Donna ging mit Anita voran, während Glinda oder Glimmer zurückblieb. Der große Raum mit der hohen Decke lag am Ende eines Flurs hinten in der Neptune Lodge – Chefschlafzimmer hätte ich das genannt, aber den Begriff hätten sie unter den herrschenden Umständen wohl abgelehnt. Die Fenster lagen dank vorkragenden Steinen im Schatten, und als die Sonne langsam unterging, hatte ich das Gefühl, in eine unterirdische Grotte geführt zu werden. Erst dachte ich, das Zimmer wäre leer und ich bekäme meine Unterkunft gezeigt, die geräumig, wenn auch gruselig war, aber nein: Auf dem Bett ausgestreckt lag der Downer-Bär. Sein Körper war immer noch ein einsamer Berg unter der dünnen Decke, auf der sein Mennonitenbart und die über und über tätowierten Arme lagen. Dann sah ich, dass eine in einem Schäkel befestigte Kette von seinem Arm zu einem senkrechten Rohr in der Ecke führte. Es sah nicht unbequem aus – er hatte schlimmere Probleme –, aber freundlich sah es auch nicht aus.
Der Mund des Bären stand weit offen, und als ich sein Röcheln hörte, war ich sicher, dass er schlief. Dann traten wir näher ans Bett, und ich sah, dass seine Augen nicht nur offenstanden, sondern unsere Anwesenheit in seinem Krankenzimmer auch registrierten. Sie schienen das Einzige zu sein, was in dem riesigen, reizbaren Gesicht lebte. Seine Lippen waren es nicht, die das Wachschnarchen oder Zombierasseln produzierten, das das Zimmer durchdrang – es klang eher weitergeleitet, als hätte man einen Lautsprecher in seinem Bart versteckt. Seine Ohrläppchen trugen noch Spuren ehemaliger Stammes-Piercings, es war aber nur noch lappiges Fleisch übrig. Alles Metall war aus seinem Körper entfernt worden, vielleicht von den Kaninchen, als wollten sie ihn von seinen selbst gewählten Giftstoffen befreien.
Im Zimmer roch es erdig und salzig wie an einem Strand, an dem man im frischen tiefen Sand buddelt.
»Shockley, du hast Besuch«, murmelte Donna leise und nickte mir zu.
»Ich hab euch doch gesagt, dass ich meine Schwester will.« Der Bär übertönte seine kehligen, schartigen Atemzüge, die beim Sprechen aber nicht abebbten.
»Deine Schwester kann nicht kommen. Das hier ist Phoebe. Sie kommt aus New York City.« Donna wandte sich an mich. »Shockley war Motorradfahrer und redet gern über all die Orte, an denen er gewesen ist. Stimmt doch, oder, Shockley?«
»Scheiße, Mann, ich war in New York City«, sagte Shockley. Sein Blick fand mich. Es fiel mir überraschend schwer, näher an sein Bett heranzutreten.
»Was hast du in New York City gemacht?«, fragte Donna.
»Scheiiiiiiiiiße.« Davon abgesehen, atmete Shockley nur, und wir hörten zu. Die Szene hätte von Goya stammen können. Ich versuchte, mich für keinen von ihnen zu schämen: weder für den uralten Walkörper mit den Narben fantasierten Verbrecherruhms, eingekerkert von herablassender Fürsorglichkeit, noch für Donna, die einzige Schwarze in der gesamten Mojavewüste (so weit ich bis jetzt gesehen hatte), die sich als seine Krankenschwester gerierte. Aber ich war wohl die Letzte, die darauf hinweisen sollte.
Donna setzte wieder an: »Shockley hatte heute einen guten Tag, aber abends wird er immer müde.«
»Nein, Mann, ich will mit Phoebe reden. Ich mag Phoebe.«
»Ich mag dich auch, Shockley«, brachte ich mühsam hervor. Warum rührte er mich zu Tränen? Weil er mich an Heist erinnerte, verdammt noch mal.
»Weißt du, wer Andy War-hole ist?«
»Klar.«
»Na, jetzt mach ich vielleicht nicht mehr viel her, aber als ich 1967 nach New York City gekommen bin, meine Fresse, da wollte Andy War-hole mich allen Ernstes malen.« Sein rasselndes Keuchen schien für seine Erzählung warm zu werden, jedenfalls gewann es Ausdruckskraft, auch wenn er verstummte, um Luft zu holen.
»Hast du ein Exemplar bekommen?«
»Hab ihn nie drum gebeten, Schätzchen.« Er brachte ein heiseres Keckern zustande.
»Wäre ein wertvolles Souvenir gewesen.«
»Achchchchchch, das hätt ich doch längst verloren oder zusammengedreht mit Drogen drin weggequarzt. In der Factory gab’s das beste Speed meines Lebens.«
»Na, das muss doch schön gewesen sein.«
»Hab mit ’ner Braut ’ne Nummer geschoben, die keine Braut war.«
»Ich hoffe, auch das war schön.«
»Man muss alles mindestens einmal ausprobieren. Sagen wir zweimal.« Er versuchte zu lächeln, was mit dem klaffenden Mund und unter dem Vollbart nur zu erahnen war. »Jetzt erzähl du mal was.«
»Meine Geschichten sind nicht so interessant.«
»Mann, jeder hat ’ne Geschichte, das macht uns zu Menschen. Ich will dich einfach reden hören, Phoebe aus New York. Sag den Häschen, ich brauch hier mal was Privatsphäre.« Er erschreckte mich, weil er die nicht angekettete Hand hob und auf die Tür zeigte. Die Anstrengung schien ihn zu ermüden, und als der Arm wieder auf die Bettdecke fiel, zuckten die behaarten Wurstfinger wie gelähmt.
Donna sah Anita und mich an.
»Schon okay«, sagte ich. »Ich kann allein bei ihm bleiben.«
»Dann geh ich Kaffee kochen«, sagte Donna. »Möchtest du welchen?«
»Ja, gern«, sagte ich, und Anita und sie verließen das Zimmer. Wider besseres Wissen stand ich auf und machte hinter ihnen die Tür zu.