Kapitel 21

Ich war seit fast einer Stunde mit Lorrie zusammen und sammelte Wüsten-Beifuß für das Abendfeuer. Das Zeug lag nicht einfach herum, sondern musste von den trockenen Unterseiten der lebenden Pflanzen abgeknickt werden, verdrehten, grauen, skelettartigen Dingern, die ihre Lebendigkeit nur durch den Unterschied zwischen den trockenen Zweigen und denen bewiesen, die Widerstand leisteten, sich bogen und zurückschnellten. Es bedurfte einer gewissen Kunstfertigkeit, und ich wurde langsam besser.

Lorrie hatte wohlweislich darauf bestanden, dass ich ihren Ersatzhut aufsetzte, einen schlappen Sonnenhut, dessen Geflecht mir über die Ohren hing. Jenseits seiner Ränder knüppelte die Sonne trotzdem auf mich ein. Sie hatte ihren brutalen Hochsitz direkt über uns aufgegeben und wanderte zu dem niedrigen Gebirgskamm der bloßen Felsen in der Ferne. Der Wind war wieder aufgefrischt. Ich sah wieder auf mein Smartphone, das kein Telefon mehr war, sondern nur noch eine Uhr und vielleicht ein glitzernder Talisman, das Überbleibsel eines untergegangenen Lebens oder einer früheren Welt. Als ich das zum dritten oder vierten Mal machte, sagte Lorrie: »So erreichen sie dich hier draußen nicht.«

Ich hatte von Heist schon einiges über die beiden Stämme erfahren, die Bären und die Kaninchen. Lorrie war ein Kaninchen. Inzwischen hatte ich acht oder neun von ihnen kennengelernt, Frauen und ein paar Männer, alle sonnenverbrannt, sehnig, arbeitsam und kryptisch, würde ich sagen. Rätselhaft.

Heist hatte mich wieder verlassen, eine Demütigung, die an mir nagte, aber Lorrie hatte das nicht mitbekommen. Sie war freundlich zu mir gewesen, ohne sich im Mindesten anmerken zu lassen, ob sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank hatte. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf, sie aus der Reserve zu locken.

»Nein? Wie denn dann?«

»Hier draußen verwenden sie Kondensstreifen.«

»Kondens-was?«

Sie hob die Vorderseite ihres Huts an und zeigte in den Himmel. Passenderweise – oder hatte sie das vorher gemerkt? – hing noch der geschwungene weiße Kondensstreifen eines Düsenjets im von dahinhetzenden Wolken durchzogenen Äther. Das Flugzeug war längst verschwunden. Wenn eine Flugreisende, die meinetwegen wie ich neulich von New York nach Los Angeles unterwegs war, einen Blick hinabgeworfen hätte, hätte sie nur unwirtliche Bergrücken gesehen, zerfurchte plastische Leeren. Den Mars. Nie im Leben hätte sie zwei sonnenverstrahlte Frauen bemerkt, die wie Bäuerinnen bei Brueghel Feuerholz sammelten, und schon gar nicht hätte sie unsere düster gedehnten Schatten erkennen können, Flecken zwischen Felsen und Salbei – den Pflanzen, Vögeln, Steinen und Relikten, die diese Wüstenei übersäten.

»Kondensstreifen«, sagte Lorrie wieder.

»Wer sind ›sie‹?«

»Du weißt schon, alle, die mit Strahlung oder Werbung in deinen Körper wollen.« Sie deutete wieder auf mein Handy.

»Ich wollte eigentlich meine Mom anrufen.« Gut, in Wirklichkeit hatte ich an eine andere Mom gedacht. Ich wollte Roslyn Swados anrufen, ihr sagen, wo ich war, was ich immer noch vorhatte und dass ich hier draußen suchte. Entweder das, oder ich knipste Lorrie und ihr Feuerholz und schickte das Foto an Roslyn als MMS. Was Moms anging, konnten sich Arabella und ich bei mir im Kopf vorläufig ruhig weiter vermischen. Das war besser, als mich mit Lorrie gleichzusetzen, was Heists Option gewesen war, als er mich hier verklappt hatte.

»In der Regel sind wir hier draußen unsere eigenen Moms. Aber wenn du willst, kann ich deine sein.«

Damit dürfte das »durchgeknallt« ja einigermaßen klar sein, dachte ich. Aber ich wollte, dass sie weiterredete, denn auch die Stimme einer Wahnsinnigen kann die Leine sein, die einen an das Menschliche bindet, und ich war hier draußen schon ziemlich am Rand der Dinge.

»Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«, fragte ich. »Mit deiner Mom, meine ich.«

Lorrie zuckte die Schultern. Das war ein Blindgänger. Stattdessen zeigte ich zum Kondensstreifen hoch.

»Und was erzählt dir der?«

»Nur, dass alles weitergeht, dass sie weiterheucheln, dass die Bomben noch nicht abgeworfen worden sind, dass sie nicht mal versuchen, die Frage zu beantworten, wie alles weitergehen soll, und nichts tut ihnen leid, und unsere Aufgabe ist es, das alles zu bezeugen und an unserem sterbenden Planeten festzuhalten. Ich glaube nicht, dass ich alles erklären kann, was er sagt, aber das wäre mal ein Anfang.«

Wir hockten im Sand, ruhten aus und musterten den Himmel, und ich kam ins Schleudern, als Lorrie plötzlich die Shorts runterzog und auf den Boden pinkelte. Das Rinnsal bahnte sich seinen Weg durch Fels und Sand in eine winzige Schlucht und verdampfte zusehends wie Wassertropfen an einer trocknenden gusseisernen Pfanne.

»Aber das ist keine persönliche Nachricht.« Ich wusste, dass ich wieder das Arschloch gab. »Nichts à la ›Lorrie, nach Hause telefonieren‹.«

Sie sah mich mitleidig an. »Es tut mir leid, dass du so verletzt worden bist.«

»Mir auch.«

»Irgendwann wirst du die Menschen im System loslassen. Das ist ein Trauerprozess.«

»Ich steh nicht so auf Prozesse, mehr auf plötzliche Eingriffe. So wie Botox-Injektionen oder Fettabsaugungen.« Ich hatte das Gefühl, ich könnte Lorrie alles sagen, aber nicht auf gute Weise. »Noch vor ein paar Wochen hab ich beispielsweise mitten im Gehirn des Systems gearbeitet und dem System geholfen, über sich nachzudenken. Ich war praktisch die Freundin des Systems.«

»Wow.«

Ich konnte nicht so lange dahocken wie Lorrie und kippte auf Hintern und Hände zurück. Ich musste keiner frischen Urinlache ausweichen und war sowieso schon von Sand und dem ganzen durch die Luft wehenden Wüstendreck bedeckt. Wir starrten beide weiter in den Himmel. Da fällt mir ein, ein Leitartikel in der New York Times hatte einiges mit einem Kondensstreifen gemeinsam, wenn man sich ihren erhabenen Hochsitz so anschaute.

»Ja, das ist ganz schön abgefahren«, sagte ich. »In der einen Minute bin ich noch Frau System, dann treff ich Knall auf Fall ein paar Hunde und ein Opossum, und schon sitz ich auf einmal mit euch da. Den Kaninchenleuten. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich das sage?«

»Nein, so nennen wir uns ja selbst.«

»Und hier bin ich, wie gesagt.«

»Instant Karma nennt man das.«

»Irgendjemand hat’s jedenfalls so genannt.«

In dem Augenblick erschrak ich, weil von hinten jemand auf mich zukam. Ich hatte die isolierende Kargheit der Mojave für absolut gehalten, und die Feststellung, dass Lorrie und ich in unserer Kondensstreifentrance nicht allein waren, versetzte mich in eine Art Traum, als hätte sich der Raum gefaltet, um ein Portal zu schaffen.

»Ladys.«

Es war Anita. Das große Chefkaninchen, mit dem sich Heist hatte treffen wollen, als wir ins Kaninchendorf gestolpert kamen. Anita hatte dann die Dinge gesagt, die Heist veranlasst hatten davonzulaufen, noch tiefer in die Wüste hinein. Anders als Lorrie wusste sie, dass ich verklappt worden war, von daher schämte ich mich wieder. Sie war schon älter, wach und hager wie die anderen Frauen, aber mit einer herrlich vollen weißen Mähne und der Haltung und dem Auftreten einer Filmschauspielerin, die ihr Alter nicht mehr kaschierte.

Sie trug ein T-Shirt von den Meat Puppets und eine Turnhose, und ihre Füße steckten in weiten, erdverkrusteten Stiefeln. Ich hatte sie schon in einem weißen, priesterlichen Gewand gesehen, in dem sie sich, wie ich erfuhr, um die Wüstenbienenstöcke kümmerte – Anita war Imkerin. Sie hatte Lorrie angewiesen, mich zum Holzsammeln mitzunehmen, also hätte mich ihr Auftauchen nicht weiter überraschen sollen. Nur hatte ich das Gefühl, wir wären seit der ersten Begegnung kilometerweit gelaufen und auch der Rückweg würde kilometerlang – aber vielleicht waren wir ja auch im Kreis gelaufen, denn meinem inneren Kompass war in dieser Gegend sowieso nicht zu trauen. Okay, dem traute ich auch nicht, wenn ich in Manhattan aus einem U-Bahnhof der Linie F trat.

»Vielleicht solltest du ihr weniger von Kondensstreifen erzählen, Lorrie, und mehr über Klapperschlangen.«

»Klapperschlangen?«, sagte ich, und meine Hände zuckten hoch. Wie lange hatte Anita schon dagestanden und zugehört? Oder kannte sie einfach nur Lorries fixe Ideen? Hier draußen hatte man wahrscheinlich jede Menge Zeit, sich auf den geistigen Horizont seiner Mitkaninchen einzustellen.

»Sie nimmt dich auf den Arm«, sagte Lorrie. »Die meisten davon machen jetzt Winterschlaf.«

»Ich wusste gar nicht, dass Klapperschlangen Winterschlaf machen.«

Anita faltete die Hände und schirmte ihre Augen ab. »Sie drängen sich zu großen Haufen zusammen und suchen Wärme. Wir leiden zwar an Vorzeichen und Omen, aber in der Hinsicht hat Lorrie recht. Andererseits ist nichts sicher. Eine so strahlende Sonne kann schon mal ein hungriges verwirrtes Jungtier hervorlocken.«

»Na toll«, sagte ich.

Anita bückte sich und hob meine Beifußzweige auf. Sie hätte zu diesen älteren Frauen gehört, die in Yogakursen das Niveau aufs Unerreichbare anhoben – für mich immer ein Grund aufzuhören. Sie sprach wieder Lorrie an. »Ich nehm Phoebe mit zurück. Wenn du fertig bist, kannst du Feuer machen.«

»Okay«, sagte Lorrie. Sie war vielleicht quietschdebil, vom Radar verschwunden und hörte auf Kondensstreifen, aber Anita war das Chefkaninchen, und da hoppelte sie nicht aus der Reihe.

Anita und ich ließen Lorrie zurück und gingen ins Unbestimmte, vielleicht in die Richtung, aus der sie gekommen war, vielleicht auch nicht. Für sie war die Anordnung der Felsformationen vielleicht informativ, aber für mich war es eine planetare Hieroglyphe. Sie hatte mich in der Hand – wenn sie irgendwo eine Grube gebuddelt hatte und ein Häschenkostüm auftrieb, steckte ich knietief in der Scheiße.

»Ich möchte dir zeigen, wo du schlafen kannst, wenn es dunkel wird«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob er vor morgen zurückkommt.«

»Okay«, sagte ich nach Kaninchenart. Es tat zwar weh, dass Anita wusste, dass Heist mich wie einen Käfer von seiner Jacke geschnippt hatte, aber ich spürte die schroffe Güte, mit der sie darüber hinwegging.

»In der Neptune Lodge gibt es ein freies Bett, und man kann die Tür hinter sich zumachen.«

Neptune Lodge? Den Namen hörte ich zum ersten Mal. Aber ich sagte mir, dass das wohl die Luxusunterkünfte waren – eine Tür, die sich zumachen ließ, ich fress ’n Besen! Zwischen diesen Wüstenratten fühlte ich mich wie die Prinzessin auf der Erbse. »Das weiß ich zu schätzen.«

Anita lächelte auf ihre eingefrorene Art und sagte: »Ich hätte nicht gedacht, dass er überhaupt noch mal zurückkommt.«

Sie musterte mich, als hätte sie etwas gefragt. Was sollte ich sagen? Lady, da draußen in der Wirklichkeit, wo Transaktionen in anderen Währungen als Feuerholz abgewickelt werden, habe ich ihn für seine Dienste bezahlt? Hatte ich allerdings gar nicht. Schatz, ich hab ihm den Schwanz gelutscht?

»Ich glaub, er hat das für dich getan.«

Er hat das für dich getan. I do it all for you, Baby. Ich schloss die Augen und spürte die sinkende Sonne auf den Lidern. Wie lange konnte ich mit geschlossenen Augen neben Anita herstiefeln? Dann verstand ich plötzlich, dass es ganz einfach war: Wir gingen in Richtung Westen. Manche Dinge organisierten sich auf traditionelle Weise, wie zum Beispiel, dass die Sonne im Westen unterging. Männer taten Dinge für Frauen und verschwanden dann, und die Frauen diskutierten sie. Vielleicht drehte ich hier in der Wüste durch. Vielleicht war das hier die Erfahrung der Leere, die Stephanie mir prophezeit hatte. Die nächste in einer ganzen Reihe. In Sachen Umgang von Männern und Frauen miteinander hatte mein Vater mich mit Schwarz-Weiß-Filmen auf VHS zwangserzogen, nichts als Musicals und romantische Komödien und allesamt leichter als Luft (meine Mutter hatte sich in der Küche derweil in einen Film-noir-Nebel gesoffen). Ich hatte mein Leben lang darauf gewartet, dass mein Herz im Sturm erobert wurde. Ein Songfetzen fiel mir ein, der nie weit weg lag: A fine romance, with no kissing …

»Die Bären sind gefährlich geworden.«

»Tja nun, ich glaube, das hab sogar ich geschnallt.«

»Sie sind auf neue Weisen gefährlich geworden. Ich hab versucht, ihn zu warnen.«

»Das hat er bestimmt verstanden.«

»Gefährlich gerade für ihn, meine ich.«

Ja, wollte ich sagen, das ist alles meine Schuld. Damit konnte ich eher etwas anfangen als mit dem Gegenteil: dass das alles nichts mit mir zu tun hatte. Mit geschlossenen Augen hielt ich Schritt und ging in die Sonne.

»Es gibt noch einen Grund, warum ich dich zur Neptune Lodge bringen möchte«, sagte Anita. »Ich möchte dir etwas zeigen. Charles hab ich nichts davon gesagt. Aber ich habe das Gefühl, ich kann dir vertrauen. Ich hoffe, ich irre mich nicht.«

»Das hoffe ich auch. Was möchtest du mir denn zeigen?«

»Wir haben einen Downer.«

»Was ist ein Downer?«

»Ein kranker Bär.«

»Und was macht ihr mit dem?«

»Wir pflegen ihn natürlich gesund. Wenn’s ihm dann besser geht, können wir ihn umbringen.«