Kapitel 18

Er legte mir die Hand ins Kreuz, gab mir einen Kuss auf die Stirn, und ich schwöre, ich wäre fast gekommen. Vielleicht lag es an der dünnen Höhenluft – wenn ich in die Zivilisation zurückkam, sollte ich mich vielleicht mal mit erotischen Atemkontrolltechniken beschäftigen. Heist hielt mich einen Augenblick fest und dachte wohl, er hätte mich vor einer Ohnmacht bewahrt. Hatte er vielleicht auch.

»Wir sollten weiter«, sagte er unendlich sanft.

»Unbedingt.«

Der Rastplatz war eine Blöße auf einem ausladenden Felsen, der sich unter unseren Füßen aus dem Nichts zu bilden schien. Am oberen Rand der Blöße, bevor der Weg wieder im Schutz des Waldes verschwand, warf der Dreiviertelmond sein Licht hinter einer Wolkendecke hervor und mischte es auf malerische Weise mit den letzten Resten des Sonnenuntergangs. Darunter ein Zollbreit Horizont und dann das Strasshalsband der Außenbezirke im Tal, die Nebel einhüllte. Heist deutete aber noch tiefer.

Unter unseren Füßen schlängelte sich die Straße in den Blick, die der Zaun blockiert hatte. Jenseits der Wipfel ragten zwei zeppelinförmige Metallstrukturen auf, jede mit einer Reihe von Dichtungen oder Nippeln bekränzt und mit einer winzigen Leiter, um der Masse die verzwergte menschliche Perspektive beizugeben.

»Sind das die Wassertanks?«

Er nickte. »Deswegen nenne ich es eine Anlage.«

»Wie beispielsweise zur Vorbereitung auf den Weltuntergang.«

»Wenn du so willst. Es ist jedenfalls ein verteidigungsfähiges Gelände.«

»Aber wir sind reingekommen.«

»Wir sind nicht die Einzigen.«

»Wie meinst du das?«

»Die Zeichen häufen sich. Schau dir bloß die Hunde an.«

Für mich hatten sie wie ganz normale Hunde ausgesehen – sie waren erregt, schnüffelten und schissen überall hin. Aber ich glaubte ihm aufs Wort: Wir hatten Gesellschaft, oder zumindest war dieser Weg kürzlich begangen worden. Aber ich hatte ihm ja schon lange alles aufs Wort glauben müssen.

»Du kennst diesen Berg, Charles.«

»Ein bisschen.«

»Mehr, als du zugegeben hast. Deine Ablehnung dieser Anlage ist keine vorübergehende Angelegenheit. Du nimmst das persönlich.«

»Wieso?«

Er hätte es mir kommentarlos durchgehen lassen können, aber ich war ihm dankbar, dass er mir erlaubte, den Nancy-Drew-Werkzeugkasten rauszuholen. »Ich hab’s an Kleinigkeiten gemerkt. Dein übertriebener Stolz auf Lapislazuli und Wolfram. Und dass du wusstest, dass diese Lichtung vor uns lag.«

»Wie gesagt, ich war nicht mehr hier oben, seit der Zaun gebaut worden ist.« Man hörte ihm nicht an, ob er in die Defensive ging.

»Dann ist es umso beeindruckender, dass du dich noch so gut erinnerst.«

Er schwieg einen Augenblick. »Wenn du verschnauft hast, sollten wir zur Spitze weitergehen.« Er zeigte auf den Weg, der jetzt ein dunkler Tunnel geworden war. Auf die Taschenlampe hatte er noch nicht zurückgegriffen, aber das war nur noch eine Frage der Zeit. Die Hunde warteten sein Einsatzzeichen ab und huschten dann in den Schlund. Hier auf dem Felsvorsprung war es empfindlich kalt, und der Wind frischte auf, ganz wie er vorausgesehen hatte. Ich war nach meiner Orgasmacht oder wie man das nennen wollte wieder zu Atem gekommen und hatte nichts dagegen, in den Schutz der Bäume zu kommen.

»Gib mir die Hand«, sagte ich, und er reichte sie mir. Er hielt mich fest, bis wir die Spitze dieser seltsamen Gegend erreicht hatten. Das Mondlicht, der letzte Rest Tageslicht in den oberen Luftschichten und seine Hand reichten mir, auch wenn ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte. Aber dem war ja noch nie viel abzulesen gewesen. Ich bettelte nicht um die Taschenlampe, aber ich wollte seine Stimme hören.

»Charles? Warum bist du damals vor dem Zaun hier hochgekommen?«

»Aus verschiedenen Gründen. Zum einen bin ich teilweise an diesem Berg aufgewachsen.«

»Deine Eltern haben dich auf diesen Wegen frei herumlaufen lassen?«

»Es ging weniger darum, was irgendwelche Eltern mir erlaubt oder verboten haben. Ich hab’s einfach gemacht.«

»Und weiter?«

»Weiter erzähl ich später.«

Ich hielt mich an dem später fest – dass es eines geben würde. Das war alles, was ich brauchte. Vielleicht konnte ich mich an das Leben in Heists Wüste gewöhnen; wenn man genau hinsah, hatte sie immerhin Fauna und Flora, und vielleicht fand sich in diesem öden Ökosystem ja ein Plätzchen für mich.

Wir waren wieder in der klirrenden Kälte unterwegs, wo nichts geschmolzen, sondern allenfalls weggeweht worden war oder aber gar nicht erst den Weg durchs Wipfeldach gefunden hatte. Die knirschende Schicht schimmerte im Mondlicht. Der Schnee wurde von unseren Schuhen zusammengedrückt, außer an den Stellen, wo schon deutliche Stiefelabdrücke zu sehen waren. Die Stiefelspitzen zeigten sowohl den Hügel hoch als auch runter – ich gratulierte mir dazu, als Fährtenleser in die Gemeinschaft der Hunde aufgenommen worden zu sein. Ich bildete mir allerdings nicht ein, ihr Niveau zu haben.

Als wir auf die nächste Lichtung kamen, spürte ich das. Heist ließ meine Hand los. Die Taschenlampe brauchten wir noch immer nicht. Die weite Lichtung wurde auf allen Seiten von dunklen Bäumen gesäumt, und wo der Weg weiterführte, war nicht eindeutig zu erkennen. Wir hatten den Gipfel noch längst nicht erreicht, aber er war jetzt eindeutig ein Ziel, unser Ziel. Der Mond erhellte den Schnee und uns, und der Schimmer war kaum zu ertragen, nachdem sich unsere Augen an die Dunkelheit des Baumtunnels gewöhnt hatten, ein Nacht-Tag-Wechsel, den man im Kino unecht gefunden hätte. Die Handlung bestand aus Fußspuren. Die Ermittlung brauchte keine Hunde und keine Nancy Drew mehr. Jedes Kind hätte den Weg zum Ritualzentrum des Schneefelds gefunden, die mit Steinen eingefasste Grube. Heist und ich gingen darauf zu, aber die Hunde waren schneller, und als sie sie erreicht hatten, fingen sie an zu winseln. Ich hatte das dunkle Loch für eine erkaltete Feuerstelle gehalten, bis ich so nahe herankam, dass ich die Höhlung erkennen konnte. Als Heist hineinsprang, verschwand er bis zur Brust. Vakuum und Miller fingen an zu bellen. Jessie kam zu mir zurück. Ich legte ihm die kalten Finger auf den Kopf und stapfte wie hypnotisiert zum Rand der Grube.

Das Paar lag eng umschlungen da. Auf der Suche nach Wärme, sagte ich mir, denn unter ihren Fellkostümen hatten die beiden nicht viel an. Das war jedenfalls mein erster Eindruck. Sie umarmten einander und nahmen keinerlei Notiz von uns, so ausgekühlt und hilflos waren sie da in ihrer Grube, sie in ihrem albernen Kaninchenfellkostüm, der zu großen Kapuze mit den Pelzohren, er im dazu passenden Bärenkostüm. Beider Hände und Füße waren mit überdimensionierten Pfoten versehen, und Brustkorb und Schrittpartien waren ebenfalls fellbedeckt, aber ihre verflochtenen Glieder waren entblößt und nur stellenweise schlammbeschmiert, was auf ihren mondlichtfahlen Armen ein seltsames Helldunkel erzeugte.

Ich malte mir schon verzweifelt aus, wie viel Anstrengung es kosten würde, diese unreifen Teenager aus dem Loch herauszuholen, ihnen zu erklären, dass sie gerettet waren, und ihnen vom Hügel herabzuhelfen, als ich sah, dass das, was ich für Schlamm gehalten hatte, dunkelrot war, eine Art geronnene, gefrorene, kirschrote Sülze, die unter den Kapuzen verklumpte. Man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Heist war zusammengesackt, lehnte an der Grubenwand und schluchzte jämmerlich. Sein Atem ging stoßweise. Miller sprang in die Grube, und Vakuum folgte ihm. Miller leckte Heist das Gesicht ab, Vakuum die Gesichter der Toten unter den Kapuzen, den Bärenjungen und das Kaninchenmädchen, und dann bediente sich Vakuum bei der Sülze und verschmierte sie um seine Schnauze. Ich schaffte noch den Gedanken, dass dieser atavistische Kummer leicht übertrieben war, bevor ich von der Grube zurückwankte, mich abdrehte und Galle und Merlot in den Schnee würgte.

Das Jaulen holte mich zurück. Ich glaube, Heist fing damit an, erst ein tiefes Klagen, in das sich dann Hundebellen mischte, bis es nach einem gemischten Barbershop-Werwolf-Chor klang. Es dauerte nicht lange, aber ich kam doch erstaunt wieder auf die Beine, wischte mir den Mund am Mantelärmel ab, rieb mir Eis und Sand von den Handflächen, und dann zog ich den Reißverschluss meines Mantels so weit auf, dass ich mit den Händen in den Achselhöhlen Wärme suchen konnte. Davon abgesehen war mir warm, oder ich war so betäubt, dass ich nicht merkte, wie kalt mir war, aber meine Hände fühlten sich jedenfalls erfroren an.

»Phoebe«, sagte Heist aus dem Loch heraus.

»Was denn?«

»Du musst sie dir ansehen.«

»Hab ich schon.«

»Ist sie es?«

Ich protestierte stöhnend. Sie war es nicht, und wenn doch, wollte ich nicht hinsehen.

»Du musst sicher sein.«

Ich kroch hin. Jessie legte sich neben mich. Heist stand neben dem Kopf des Kaninchens, zog die Kapuze zurück und zeigte ihr Gesicht dem Mond, ersparte mir aber den Anblick der aufgeschlitzten Kehle.

»Nein.«

»Bist du sicher?«

Sie war blond, hatte schmale Lippen und leere Augen, die einer anderen. Das vermisste Mädchen eines anderen Menschen, das zerstörte Kind eines anderen Menschen in einem Loch, zurechtgemacht als Ritualkaninchen.

»Das ist nicht Arabella.«

»Okay.«

Der Mond kannte so wenig Gnade wie die Sonne. »Bring mich hier weg.«