Kapitel 33

»Passen Sie auf, Mr. Shockley. Wir haben wahrscheinlich nicht viel Zeit.«

»Schätzchen, das ist wirklich rührend, aber ich weiß nicht, ob ich im Augenblick dazu imstande bin.«

»Nein, hören Sie einfach zu.« Mir war eine Superidee gekommen. Wenn man sich so weit unter dem Radar bewegte, wurde mir langsam klar, hatte das fast denselben Effekt wie eine zu große Sichtbarkeit auf dem Radar. Die Selbsterfindung setzte sich durch. Wenn diese Leute aus den Städten, aus dem Spätkapitalismus hervorgekrochen waren, um Kaninchen und Bären zu werden – wenn Renee Lambert genauso gut Spark sein konnte –, was hielt mich dann davon ab, den wilden Detektiv zu spielen? In der Mojave weiß niemand, dass du kein Hund bist. »Mr. Shockley, ich bin nicht die, für die Sie mich halten.«

»Für wen halte ich dich denn?« Die Augäpfel des Bären schossen nicht direkt auf panikerfüllte Weise herum, hatte ich den Eindruck. Aber vielleicht konnte man Augenbewegungen auch nicht interpretieren, wenn es sonst keine Körpersprache gab. Na, mal sehen, ob ich ihn in Panik versetzen konnte.

»Ich bin kein Kaninchen.«

»Kein Kaninchen«, wiederholte er, als würde das erst wirklich, wenn er es in seinem Bart ein bisschen durchkaute.

»Ich habe mich den Kaninchen auch nicht angeschlossen, obwohl es vielleicht so aussieht. Diese Frauen wissen es nicht, aber ich arbeite hier undercover an der Vorbereitung eines paramilitärischen Kommandounternehmens. Ich habe den Auftrag, eine bestimmte junge Frau hier rauszuholen, bevor die Schießerei losgeht.«

»Schießerei? Wer schießt hier auf wen

»Die Behörde, für die ich arbeite und die zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwangsläufig anonym bleiben muss, ist ein vergleichsweise stumpfes Instrument, Mr. Shockley. Sie interessieren sich nicht besonders für Unterscheidungen zwischen verschiedenen Spezies. Ich möchte nicht hier draußen auf den Hügeln sein, wenn die Helikopter auftauchen.«

»Helikopter?«

»Schwarze.«

»Fuuuuuuuuuuck.«

»Das trifft es ganz gut. Ich bin aber befugt, Ihnen für ein gewisses Maß an Kooperation Straffreiheit zuzusichern.« Jawoll, Leute, sie spricht die Polypen mit verschiedenen Stimmen. Ich war der Inbegriff eines Schlüsselkinds, das süchtig ist nach Law & Order.

»Du kannst mich aus diesem Zimmer rausschaffen?«

»Vielleicht nicht sofort, aber: Ja. Ich kann auch versuchen, Kontakt zu Ihrer Schwester aufzunehmen oder Sie in einem Zeugenschutzprogramm unterzubringen.« Ich wusste, dass ich an diesem Punkt die Schwelle zur Niedertracht übertreten hatte: So wie ich das sah, würde Shockley in diesem Zimmer sterben.

»Scheiße, also los mit der Kooperation.«

»Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

»Ich auch, Schnuckiputzi.«

»Also helfen Sie mir, die Vermisste zu finden. Sie nennt sich Arabella oder Phoebe. Ich habe ihren Namen angenommen, um die Kaninchen zu verwirren.«

»Sagt mir nichts. Worum geht es bei diesem Kommandounternehmen überhaupt? Du willst mir doch nicht weismachen, die schicken Undercover-Agenten hinter einem verschwundenen Mädchen her.«

»Meine Behörde verfolgt eine Reihe von Zielen, darunter auch einen gewissen Mr. Love, Solitary Love. Den kennen Sie ja wohl.«

»Den durchgeknallten Love kriegen die nie und nimmer bei lebendigem Leib, und wenn man den umbringen will, braucht man ’ne Bazooka.«

»Das nehm ich mal als Bestätigung. Kennen Sie auch Charles Heist?«

»Damit meinst du die große weiße Hoffnung.« Shockley atmete tiefer und schneller. »Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut, Fell von meinem Fell.« Seine freie Hand erwachte wieder zum Leben und winkte seinem fernen Stamm. Mir fielen alte Damen ein, die ich in ihren Nerzmänteln auf der Madison Avenue gesehen hatte und die kaum ein Taxi herbeiwinken konnten. »Der Junge hat mir das Herz gebrochen, aber ich musste ihm einfach alles vergeben.«

»Er ist in der Gegend gesichtet worden und soll ebenfalls vernommen werden.«

»Er ist zurück, weil sie ihn zurückgerufen haben, Mann.« Er redete wie im Selbstgespräch und versank in sich. »Scheiße, es hat geklappt. Wusst ich’s doch. Sie haben eine Fährte gelegt, und er ist aus der Kälte gekommen.«

»Was wollen Sie damit sagen? Dass die Bären Heist hergerufen haben?« Ich beugte mich so nah über ihn, dass ich ihn riechen konnte, seinen müffelnden Körper unter der Decke und seinen Mundgeruch.

»Genau. Eigentlich folgt er dem Ruf des Schicksals. Wir sind bloß das Telefon.« Der Bär suchte wieder seine Gruselstimme. Er verstand sich darauf, in Großbuchstaben zu flüstern.

»Wie rufen Sie ihn an? Mit Kondensstreifen?«

»Wir haben ein Zeichen auf dem Berg hinterlassen.«

»Das hatte ich befürchtet.« Jetzt konnte ich den Mann im Bett hassen. Er faszinierte mich deshalb nicht weniger, aber seine Anziehungskraft bekam eine neue Note. Ich war mit meinen Fragen noch nicht durch und hoffte, die Kaninchen auf der anderen Seite der Tür würden sich nicht vom Fleck rühren. Ich musste einfach hoffen, dass es in dieser Gegend eine Ewigkeit dauerte und kollektiver Handarbeit bedurfte, um eine Tasse Kaffee rauszuhauen.

»Und was ist sein Schicksal?«

»Wenn irgendwer das wieder in Ordnung bringen kann, dann der gute alte Charlie. Ich wär ja zu gern dabei.«

»Was wieder in Ordnung bringen?«

»Es wird einen Bärenkampf geben. Und wenn der vorbei ist, haben wir einen wahren König.«

»Wer kämpft da? Solitary Love gegen Charles Heist?«

»Jemand wird sterben.« Das war nur noch ein Hauch. Die Kraft des Bären verlor sich wieder, der Kick unseres Tête-à-Tête reichte nicht mehr, um ihn auf Dauer der Abendstunden anzufachen.

»Warum muss jemand sterben?«

»Freiheit, Kind. Die geht nur mit dem Tod ins Bett.«

»Kann sein. Vielleicht beeindruckt mich die Freiheit nicht ganz so wie Sie.«

»Verwöhntes Miststück.«

»Schön wär’s. Ich weiß noch, wie sich das anfühlt. Ich hoffe, dass ich irgendwann mal wieder verwöhnt werde.«

»Lügnerin.«

»Wie wär’s, wenn Sie mal über Arabella plaudern?«

»Am Arsch.«

»Oh, spielen wir jetzt Wörter assoziieren? Da bin ich gut drin. Das hab ich auf langen Autofahrten immer mit meinen Eltern gespielt. Und ich hab doch glatt gedacht, Sie wollten hier raus

»Pussy.«

»Na bitte. Das Wort des Jahres, in null Komma nichts auf Platz eins.« Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich auf die Tour noch viel aus ihm rausquetschen konnte. Der Mann lag im Sterben, aber für mich war er schon gestorben. Er war kein Mann mehr, sondern ein in einem todkranken Körper gefangenes Orakel. Und jetzt waren dem Orakel die Antworten ausgegangen.

Ich drehte mich um und sah, dass die Tür offen war. Donna und Anita standen hinter mir. Wie lange schon, wusste ich nicht.