Kapitel 39

Die ersten Regentropfen fielen uns auf die bloßen Arme und tüpfelten die trockenen Felsen. Die beiden Kämpfer standen auf und gingen in der Arena, die jetzt von einer sich zuziehenden Schlinge aus Gestalten definiert wurde, aufeinander zu. Außerhalb dieses Rings tanzten vier Frauen, die perlenbesetzte Schals über Bikinis oder noch weniger trugen, im niedrigen flackernden Feuerschein, aber als ich ihre Umrisse aus der Nähe betrachtete, sah ich, dass sie kleiner und dicker waren als Arabella, die an der Saint Ann’s außerdem Kurse in afrikanischem Tanz belegt hatte und die Arme nie im Leben so banal bewegt hätte. (Zugegeben, auch die Qualität der Trommeln war hier unter aller Kanone.) Ansonsten bestand das Publikum aus Männern – Bären, musste ich annehmen. Ich wusste nicht, wie viel weiter wir uns unter sie mischen konnten, aber Spark schritt unerschrocken voran, das musste ich ihr lassen. Wir stahlen uns von einem Schatten zum nächsten, die Senke öffnete sich immer weiter unter uns, und die Sterne über ihrem Rand waren jetzt vollständig hinter den dräuenden Gewitterwolken verschwunden.

Die beiden Körper stießen im selben Augenblick zusammen, in dem der Himmel aufplatzte. Nadelspitzer Regen versickerte sofort im Sand unter unseren Füßen, wie sich elektrischer Strom durch Schaltkreise arbeitet. Es regnete auf die Kerosinlampen, die nicht erloschen, aber stinkenden Qualm erzeugten. Das Trommeln ging unablässig weiter – was für Trommeln wohl charakteristisch ist. Aber es wurde zunehmend von menschlichen Stimmen übertönt, von Geschrei und gehässig grölendem Spott. Hinter Regenwänden und Qualmwolken und in der immer stärker gegen die geborstenen Wände der Senke anbrandenden Kakofonie fiel es Spark und mir nicht schwer, unbemerkt in das Spektakel hinabzusteigen. Dann ging der Wahnsinn erst richtig los.

Solitary Love hatte Heist offenbar gleich mit dem ersten Schlag die Nase gebrochen. Heist umkreiste ihn mit gesenktem Kopf, duckte sich unter die Augenhöhe seines Gegners, aber ich konnte die dunkle Verletzung zwischen seinen Augenbrauen und das leuchtend rote Rinnsal auf Kinn, Hals und Jacke sehen. Von da an schrie ich nur noch. Ich erfuhr dort etwas über Kampfzuschauer, unter die ich mich zum ersten Mal mischte, an einem Ort, wie ich ihn bisher gemieden hatte und an dem ich mich nie im Leben erwartet hätte. Wenn der eine Kämpfer einem etwas bedeutete, fand man zu beiden keine Distanz, sondern nahm selbst am Kampf teil, und die Zeit verlangsamte. Der Regen peitschte wie getaktet herab; alles andere war still und taub und holperte dann wieder in verrückt herausplatzendem Handeln los. Heist ballte beide Hände zu einer einzigen Faust, beilte auf die Rippen seines Gegners ein und glitt zurück, wobei seine Füße durch den Schlamm schlitterten. Ich stand neben Leuten, die die Kämpfer aufhetzten und warnten, weil sie uns wütend machten und enttäuschten. Wer wusste schon, was irgendwer wollte? Vielleicht feuerten wir alle Heist oder aber Solitary Love an, vielleicht hatte jeder Zuschauer seinen eigenen Kampf und seinen eigenen Kämpfer, dessen Schmerz unser Schmerz wurde, aber gerade dieser fehlende Zusammenhang schweißte uns zusammen. Es war noch nicht zu spät, nach Hause zu gehen und doch noch Joyce Carol Oates zu lesen, falls der Regen nicht, wie prophezeit, diese Steinschale füllte und uns alle ersäufte. Heist umklammerte im Schlamm ein Bein von Solitary Love und wälzte sich zur Seite, um dem anderen auszuweichen. Ich schrie und schrie und schrie.

Auch Arabella schrie, als ich sie endlich entdeckte. Sie war im Gewühl plötzlich nach vorn geschubst worden und geriet fast zwischen die Fronten der Bärenkönige. Das kleine Mädchen von der New Yorker Privatschule, mit dem ich im Kino Toy Story 3 gesehen hatte, war weder als Kaninchen noch als Bärin »verkörpert« worden. Stattdessen war ihr eine eigene Spezies bewilligt worden, ein Falke oder eine Wüstenkrähe. Man hatte ihr eine Federkrone aufgesetzt, Pfauenfedern, die schon tropfnass waren, und vor den Brüsten trug sie eine Krallenkette. Die Verzierung bestand vielleicht nur aus Hühnerfüßen, die bei einer Grillparty übrig geblieben waren, aber die Wirkung war unheildrohend wie Sau.

Bis auf den Schmuck nackt stand sie im Wolkenbruch, groß und atemberaubend bleich, und machte keinerlei Anstalten, sich zu bedecken. Wie alle Millennials rasierte sie sich offenbar die Scham – ich konnte nur ahnen, wie sehr sie fror. Sie inszenierte sich hier aber nicht als Entführte, so sehr das ganze Bild auch Stockholmsyndrom schrie. Sie stand nicht neben dem Wahnsinn, der uns verheerte, sondern mittendrin, brüllte die Kämpfer an und krümmte sich in pornografischem Zorn, so sehr eine chaosgeborene Gestalt wie alle anderen Anwesenden, darunter auch Heist und Solitary Love. Ich weiß nicht, ob das als Ritual durchging, aber egal was es war, sie gehörte definitiv dazu. Ich auch. Meine Erleichterung, sie lebendig vor mir zu sehen, blieb in einer Art Schwebe, als wären meine Gefühle genauso Gefangene des Rituals wie sie.

Ich glaube, Arabella schrie Heist an, er solle sterben, ich habe sie später allerdings nie gefragt, ob das stimmte. Arabella hatte Heist schließlich noch nie gesehen. Wahrscheinlich konnte sie sich keinen Retter in einer solchen Gestalt vorstellen, falls sie sich überhaupt eine Rettung aus Solitary Loves Königreich vorstellte, als Alternative zu Flucht, Unterwerfung oder eigener Herrschaft. Außerdem war nicht er ihr Retter, sondern ich.

Solitary Loves Fuß fand Halt in Heists Achselhöhle. Nachdem er so oft abgerutscht war, dass ich nicht mehr mitzählte, rutschte er nicht mehr ab, sondern knirschte nach unten. Auch über den Trommeln, dem Regen und meinen eigenen Schreien hörte ich das Knacken und Heists gepresst grunzendes Ausatmen. Da hielt es mich nicht mehr am Rand des Zuschauerkreises, sondern ich ging hinein. Meine Hand glitt in die Handtasche, und sicher nicht, um den Lippenstift nachzuziehen, den ich abgekaut hatte oder der mir vom Regen die Kehle hinabgespült worden war. Ich tastete nach der Presslufthupe, dem kleinen Vergewaltigungsalarm, den ich Heist damals im Airstream vergeblich zu erklären versucht hatte. Ich fand ihn und handelte in blinder, tierischer Raserei. Auch im Sturzregen, im Dieselqualm und Menschenlärm stach der Hasskrach heraus, den ich Solitary Love ins Ohr schmetterte – ich drückte den Auslöser so weit runter, wie ich nur konnte, und zerfetzte ihm das Hirn mit Lärm – und der alles andere in der glänzenden Steinarena übertönte. Sein mörderisch dicker Unterarm schoss herum, wischte mich weg und prellte mir Schulter, Kiefer und Hirn, alles auf einmal. Ich wurde aufgefangen, bevor ich fallen konnte. Spark stand hinter mir.

Aber ich hatte den knastgeschaffenen Koloss im ursprünglichen Wortsinn unter Arrest gestellt: Ich hatte ihn aufgehalten. Eine schockierte Sekunde lang blieb auch der Rest der Welt stehen, nur Regen und Qualm machten weiter. Diese Sekunde war alles, was Charles Heist brauchte. Das lädierte Säugetier, teilweise außer Funktion gesetzt, kam hoch, ohne aufzustehen. Heist schien an Solitary Loves Körper wie auf einer Leiter hochzusteigen und hatte es auf die weichen Stellen ganz oben abgesehen. Er legte den Kopf schräg und grub die Zähne in Loves Hals. Ich verfolgte das voller Bewunderung, auch wenn ich das nie auch nur versucht hätte, aber was mich innerlich zu Boden schickte, war die Bewegung von Heists linker Hand.

Die Hand war mit einem Stein hochgekommen und zerschmetterte aus eigenem Antrieb Loves Auge, bis die Augenhöhle nachgab. Der Stein flog weg. Heists Finger schlossen sich um die Reste von Loves Augapfel, tiefer, als ich wissen wollte, und ballten sich in Loves Gesicht zur Faust. Da war der Hüne schon gefällt. Heist kauerte über ihm, Blut an Mund und Kinn. Seine Hand bohrte sich hinein und riss etwas heraus. Ich drehte mich weg, bevor ich nicht mehr konnte.

Wir hatten denselben Instinkt und den Kopf des Ungeheuers angegriffen. Der Rest von Love war zu viel, aber obendrauf war immer noch ein menschliches Gesicht mit Fleischöffnungen, Körperteilen, die man in keinem Gefängniskraftraum aufmuskeln konnte. Auch wenn Heists Vorgehen meine kleine Hupe sanft aussehen ließ, durfte ich wohl kaum richten. Solche idiotischen Gedanken schossen mir durch den Kopf, aber eigentlich war es mein Körper, der richtete. All die kreatürliche Angst, die sich auf Solitary Love gerichtet hatte, floss jetzt zu Heist, und ich war vergiftet. Ich hatte vorher falschgelegen. Trotz seines Äußeren hatte Solitary Love seinem Gegner nichts vorausgehabt. Heist hatte mit einer Wut um sein Leben gekämpft, der kein Gefängnismonster etwas entgegensetzen konnte. Vielleicht hätte man ihn den atavistischen Detektiv nennen sollen.

Der Regen hämmerte auf uns ein. Mein Körper traf seine eigenen Entscheidungen. Die Umarmung meiner Retterin ausnutzend, hatten sich meine Hände um den Griff der Pistole an Sparks Hüfte geschlossen. Ich war selbst schockiert, als ich sie herauszog, als hätte ich einen Teil von ihrem drahtigen kleinen Körper abgetrennt, ein Knochenglied. Aber auch hier versuchte mein Körper nur vergebens gleichzuziehen. Irgendwer hatte mir mal gesagt, du weißt nie, wer du in einem Notfall sein wirst. Ich entdeckte, dass meine Reaktion offenbar darin bestand, mich selbst zu diesem Notfall zu machen. Ich richtete die Pistole auf Heist, der mit Loves Kopfinnereien in der Hand stöhnend im Sand lag, und ich richtete sie auf Loves im Sterben zuckenden Körper, der eine gekrümmte Erektion hatte, eine Blutfontäne ausstieß und nach entleerten Därmen stank, alles auf einmal, was ich bisher nicht für möglich gehalten hatte – Ich mach dich gesund, sagte der Bär.

Ich richtete sie auf jeden, der Arabella zu nahe kam. Sie stand da wie erstarrt, das verzauberte Federwesen, und vielleicht dämmerte ihr langsam, dass ich ihretwegen gekommen war, aber auch, dass meine Rettungsaktion mich in den Wahnsinn getrieben hatte. Ich richtete die Waffe auf alle zugleich, drehte mich wie rasend im Kreis. Der Regen wurde ein Medium wie die Atemluft, wenn wir uns nur Kiemen wachsen lassen könnten. Meine Stimme formte mein Schreien endlich zu Worten.

»AUFHÖREN AUFHÖREN IHR ARSCHLÖCHER IHR GOTTVERFLUCHTEN WAHNSINNIGEN SCHEISSKERLE! KUCKT EUCH DOCH AN, WAS AUS DENEN GEWORDEN IST!« Die Worte standen mir aus dem Mund wie Banner am Himmel. »WARUM GLAUBT IHR EIGENTLICH, IHR KOMMT MIT DIESEM SCHEISS DURCH?« Niemand beantwortete meine Frage, wobei ich heute noch glaube, dass sie berechtigt war. »KAPIERT IHR ÜBERHAUPT, WAS HIER LOS IST, IHR DÄMLICHEN SCHEISSARSCHLÖCHER? HABT IHR SCHEISSKERLE ÜBERHAUPT GEWÄHLT

In der eingeschüchterten Stille trat ich zu einer der strotzbrüstigen Tänzerinnen und riss ihr den Schal ab. Er war klitschnass, aber ich warf ihn Arabella zu. »Wickel den um.« Ich deutete mit der Waffe, nicht weil ich jemanden bedrohen wollte, sondern weil er meine Stimme und mein Zeigefinger geworden war. Mir ging durch den Kopf, dass Menschen mit Waffen sich oft so fühlten. Eine Furcht einflößende Epiphanie! »Bring sie weg«, sagte ich zu Spark. Ich wollte, dass die beiden aus dem Krater hochkletterten. Spark nahm Arabellas Arm, und sie gingen.

Ohne dass der Sturzregen nachgelassen hätte, taute das Tableau jetzt langsam auf. Der magische Bann, den die Presslufthupe, mein Wahnsinn und Sparks Pistole ausübten, ließ offenbar nach. Die Bären bewegten sich langsam durch den Qualm wie die Gorillas im Museum of Natural History, die ausgestopften im Vordergrund, aber auch die auf die Berge in der Ferne gemalten, alle erwachten zu schwerfälligem Leben. Es gab keine Glasscheibe zwischen mir und ihnen. Ich wich zurück, hatte mehr Angst vor ihnen als vor Heists gebrochener Gestalt oder Loves Leiche hinter mir.

»Zurück!«, kreischte ich, aber meine Stimme versagte ebenso wie mein dämonischer Zauber. Niemand war eingeschüchtert – bis auf die Tänzerin, der ich den Schal weggerissen hatte.

Ein paar Bären trugen eine alte Holztür herbei. Sie kamen auf mich zu. Ich fragte mich, ob sie sie als Schild verwenden und vor meiner Waffe aufrichten wollten. Aber sie beachteten mich gar nicht. Die Tür war kein Schild für die Schlacht, sondern eine Trage für ihren verwundeten Erstgeborenen. Geradezu zartfühlend legten sie sie ab, knieten nieder und hoben den stöhnenden Heist auf die Fläche aus abblätternder Farbe und der alten Bronzeadresse eines Hauses, das eingestürzt und in den Wüstenstaub gesunken war und nur diese Tür übrig gelassen hatte.

Entgeistert stand ich da, meine Pistolenhand zitterte, ich verlor mich im Anblick von Heists wunderschönem und seltsamem Körper, dessen Gewalttätigkeit verraucht und auf dieses zertrümmerte Totem reduziert worden war. Ich wusste nicht, wie viele Stimmungsumschwünge ich verkraften konnte, aber ich machte gerade wieder einen durch – ich begehrte ihn. Dann fassten Anita und Donna mich an den Ellenbogen. Sie drehten mich von der Szene weg, gingen mit mir den schlammigen Pfad in der Nähe hoch und folgten Spark und Arabella.

»Nein!« Ich riss mich los. »Lasst ihn in Ruhe!« Zu Anita sagte ich: »Wir müssen Charles mitnehmen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das würden sie nicht zulassen. Er ist ihr König.«

»Ein angeschlagener König«, sagte ich.

»Ein angeschlagener König ist für alle Beteiligten das Beste. Das ist uns am liebsten.«

»Er braucht uns.«

»Sie werden sich um ihn kümmern. Deine Freundin braucht dich. Komm.«

Voller Zorn richtete ich die Waffe auf sie. »Scheiße, dann mach ich das eben allein.«

Anita lächelte mich an. »Alle Welt weiß, dass Sparks Pistole keine Kugeln hat.«

Selbst in meiner schäumenden Wut wurde mir da einiges klar.