Von den vielen utopisch gesonnenen Hippiehorden, die es in den späten Sechzigern in die Wildnis getrieben hatte, hatten die wenigsten länger als einen, höchstens zwei Winter überdauert. Die meisten hatten sich aufgelöst, in ideologischen Grabenkämpfen aufgerieben, durch Geschlechtskrankheiten, Parasiten, Hunger, Eifersucht und schlichte Unkenntnis der einfachsten Grundlagen des Überlebens in der Wildnis. Die Viscera Springs Ranch war eine zähe Kommune, wenn auch nicht gerade mit Intelligenz oder Dusel gesegnet. Ihrer Gruppe wurde das ganze Menü serviert – Ideologie, Filzläuse, Hunger –, aber sie hielt durch.
Die Gruppengröße sank von Jahr zu Jahr, bis nur noch ein Kern übrig war, der sich an Widerstandskraft, Traumtänzerei oder Verzweiflung nicht mehr überbieten ließ. Dann stieg sie wieder an, als Gerüchte eines Refugiums in der Wüste Menschen anlockten, die vom Stand der Dinge in Städten, Universitäten oder revolutionären Zellen desillusioniert waren. Irgendwie hielten sie durch und überstanden die brutale Sonne der Mojavewüste und den Wassermangel. Die »Quellen«, nach denen das Bergarbeiterlager hieß, für das sie ihr Geld zusammengelegt und das sie schließlich für einen Appel und ein Ei erworben hatten, entpuppten sich nämlich als schwefelhaltige Rinnsale.
Das Schnäppchen erwies sich als der eigentliche Todesstoß: Nach sieben Jahren stellte sich heraus, dass sie betrogen worden waren. Die Gruppe hatte die Schürfrechte eines früheren Inhabers erworben, sonst nichts. Damit gingen weder Rechte auf das Bewohnen, Expandieren oder Bebauen einher noch auf Kiffen und Gruppensex in den schattigen Höhlen, was die älteren Goldsucher sowieso nur in Verlegenheit brachte. Rein technisch gesehen, hatten sie nicht einmal das Recht, dort zu übernachten, und dieses Recht war sowieso nicht übertragbar. Selbst das Land, auf dem sie ihre Tipis und die Hütten aus Lehm und Flechtwerk errichtet hatten, gehörte nicht ihnen, sondern einer Holding des BLM – des Bureau of Land Management.
Das BLM war es auch, das der Viscera-Springs-Schar, den übrig gebliebenen sechzig oder siebzig Männern, Frauen und Kindern, erklärte, sie sollten verduften. Das war 1974. Charles Heist war erst sechs Jahre alt, als die Kommune aus ihrer Fantasie einer »Heimstatt« in der Wüste vertrieben wurde, aber für ihn schien der Einschnitt noch frisch zu sein. Ich könnte mir denken, dass er erst dadurch zu seinem eigentümlichen Leben erweckt worden war. Etwas von dem außergewöhnlich wachen Kind muss aber schon vorher in ihm gesteckt haben. Etwas von dem Detektiv, der Indizien sammelt. Der irgendwie verwundete und doch unwehleidige Charakter, der zielstrebige, geduldige, fremdbestimmte und manchmal einfach nur wütend machende Depressive, auf den ich im Büro am Foothill Boulevard gestoßen war, musste schon im Bau gewesen sein, lange bevor die Viscera Springs Ranch sich aufgelöst hatte oder explodiert war und sich in zwei Stämme aufgespalten hatte: Kaninchen und Bären.
Ein paar Tatsachen um Heists Geschichte herum ergänzte ich später online, als ich ein paar Minuten Zeit und wieder Internetzugang hatte – zufälligerweise in einem Flugzeug. (Spoileralarm: Mindestens einmal werde ich im Lauf dieser Geschichte noch ein Flugzeug besteigen. Mindestens noch einmal in meinem Leben.) Der nützlichste Link war der zur Dissertation eines Soziologen in Berkeley: Ein Ort war unsere erste Idee: Orale Schilderungen von Red Bear, Breath Ranch, Eveningstar und Viscera Canyon. Nichts stand in Widerspruch zu Heists Erzählung, aber wie es nach 1974 weiterging, fand dort kaum einen Niederschlag.
Also: Einige verdufteten. Andere verschanzten sich erst recht und vertraten die Ansicht, sie wären während des ganzen Experiments Besetzer gewesen, ohne es zu wissen – warum also nicht wissentlich so weitermachen? Der Planet war riesig und ganz besonders der Teil, in dem sie sich verloren hatten. Praktisch überall in dieser Landschaft standen verlassene Baracken, und wo keine Baracken standen, gab es Trailer, Schuppen und Höhlen. Menschen mit einem Hang zum Nomadentum mussten selten überhaupt etwas bauen. Sie waren an keine Parzellen gebunden, weil sie keinen Ackerbau betrieben, nicht im Wüstenhochland. Sie lebten von fast allen anderen Mitteln, waren Sammler, Jäger und Händler. Wer sich noch auf die Geldwirtschaft einließ, konnte Drogen kochen, den eigenen Körper verkaufen, bei der Tauschbörse auf dem Gelände des alten Drive-in-Kinos abgestaubte Bakelit-Artefakte verkaufen oder in die Städte zurücklaufen und Häuser putzen oder an Straßenecken betteln. Andere lösten bei Western Union klammheimlich Mitleidsschecks ein und kehrten dann in Strandbuggys voller Säcke mit Trockenbohnen und Mehl zurück. Wieder andere verabschiedeten sich von allen Formen nichtpsychischer Ökonomie, machten einen Bogen um Straßen und Handelsposten und lernten, sich monatelang von nichts als Träumen, Wolken und Klapperschlangen zu ernähren.
Diejenigen, die sich verschanzten, weiterhin mit ihren Tipis umherzogen, Zusammenkünfte abhielten und ihr Essen mit der ganzen Runde teilten, wurden Kaninchen genannt. Die Kaninchen waren Frauen und Kinder sowie die Männer, die, ob sie die Kinder nun gezeugt hatten oder nicht, die Existenz von Kindern als Verbindlichkeit ansahen, als eine Art Festlegung auf eine neue Welt, deretwegen sie ja überhaupt in die Wüste gezogen waren. Da die Kinder Kinder waren, rannten sie wild durch die Gegend, kehrten nachts aber grundsätzlich in die Behaglichkeit der Runde zurück und schienen damit das tief sitzende Bedürfnis des Menschen nach einem Heim zu bezeugen.
Die anderen, die in die höheren Regionen abgehauen waren, in die dunklere Wildnis, und immer seltener zu den rituellen Feuern zurückkehrten, um etwas von dem abzugeben, was sie da draußen gefunden hatten, wurden Bären genannt. Die Bären waren Männer.
»Von denen hab ich schon gehört«, witzelte ich Heist gegenüber. Er hatte lange erzählt und seine Welt ausgemalt, und manchmal schien er sich in sie zurückgeträumt zu haben. Ich wollte ihn in unsere zurückzerren. »Für solche Bären gibt es Websites, die behaarten Menschlichen, die Sex miteinander haben.«
»Am Anfang hießen sie eigentlich Bärentöter«, sagte er und überhörte meine Kaspereien. »Nicht Bären. Der erste König der Bären, ein Mann namens Howard Burkhardt, war in den Norden gegangen, hatte einen erlegt und Teile von ihm auf einem Strandbuggy zurückgebracht. Manche Bären trugen die ungenießbaren Teile wie Zähne und Felle, und die Bezeichnung Bärentöter wurde auf sie ausgeweitet und später zu Bären abgekürzt.«
»Okay, also nicht ganz dasselbe.«
»Ich behaupte nicht, dass es da keine Überschneidungen gab.« Ich versuchte, Heists Blick auf mich zu ziehen, als er das sagte, aber er fuhr, und sein Gesichtsausdruck war absolut undurchdringlich.
»Wie viele Kinder gab es denn?«, fragte ich.
»Ich glaube, damals waren das mindestens zwanzig. Nicht alle wurden in der Wüste geboren, anfangs sind auch ein paar hinausgelockt worden, aber die blieben nicht. Später kamen noch mehr – das liegt in der Natur der Dinge.«
»In der Natur von Kaninchen, wolltest du sagen. Stimmt, das ist ja allgemein bekannt. Besonders wenn die Bären ihnen manchmal eheliche Besuche abstatteten.«
»Dazu neigten sie.«
»Und du gehörtest zu diesen Kindern?«
»Ja. Ich war der Erstgeborene.«
Jetzt nahm er mich definitiv auf die Schippe. »Der Erstgeborene – wovon?«
»Von Viscera Springs. Genau genommen gab es noch ein Baby, aber das starb, und ich glaube, auch deswegen wurde das so wichtig. Sie wussten, dass sie lernen mussten, es richtig zu machen, und ich überlebte, und sie nannten mich den Erstgeborenen.«
»Und du hast mit den Kaninchen gelebt.«
»Ich habe einige Zeit unter den Kaninchen gelebt.«
»Entschuldige, unter. Aber du warst kein Bär, oder? Weil die mit Kindern nichts am Hut hatten.«
»Tja, das ist das Komische, Phoebe.«
Während seines langen Monologs hatte die Zahl der Fahrspuren abgenommen, sechs, vier, und jetzt war es nur noch eine in jede Richtung. Die gebrochenen Zähne der Wüste umstanden uns auf allen Seiten. In größerer Entfernung lagen die schneebedeckten Gebirgsketten. Ich entdeckte meinen ersten Josuabaum und sah nach und nach Hunderte der knorrigen gequälten Formen, halb Bosch, halb Dr. Seuss. Ich schwieg, weil ich mir sagte, nur der letzte Heiopei hätte sich an dieser Stelle gewundert, dass es die wirklich gab.
An irgendeinem Punkt der Fahrt, als seine Geschichte Gestalt annahm, hatte ich mich Heist wieder öffnen können. Jessie war mein tierischer Schild gewesen, während ich gedöst hatte. Jetzt kletterte er auf den Rücksitz und rollte sich zusammen, um ebenfalls zu schlafen. Ich lehnte mich zurück, ließ mich von Heists Stimme liebkosen und starrte geradeaus, hypnotisiert von den klaffenden, windzerkratzten Wüstenkonturen, die sich um uns herum in alle Richtungen erstreckten. Verstohlen musterte ich Heists verschlossenes Profil und war kurz erleichtert, als er meinen Blick nicht erwiderte. Es hätte die Dinge komplizierter gemacht, als ich grad nötig hatte.
Die Grundlinie, das einzige Realitätsprinzip war hier das Land. Was der Mensch darauf verstreut hatte, waren mehrheitlich verfallende Provisorien. Viele Bauten waren verwahrloste, aufgegebene und sogar halb eingestürzte Gebäude, die in Echtzeit wieder zu Staub wurden, verrostete Autokarossen, Maschendrahtzäune, die bedeutungslose Grenzen zwischen herrenlosen Grundstücken markierten. Dann wieder zogen blitzblanke neue Tankstellen und Kettenrestaurants an uns vorbei, Einkaufszentren, derselbe Dreck, der überall aus dem Boden schießt. Häufiger setzte sich die örtliche Realität wieder durch, vergammelte Winzmalls mit Lädchen für Massagen und Tattoos, E-Zigaretten und Reptilien, als könnte man in dieser Gegend nur heimisch werden, wenn man sich mit Echsen, Rauch und Körpertinte umgab.
So ungefähr in den letzten zehn Minuten ließen wir auch die äußersten Ausläufer der Zivilisation hinter uns. Noch bevor ich Heist zu seiner komischen Zeit bei den Bären befragen konnte, bog er zu einer Tankstelle ab, vielleicht dem letzten Außenposten, bevor wir vom Rand der bekannten Welt ins Nichts fielen. Während er auftankte, schüttete ich einen Kaffee nach, der einfach unter aller Sau war.
Mein Smartphone hatte einen Balken, und während Heist seinen persönlichen Boxenstopp einlegte, rief ich die Mails ab, die eingetrudelt waren, seit ich den Berg hochgekraxelt war. Meine frühere Welt war in Aufruhr und bereitete sich auf die Amtseinführung des Trumpeltiers vor. Wäre ich in New York gewesen, hätte ich wahrscheinlich Schilder gemalt und die angemeldete Protestkundgebung mitorganisiert. Aus dieser Entfernung war das kaum zu glauben. Es war gerade mal acht Uhr morgens. Wir stiegen wieder in den Jeep, und Heist fuhr uns den Twentynine Palms Highway entlang Richtung Norden, wenn ich den Sonnenstand richtig deutete.
Der Maschendrahtzaun wich Stacheldrahtkrakeln, dann hörten auch die auf. Die Straße selbst war die letzte in die Öde geätzte menschliche Spur, alles andere lag hinter uns.
»Du warst bei den Bären.«
»Ich bin müde vom Reden.«
Ich hielt ihm den beschissenen Kaffee hin und zog die Augenbraue hoch. Er erzählte weiter.