale vollziehen wollen. Solche Sachen zieht der Berg hier an. Wusstest du, dass auf dem Baldy die Lichtgeschwindigkeit gemessen worden ist? Man hat vom Mount Wilson einen Lichtstrahl auf einen Spiegel hier auf dem Gipfel geschickt und die Zeit gemessen, bis der Strahl zurückkam. Und es ist der einzige Ort in allen fünfzig Bundesstaaten, wo Lapislazuli abgebaut wird. Man kann jederzeit auf fünf Leute in weißen Laken und mit Zweigen im Haar stoßen, die ein griechisches Theaterstück spielen. Wenn du hier wandern gehst, findest du manchmal Obst und Kürbisse in den Bachbetten, manchmal mit bunten Bändern zusammengebunden. Und manchmal Tiere, die anders erlegt worden sind, als Jäger das machen würden.«

Ich klatschte Beifall. »Ich wusste doch, dass irgendwann Tiere auftauchen würden.« Ein dämlicher Spruch, den ich schon bald bereuen sollte.

»Manche von den Leuten, die hier hochkommen, kenn ich. Das sind Ährenleser, so in der Art. Ich bin sicher, dass sie Sage irgendwann aufgesammelt haben, vielleicht auch andere Kids unten aus dem Schwemmkegel. Sie brauchen Statisten, Leute für ihre … Rituale. Vielleicht haben sie auch Arabella aufgelesen.«

»Und du glaubst, heute Abend wird ein solches Ritual vollzogen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber deswegen hast du’s so eilig, stimmt’s?

»Ich möchte keine Zeit vergeuden.«

»Du hast sehr viel Zeit vergeudet, Charles. Du wusstest das alles und hast mir nichts davon gesagt. Warum rufen wir nicht die Polizei?«

»Im Nationalpark gilt Bundesrecht, und so schnell reagieren die Cops nicht auf Anrufe von hier oben. Die kommen manchmal erst nach Tagen. Und schon gar nicht klettern sie den Berg hoch, bloß weil man was im Urin hat.«

»Und du hättest dich deswegen auch nicht hinters Lenkrad geklemmt, oder?«

Darauf ging er nicht ein. Ich hätte ihn ohrfeigen können, aber dabei hätte ich mir an seinen gemeißelten Gesichtszügen und der Stahlwolle seiner Koteletten wohl die zarten Hände verletzt. Stattdessen setzte ich meinen Nancy-Drew-Hut auf. »Die Schürfrechte gelten also für Lapislazuli? Ist das nicht ein Halbedelstein für Kachina-Puppen und so ’n Mist?«

»Für manche Leute geht es dabei um mehr als das. Die alten Ägypter haben den Stein für die Augen ihrer Mumien verwendet, glaub ich. Egal, da oben gibt’s auch Gold und sogar eine Wolframader. Auf dem Baldy ging der Goldrausch mit rund zehn Jahren Verspätung los, und gelegentlich trifft man heute noch Goldwäscher.«

»Wie diese japanischen Soldaten, die nicht wissen, dass der Krieg vorbei ist?«

Er zuckte die Schultern. »Der Krieg ums Gold ist nie vorbei.«

»Bei dir klingt das ja wie der Berg der Verdammten.«

Er reagierte nicht. Entweder hatte ich einen Nerv getroffen, oder ich langweilte ihn. Ich fragte mich, ob ich lange genug durchhalten würde, um das unterscheiden zu lernen.

Aber vielleicht hatte es auch nichts mit meinen Bemerkungen zu tun. Wir hatten eine steilere Steigung und noch eine krankmachende S-Kurve bewältigt und sahen jetzt den Stacheldrahtzaun der jüngsten Legenden vor uns. Die Straße versperrte ein Tor mit Vorhängeschloss, und auf beiden Seiten lief der Zaun über die Felslichtung und verschwand zwischen den Bäumen. Heist legte den Rückwärtsgang ein, setzte ein paar Meter von den ZUTRITT VERBOTEN!-Schildern zurück an den Straßenrand, aber der Pick-up blieb deutlich zu sehen.

»Hast du keine Angst, dass der Wagen gesehen wird?« Aber er hatte den Motor abgestellt, und widerstrebend folgte ich ihm nach draußen. Ich sah, wie er in die Luft schnupperte, hätte aber nicht sagen können, ob das an meiner Frage lag oder andere Gründe hatte. Ich selbst glaubte, leichten Rauch zu riechen, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Meine Ohren hatten geknackt, als wir hochgekommen waren, und vielleicht war der Sauerstoff so frisch, dass er an Rauch erinnerte.

»Sie können nicht gerade die Polizei rufen und mich abschleppen lassen. Und nach allem, was ich gehört habe, sind die Leute, die die Anlage gebaut haben, auch gar nicht immer da, und wenn doch, patroullieren sie nicht unbedingt am Zaun lang. Der ist nämlich ganz schön lang.«

»Du sagst die ganze Zeit ›Anlage‹, als wüsstest du was darüber.« Noch ein Blindgänger. Mein Nachhaken war zunehmend verzweifelt. Ich brauchte eine Rückversicherung, die Heist nicht bieten konnte. Er ließ die Hunde raus, die sofort die Schnauzen durch die erste Öffnung drückten, herabsprangen und in den Schatten der dunkler werdenden Fahrbahn halb verschwanden. Miller und Vakuum ermittelten ordnungsgemäß am Tor mit dem Vorhängeschloss, schnupperten und winselten. Jessie kam mich begrüßen und drückte sich unter meine Hand, und ich stellte mir vor, die Hunde wären Heists Arme und Beine, deren er sich bediente, wenn er mit anderen Mitteln nicht zu mir durchkam.

Heist tastete auf der Ladefläche herum, bis er eine verbeulte Taschenlampe aus rotem Plastik fand, so eine große, für die man acht oder fünfzig Batterien braucht. Als er sie ausprobierte, sah ich überrascht, dass sie funktionierte, und dann wäre es mir lieber gewesen, er hätte sie angelassen, aber nein. Er schaltete sie gleich wieder aus und machte sie an einer Lederschlaufe hinten an seiner Jacke fest, um beide Hände freizuhaben.

»Und wie geht’s jetzt weiter? Hast du einen Bolzenschneider für das Schloss?«

Er deutete mit dem Kinn zur Baumgrenze. »Da sollte eine Lücke sein, sagen die Eingeweihten.«

»Und du gehörst nicht zufällig zu denen, oder? Das ist alles nur so Gerede, das du heute Nachmittag zufällig aufgeschnappt hast?« Ich konnte es nicht lassen, ihm mit meinen eigenen Ängsten zu kommen. Wenn Heist selbst zu den Ährenlesern gehörte, hatte er mich gut gelesen.

»Ich bin hier ein paarmal langgegangen, bevor der Zaun hochgezogen wurde. Hinter der Umgehung sollte es weitergehen.«

Er hatte natürlich recht. Nach ein paar Dutzend Metern durch Wald und Unterholz gab es eine Bresche im Zaun der Koreaner, er war unterhöhlt, ähnlich dem Zaun, der den San-Antonio-Schwemmkegel vom Foothill Boulevard trennte. Es war nicht schwer, sich unter ihm hindurchzuwinden. Den Stacheldraht weit oben konnte man ebenso ignorieren wie das, was er implizierte. Schon nach wenigen Metern, die oben durch abgeknickte Zweige und unten durch Fußspuren im feuchten Laub gekennzeichnet waren, kehrten wir dann auf die Lichtung zurück und entdeckten einen gut ausgetretenen Pfad, der vom Zaun und der Pflasterstraße weg und in den Wald hoch führte. Die Hunde untersuchten alles für uns und sprangen vor uns auf dem Weg hin und her.

»Vor dem Wind sind wir geschützt«, sagte Heist. »Dafür wird es dunkler.«

»Vor welchem Wind?«

»Die Sonne geht unter. Außerdem zieht ein Sturm auf, in den wir reingeraten könnten.«

»Wer braucht den Wetterkanal, wenn er unter Wölfen aufgewachsen ist, hm?«

»Genau«, sagte er so direkt, dass ich mich schämte. Danach schwiegen wir eine Weile. Ich musste aufpassen, dass ich beim Klettern nicht außer Atem kam und nicht an Wurzeln und Steinen hängen blieb. Irgendwann saß ich in meinem eigenen Schädel fest, einem kleinen Diorama mit Heist und mir als Puppen in einem kleinen glänzenden Airstream und einer zusätzlichen Arabella-Phoebe, die in einiger Bedrängnis draußen unterwegs war. In meiner überspannten Fantasie verschmolz sie langsam mit mir, was kein gutes Zeichen war.

Dann packte mich Heist abrupt am Arm, und ich merkte, dass er mich vor einem Sturz bewahrt hatte. Wir blieben auf dem Weg tief im Wald stehen, auf halbem Weg ins Nichts – zumindest hoffte ich, dass wir die halbe Strecke hinter uns hatten. Die Hunde hielten sich teilnahmsvoll in der Nähe.

»Hast du heute schon was gegessen?«

»Ein Hefeteilchen im Doubletree.«

»Da kommt gleich eine Stelle, wo wir Pause machen können.«

»Ich bin froh, dass du auf mich aufpasst.« Es war erst sarkastisch gemeint, aber auf dem Weg zu den Stimmbändern verlor die Bemerkung den Sarkasmus; so wie bei manchen Pistolen ein Gänseblümchen aus dem Lauf kommt, wenn man den Abzug durchzieht.