Kapitel 25

Die Bären hatten etwas für den Erstgeborenen übrig. Den Menschenjungen, der erst Baby tituliert worden war, dann Boy und schließlich Brown, seiner Augenfarbe wegen. Sie hatten zwar keine Lust, Windeln zu wechseln, nach essbaren Kakteen zu suchen, Eintopf umzurühren, ihre Notdurft in festgelegten Löchern zu verrichten oder stundenlang am Lagerfeuer zu sitzen und Konsensentscheidungen herbeizudiskutieren, interessierten sich aber für die Entwicklung des Jungen. In jenen Tagen dehnten die Bären ihre Streifzüge bis zu den Cleghorn Lakes, ins Death Valley und zum Salton Sea aus, die einen auf Motorrädern, die anderen in Trailern. In diese Zeit fielen auch ihre ersten Wallfahrten zum Mount Baldy, ihre jährlichen Aufstiege in den Schnee, zum Gipfel von Lapislazuli und Geheimritualen. Aber die Mojave-Gebiete unter staatlicher Verwaltung blieben die Achse ihrer Wanderschaften, und sie behielten den Jungen im Auge. Wenn niemand wusste, wer ihn gezeugt hatte, was sprach dann gegen eine kollektive Vaterschaft aller Bären?

Die Bären schauten auch weiterhin bei den Kaninchen vorbei, rituelle Ereignisse irgendwo zwischen Jubiläum und Überfall. Mit neun Jahren war Brown der Anführer einer Bande von Kaninchenjungen, die unter sich blieben, auf Berge stiegen, im Schlamm badeten, Schlangen töteten und heimlich ihre eigenen Höhlen und Baracken bezogen. Damals machten die Bären ihre Ansprüche auf ihn geltend. Die Zeit wäre gekommen, knallten sie den Kaninchen vor den Latz. Und so kam Brown unter die Bären – Charles Heist, mit neun Jahren aber noch nicht unter diesem Namen.

Die Bären hatten einen König der Könige. Von dem hatte ich schon gehört: Burkhardt, der Bärentöter. Früher mal Goldgräber und Hells Angel, war Burkhardt der stärkste und charismatischste von allen. Er war auch der älteste, sprach ständig von seinem bevorstehenden Tod und behauptete, er wäre vom Krebs zerfressen, obwohl man ihm nichts davon anmerkte. Burkhardt prophezeite, jeden Augenblick werde er jetzt ohne Vorwarnung fortgehen, sich auf einem Berggipfel von der Sonne ausdörren lassen und den Vögeln zum Fraß vorwerfen. In dem Männlichkeitskult, den die Bären auf Burkhardts Initiative hin ausgebildet hatten – ein unsystematisches Sammelsurium, das zu gleichen Teilen aus Henry Miller und Edgar Rice Burroughs bestand, außerdem Brocken von Sun Tzu, Castañeda und John Wayne –, war der Junge zum totemistischen Nachkommen auserkoren worden. Als reines Produkt der Wüste sollte Brown nicht nur unter ihnen leben, er sollte auch Bärentöter als ihren Stammesführer ablösen.

Im ersten Jahr lief Brown den Bären weg und zu den Kaninchen zurück. Eine seiner Lieblingsmütter (er erfuhr nie, wer seine leibliche Mutter war und ob sie überhaupt noch bei den Kaninchen lebte) brachte ihm mit einer zerfledderten Ausgabe von David Copperfield das Lesen bei. Nicht mal ein Jahr nach seiner Flucht wurde er auf einer seiner Wanderungen von Bären gefunden und wieder in ihr Lager mitgenommen; drei Jahre später kehrte er mit dreizehn erneut zu den Kaninchen zurück.

Nach dieser zweiten Rückkehr stellte er fest, dass die Kaninchen gewisse Erschütterungen durchgemacht und eine verbiesterte Widerstandskraft entwickelt hatten – nach ihrer neuen Definition waren die Bären kaum mehr als Vergewaltiger, und sie setzten sich gegen sie zur Wehr. Brown wurde gelegentlich als Spion aus ihrem Lager behandelt (und Heist leugnete nicht, dass die Neugier, die hinter seiner Rückkehr zu den Kaninchen steckte, teilweise sexueller Natur war). Manche Mütter nahmen ihn auf, andere wetterten gegen seinen Einfluss auf die Jüngeren. Die meisten Kinder aus seiner alten Bande konnten sich nicht mehr an ihn erinnern. Von da an blieb er auf einer gewissen Distanz zu den Kaninchen – lebte als halbes Raubtier, als Wesen mit diversen Zielen, das Nahrungsreste aber nicht verschmähte. Und ja, nachts hatte er sich manchmal unter die Hunderudel gekuschelt, war ihnen auf allen vieren hinterhergekrabbelt und hatte ihre Gemeinschaft gesucht.

Wild? Klar, so konnte man das nennen.

Auf diese Weise war Brown herangewachsen, war zwischen den Gruppen und ihren Räumen hin- und hergependelt, außerhalb seiner eigenen Haut von Grund auf entheimt. Mit vierzehn war er schließlich in die Stadt Palm Desert getrampt, für ihn eine Metropole, die er nur von einer Handvoll staunender Besuche her kannte. Dort war er zur Polizei gegangen und ans Jugendamt weitergereicht worden. Sein Glaube an den Einflussbereich der Bären, die ihn auch aus den Hügeln und von den Felsnadeln nie aus den Augen verloren, reichte bis zu der Gewissheit, dass sie ihn zurückschleifen würden, wenn er sich nicht in irgendeine Zitadelle der Zivilisation begab.

Arthur und Mary Heist waren ein ältliches Paar in Redlands. Vor Brown hatten sie schon sieben Pflegekinder großgezogen, und Brown sollte ihr letztes sein. Er lebte nur vier Jahre mit ihnen zusammen, aber dieser Zeit verdankte er einen Namen, eine Sozialversicherungsnummer, einen Schulabschluss und eine widerwillig empfangene Portion Christian Science. Von dort war er in die Grundausbildung gekommen. Nach sechs Jahren Reservedienst und einem Ausstieg aus dem San Bernardino Community College machte Heist auf den Werften von Long Beach eine Phase körperlicher Arbeit durch. Erst in dieser Zeit tastete er sich langsam an das heran, was vielleicht immer seine Berufung gewesen war: die Befreiung von Lebewesen der verschiedensten Arten aus leidvollen Umständen. So gesehen, war seine Zeit bei Arthur und Mary eine Art Lehrzeit gewesen. Dank dem weit zurückreichenden Vertrauensverhältnis zwischen seinen Pflegeeltern und dem Jugendamt fand Charles Heist den Rückweg in die Infrastruktur des Inland Empire zur Rettung von durchgebrannten und missbrauchten Kindern sowie von Jugendlichen, die Sekten oder Mädchenhandelsringen ins Netz gegangen waren.

Erst nachdem sich seine unverwechselbare Detektei in Upland etabliert hatte, kehrte Heist nach zehn Jahren in die Wüste zurück, um herauszufinden, was aus den Kaninchen geworden war. Er ging zurück, um den Müttern Respekt zu erweisen, aber auch, um ihre kleinen oder halbwüchsigen Kinder wegzuzaubern, sofern diese gehen wollten. Er machte den Erwachsenen so behutsam wie möglich klar, dass die Entscheidung darüber nicht bei ihnen, sondern bei den betreffenden Kindern – den Individuen – lag. Charles »Brown« Heist hatte seine Herkunft, um das unanfechtbar zu machen. Er konnte die Kaninchen mit ihren eigenen Grundsätzen schlagen. Auch er war ihr Produkt.

Das alles musste ich Heist wie Würmer aus der Nase ziehen. Er sprach mit keinem Wort darüber, wie es für den Sieben- und Achtjährigen und auch später noch gewesen war, bei den Bären zu leben. Er schämte sich, dass er zu so einem Yin-Yang-Halbling herangezogen worden war. Es war sowohl das Rätsel dieser Bärenpersönlichkeit als auch sein Schamgefühl, die mich zu ihm hinzogen. Ich wollte ihn wieder, ein kleiner Anfall des Verlangens überwältigte mich, der nicht zum Tageslicht oder zu unserer Mission im Wüstensand passen wollte. Ich identifizierte mich zu sehr mit meinem Käfig, dem Jeep, als lenkte Heist auch mich, wenn er ihn lenkte. Ich wollte dem Hund die Augen zuhalten und über Heist herfallen, während er die Gänge wechselte. Und ich war eifersüchtig.

»Hattest du je eine Freundin?«

»Kommt drauf an, wie du das meinst.«

»Hast du – dich wie ein Bär benommen?«

»Ich weiß nicht recht, wie du das meinst.«

»Haben sie nach den Kaninchen einfach ohne Frauen gelebt? Das glaub ich dir einfach nicht.«

»Es gibt immer Frauen. In der Wüste gibt es mehr Menschen, als du dir vorstellen kannst. Die Bären hatten viele Groupies unter den Trailerleuten. Wie gesagt, sie dehnten ihre Streifzüge aus.«

Bei dem Wort Groupies brannte im Motor meiner Fantasie eine kleine Sicherung durch. Ich dachte an Arabella, an alles, was ich ihr wünschte in einer Welt, die sich änderte und eigentlich dieselbe blieb. »Du warst ein Jugendlicher.«

Er schwieg.

»So langsam check ich’s«, sagte ich. »It’s a bear’s, bear’s, bear’s world – aber ohne eine Frau oder ein Mädchen wäre alles nichts.«

»Phoebe.«

»Keine Angst, den Ohrwurm werd ich wieder los.« Vielleicht waren die Bären nur eine krachlederne Vorwegnahme von Donald Trump, Anthony Weiner und Bill Cosby gewesen, die ganz normale beschissene Wirklichkeit, vor der ich geflohen war, die aber niemand, auf keinem bewohnten Planeten, wirklich je hinter sich ließ.

Danach schwiegen wir beide eine Weile. Heist bog nach rechts auf einen Feldweg in die offene Weite ab und brachte den Jeep zum Halten, als die letzte befestigte Straße ein paar Hundert Meter hinter uns lag. Der Hund und er sprangen hinaus, Jessie pisste an einen rostigen Stahlpfosten, und Heist machte sich an den Reifen zu schaffen. Erst dachte ich, er wolle nur den Luftdruck messen, aber dafür drückte er das Werkzeug zu lange an den zischenden Reifen und blinzelte dabei zu den lange Schatten werfenden Hügeln hinüber.

»Stimmt was nicht?«

»Doch. Ich lass nur Luft ab.« Er ging um den Jeep herum und ließ einem Reifen nach dem anderen Luft ab.

»Und warum?«

»Weiche Reifen haben bessere Bodenhaftung. Wir haben einiges an Felsgehoppel vor uns.«

In den nächsten Stunden schuckelten wir auf den weichen Reifen aus der Ebene hoch, empor in die scharf gezeichnete Felslandschaft, und kurvten um herabgestürzte Felsblöcke in trockenen Bachbetten herum. Der Jeep schwankte von einer Seite zur anderen wie eine suchende Spinne und brauchte jeden Zentimeter Bewegungsspielraum, damit das Fahrgestell nicht von den Felsspitzen aufgerissen wurde. Dann reichte der Abstand plötzlich nicht mehr. Knirschend fuhren wir uns fest und ruckten in einer Granitspalte zurück.

Immer wieder dachte ich, der Jeep säße endgültig fest, aufgespießt wie eine Krabbe auf einem gefühllosen Stein. Aber Heist zuckte mit keiner Wimper. Er stieg aus und suchte einen Neuansatz. Meist setzte er vom Hindernis zurück, verdrehte die Räder zu einem unwahrscheinlich engen Wendekreis und überwand die Hürde aus einem anderen Winkel. Dann wieder schob er Steine unter die Reifen, damit wir besser hochkamen. Bei diesen Verzögerungen sprang Jessie immer hinaus, um zusammen mit Heist die Steine zu inspizieren, und ich setzte mich in den Schatten eines Felsen, eines Krüppelbaums oder eines Kaktus und versuchte, offen gestanden, nicht in Tränen auszubrechen. Dann winkte Heist mich in den Wagen zurück. Der Motor heulte auf, als würde er gleich explodieren, der Jeep bockte und wuchtete uns über einen Felsen hinweg, wobei das breiige Gummi über eine diagonale Mauer quietschte und das Fahrgestell sich kreischend aus seinem Gefängnis löste. Mehr als einmal dankte ich meinem inexistenten Herrgott für die Überrollbügel, weil ich überzeugt war, wir würden gleich seitwärts ins Verderben stürzen.

Auf diese Weise schlingerten wir voran und schafften vielleicht zehn Kilometer die Stunde, wahrscheinlich nicht mal das, aber schon bald war unvorstellbar geworden, dass es überhaupt mal eine Straße gegeben hatte und dass irgendjemand uns folgen oder auch nur auf die Idee kommen könnte, uns zu folgen. Wir tranken Wasser, alle drei. Die Wüste roch nach ausströmender Hitze, die die Sonne im Lauf von Äonen in den Felsen gespeichert hatte. Die weiten Perspektiven verschwanden. Wir steckten immerzu am Grunde eines Bachbetts oder eines Steinlabyrinths, kamen nie nach oben, wo man vermutlich einen herrlichen Ausblick hatte. Seltsamerweise war mir dadurch nicht mehr so himmelangst. Immer wieder steckte der Jeep in einer Furche in einer Furche in einer Furche fest. Unser ganzes Trachten: die nächsten paar Meter.

Mein geistiger Horizont war genauso geschrumpft. An Übergangsstellen verengt sich das Leben, der Kleiderschrank zwischen England und Narnia, die abgeschiedene Raumkapsel, die zu einer anderen Welt geschossen worden ist. Ich versuchte, Heist dabei zu helfen, Steine unter den Reifen zu verkeilen, damit ich mir nicht so überflüssig vorkam. Er akzeptierte meine Hilfe ohne ein Wort der Kritik, aber auch ohne Dank. Wir mussten das gemeinsam schaffen, und da wir uns kaum kannten, auch allein. Aber der Jeep musste aus der nächsten Klemme freikommen und aus der übernächsten – es gab immer zu tun.

Ssön till sein, sagte ich mir. Wir machen jagi-jagi Karnickel.