Kapitel 28

Das größere Camp schlich sich unvermutet an mich heran. Ich hätte merken müssen, dass Jessie uns vorangelaufen war. Eben waren wir noch durch unwegsamen Sand gestapft. Im nächsten Augenblick fanden wir uns hinter einer Kuppe in einem Labyrinth menschlicher Anwesen. Kleine Wohnstätten übersäten die Landschaft: Lehmhütten wie die beiden, an denen wir vorbeigekommen waren, jetzt doch ein paar Tipis und, kaum zu sehen, Erdhütten mit Blechabdeckung.

Heist lavierte zwischen den kleineren Hütten hindurch, und ich folgte ihm. Er fand zu einem schlammigen Brunnen, einer breiten, nicht überdachten Grube, an deren Rand Stufen aus schartigen Felssteinen zu einer Lache aus Schlamm und lauwarmem Wasser hinabführten. Der Brunnen sah aus, als wäre er schon lange in Gebrauch. Ich sagte mir, dass die Gebäude wohl bewusst um ihn herumgebaut worden waren.

An der untersten Stufe standen zwei Menschen halb im Schatten. Eine Frau und ein dürrer Mann mit Jesusbart, beide in weicher, graubrauner Kleidung. Heist ging die halbe Treppe hinab und unterhielt sich mit ihnen. Es war keine emotionsgeladene Begegnung wie mit Spark. Sie kannten Heist, oder er sprach die Kaninchensprache auf eine Weise, die sie unvorbereitet erwischte, oder sie waren von vornherein nicht besonders auf der Hut gewesen. Vielleicht war ja Spark eine Ausnahme von der Regel. Ich wartete an der obersten Stufe und sah erstmals ein Kind, barfuß und langhaarig, von unbestimmbarem Geschlecht. Es kauerte wie ein Höhlenmensch am Eingang einer Hütte, schnitt mir eine Grimasse, rollte sich zusammen und ließ sich auf komische Weise nach hinten außer Sicht fallen.

Danach nahm Heist mich zum größten Gebäude mit, einem kleinen Blockhaus. Dort trafen wir Anita. Sie trug die weiße Robe, in der sie sich um ihre Bienenstöcke kümmerte, wie ich später erfuhr. Heist stellte uns vor, Anita gab uns Wasser und stellte Jessie einen Napf hin, den er genüsslich leer schlabberte. Dann kam Heist zur Sache und erkundigte sich nach einem Mädchen, das sich Arabella oder Phoebe nannte. Offenbar baute er darauf, dass die Namensgleichheit Anita nicht verwirren würde. Diese warf mir einen offen skeptischen Blick zu, lächelte aber. Ich war froh, dass ich sie auf Anhieb mochte, auch wenn sie unsere Hoffnung sofort und fast schon begierig enttäuschte.

»Tut mir leid, Charles. Dein Mädchen war nie bei uns.«

»Aber du weißt, wen ich meine?«

»Nicht unter diesen beiden Namen. Oder einem anderen. Wir haben Gerüchte gehört, und es gab Sichtungen. Die Prioritäten der Bären sind wechselhaft. Unter anderem wurde ein Mädchen erwähnt. Aber darum geht es ja immer.«

Während sie das sagte, kniete Anita desinteressiert vor etwas, das in der Mitte des Raums auf dem Boden lag und wie ein Häufchen Steine aussah. Als sie einen davon mit einem gegabelten Stöckchen anstupste, stoben Funken, und darunter glühte etwas auf. Jessie schreckte erst zurück, schnupperte dann aber wieder. Es handelte sich um eine Art aufgehäufeltes Feuer, nicht dass wir jetzt am Vormittag gefroren hätten, auch nicht hier im Haus und fern der Sonne. Wir ließen uns neben ihr nieder. Meine Augen passten sich an das Halbdunkel in der Hütte an.

»Was ist mit dem Berg?« Zurückhaltender konnte Heist kaum fragen. Er machte Anita zu seiner willigen Partnerin in allgemeiner Spekulation. Sie schluckte den Köder.

»O Gott, der Berg. Das übliche Bärenzeug von wegen einer nahenden Sintflut, aber mit einem dämlichen neuen Dreh, sie hätten auf dem Mount Baldy eine ausgefuchste Vereinbarung getroffen. Ich hab das Gefühl, irgendwer hat denen das Fell über die Ohren gezogen.«

»Ich dachte, die beschränken sich auf ihren Rummel und sind anständig geworden«, sagte Heist.

»Kannst du dir vorstellen, dass Bären anständig werden?«

»Werden sie nicht langsam zu alt dafür?«

»Werden wir doch alle, Charles. Aber sie haben einen neuen jungen König. Den bisher schlimmsten, was einiges heißen will.«

»Kenn ich den?«

Anita stupste wieder den Stein an, und da sah ich, dass es sich nicht ausschließlich um Steine handelte. Teilweise waren es steinförmige Dinge in geschwärzter Alufolie. Mit ihrem Zinken hebelte sie diese auf den Boden, öffnete die Folien, damit Dampf entweichen konnte, und ein herzhafter Duft stieg auf. Mir knurrte der Magen.

»Ich glaube, so richtig kennt den keiner. Er nennt sich – das musst du dir mal vorstellen – Solitary Love.«

»›Einzelliebe‹? Ein Ex-Knacki?«

Die Referenzen ihres Gesprächs waren mir zu hoch. Heist und Anita schienen sich in steinaltem Code zu verständigen, aber ich war weder eifersüchtig noch durcheinander. Ich hatte ganz im Gegenteil das Gefühl, endlich zur Ermittlung dazuzugehören. Teil der Verschwörung zu sein, auch wenn ich nicht jede Einzelheit mitbekam.

»Er behauptet, ein Veteran von Enduring Storm zu sein«, sagte sie. »Ich hab da aber so meine Zweifel, dass er die Tätowierungen oder den Spitznamen wirklich aus dem Irak hat. Wenn man blinzelt, macht er einen fast menschlichen Eindruck. Wir wollen ihn in Brand stecken, wenn er uns das nächste Mal zu nahe kommt.«

Heist hob die Hände zu einer abwiegelnden Geste. »Ich hab den Film gesehen. Einmal hat mir gereicht.«

Anita hatte gemerkt, dass ich mich für das interessierte, was sie da aus den Kohlen geholt hatte. Jetzt schob sie mir eins von den Dingern mit ihrem Gabelstöckchen zu. Ich musterte es. Das Essen in der Folie war eine Art Maisteig mit grüner Füllung. »Trau dich ruhig«, sagte sie, und als ich zögerte, fügte sie hinzu: »Kaktus-Tamale.« Ein zweites dampfendes Stück schob sie Heist zu und ein drittes Jessie.

»Danke.« Ich pustete auf ein Stück, das noch zu heiß zum Schlucken war.

Jetzt war ich nicht mehr Heists Handlangerin, jetzt war ich die neue Freundin auf dem Präsentierteller und wurde willkommen geheißen – aber von wem eigentlich? Seiner Ex? Seiner Mom? Unterschiede spielten keine große Rolle; sie nahm mich unter ihre Fittiche, ich gehörte zur Familie. Die Tamale war lecker, heiß und höllisch scharf. Im Nachhinein war klar, dass ich mich von einer Art Anfall erholte, einer Mischung aus Heißhunger und Pistolendurcheinander. Wenn ich weiter mit dieser Rasanz abbaute, würde ich mich gleich auf dem Boden einigeln und wegpennen.

»Sieht ganz so aus, als müsste ich diesen neuen jungen König mal unter die Lupe nehmen«, sagte Heist. Er sprach niemanden direkt an oder nur den zackigen Horizont, der die Hütte auf allen Seiten umgab.

»Nicht vergessen«, sagte Anita.

»Was nicht vergessen?«

»Dies alles hätte dein sein können.«