Ein wenig später wachten wir wieder auf. Die Temperatur war gesunken. Jemand hatte neues Holz aufs Feuer gelegt. Es nieselte noch, aber die Wolkendecke war aufgerissen, und einzelne Sterne funkelten hindurch. Spark und ihr namenloser Jesus krochen unter unser Schutzdach. Wir vier ließen einen Joint kreisen, hörten eine Zeit lang zu, wie er von der kommenden Sintflut erzählte, den Orten in der Wüste, die dann zum Strand würden, und den untergegangenen Friedhöfen und Malls. Mit Wasser kannte sich der Junge aus. Er erklärte uns auch, der Atomkrieg wäre eine Metapher.
Ich unterbrach seinen Monolog. »Das ist keine Metapher.«
»Ich weiß, warum du das sagen musst!« Er klang sehr verständnisvoll. »Aber überleg mal einen Augenblick. Alles, was wir aus der Erde holen, verbrennen und in die Atmosphäre jagen, besteht aus Atomen, oder? Das Wort ›nuklear‹ leitet sich von ›nucleus‹ ab, der Kern.«
»Ja, und?«
»Die Materieschicht, die die Sonne verhüllt und die Delfine im Meer kocht, das ist quasi der Nuklearwinter in Zeitlupe. Hast du mal den Film gesehen, in dem Inspektor Clouseau ein deutscher Wissenschaftler im Rollstuhl ist, der alle schönen Frauen in seinen unterirdischen Atombunker bringen will?«
»Klar«, schaltete sich Arabella ein. »Mein Dad wollte den garantiert ein Dutzend Mal mit mir sehen, bevor ich zwölf war.«
»Das überrascht mich nicht. Leuten in einem bestimmten Alter bedeutet er sehr viel. Sie reden über den Kalten Krieg, als hätten sie ihn überlebt oder verhindert. Dabei ist er die Aufzeichnung von etwas, das immer noch geschieht, und wir stecken darin fest. Die Bomben sind schon gefallen. Aber sie fallen auch immer noch. Sie heißen Ford und CIA und Google. Als ich in Davos war, hab ich verstanden, dass sich diese Leute letztlich wie Inspektor Clouseau verhalten, die reichen Leute planen einen richtig sexy Bunker für die Zeit, wenn die Welt für uns andere in Finsternis versinkt.«
»Moment mal, du warst in Davos?«, fragte ich.
»Einmal, ja. Meine Eltern fliegen da jedes Jahr hin. Ich hab aber nur einen Besuch gebraucht, um alles zu verstehen. Manchmal ist es am einfachsten, man versteckt die Wahrheit vor aller Augen.«
»Und welche Wahrheit soll das sein?«, fragte ich.
»Sie gehen nicht unter die Erde. Das wäre idiotisch! Wasser fließt nach unten, nicht wahr? Sie gehen auf die Bergspitzen. Deswegen nach Davos!«
»Also, erstens glaube ich, du meinst Dr. Strangelove und nicht Inspektor Clouseau. Und zweitens glaube ich, die beiden Sachen sind nicht dasselbe.« In Wahrheit war ich nicht mal ganz sicher, welche beiden Sachen ich meinte, die nicht dieselben sein sollten, nur waren hier gerade Elemente zusammengeschwemmt worden, die ich wieder trennen musste, wenn ich logisch über sie nachdenken wollte. Möglicherweise meinte ich mein Leben. Ich saß in der Wüste und trank aus einer Gemeinschaftsschale etwas, das »Mormonentee« genannt wurde. Die Sonne ging auf, und Donald Trump war die ganze Nacht und schon ein paar Stunden des Vortags Präsident. Nicht nur schrieb ich keinen großen Essay für Harper’s Folio, ich diskutierte Peter Sellers und Davos mit einem scheckheftgepflegten Hilfsjesus, der auf einem Daturasamentrip war.
Dann sah Arabella mich an und sagte: »Zu viel Bärklären«, und wir gackerten beide los.
»Was?«, fragte der namenlose Junge beunruhigt.
»Bärklären«, sagte Arabella lachend. »Die Welt geht unter, okay, wir haben’s geschnallt.«
»Ich bin kein Bär.« Er klang ein bisschen eingeschnappt.
»Kommt aufs Selbe raus. Dann eben nur klären.«
»Sing«, forderte ich sie auf. Vielleicht flehte ich sie auch an. »Zeig’s ihm.«
Splain/rain war ein Witz, den Arabella und ich vor Monaten in Roslyns Hinterhof am Cheever Place entwickelt hatten, als das mansplaining oder Männerklären in aller Munde gewesen war. Über uns die Baumwipfel, um uns das schmale, hoch umzäunte Gärtchen, Roslyns Tulpen und Teller mit Sandwichs zum Tee. Noch bevor wir dorthin zurückflogen, brachte uns der Witz in den Garten zurück. Und das brauchte ich jetzt dringender als alles andere.
»I can’t stand the ’splain against my window …« Arabella hatte eine wunderschöne Stimme, eine ausgebildete Gesangsstimme. Bei Partys in der Saint Ann’s war sie ein paarmal als Leadsängerin einer Band aufgetreten, drei Punkmusiker, die ihr nicht das Wasser reichen konnten.
»Sing mal ›Splainy Night in Georgia‹.«
»Das kenn ich nicht.«
»Ich hab’s dir doch vorgespielt! Jetzt bin ich aber enttäuscht. Und ›It’s Splainin’ Men‹?«
»Nein, aber kennst du das hier noch? Splaindrops keep falling on my head –«
Ich stimmte ein, aber ich singe nicht besonders. Auf wundersame Weise griff auf der anderen Seite des Feuers jemand nach der Kaninchengitarre und begleitete uns, sogar mit den richtigen Akkorden, soweit mein mangelhaftes Ohr das beurteilen konnte.
Arabella sang weiter, und wir beide standen auf und tanzten ums Feuer herum. Die ersten Dämmerungsscherben flackerten über den Himmel, und der Sturm brauste mit der Nacht davon. Wir wirbelten am Rand des verglimmenden Feuers, sie in ihrem blauen Flecktarn und dem perlenbesetzten Schal, ich in meiner Juicy Couture. Ich hörte, wie ein Kaninchen aufwachte und stöhnte: »Was ist denn los?«
»Die beiden Phoebes tanzen«, bekam sie zu hören. »Sie sind glücklich.«
Die Gitarristin, eine drollige Frau mit einer Lücke zwischen den Schneidezähnen und einem Kopf wie einem Granatapfel, stand auf und tanzte mit, plinkerte aber weiter auf ihrem Instrument. Arabella improvisierte Melodien und Texte und packte ihren Gesang mit dem ganzen Melisma von American Idol voll: »Splainy splaindrops, splainy sidewalks, because we’re freaks, nothing’s worrying meeeeee –« Sie hätte die Königin von allem sein können, was sie nur wollte, nicht nur von Kaninchen oder Kaninchen-Bären; mit all der Herrlichkeit ihrer Jugend hätte sie ganze Städte erobert. Dieser Gedanke zeigte mir, dass ich insgeheim immer noch Ressentiments gegen die Wüstenbewohner hegte, auch wenn man mich inzwischen zu ihnen zählen konnte. Vielleicht hatte ich mich in meiner neuen lesbischen Lebensphase nach der Wahl nicht in meine Freundin verliebt, sondern in ihre Tochter, wenn das kein zu monströser Gedanke war – was es wahrscheinlich war. Aber ich war frei und tanzte einfach mit meinen monströsen Gedanken mit.
Ich kreischte: »It WON’T be long ’til HAPPiness steps UP to GREET me«, und es klang gut, es klang herrlich.
Die Sonne ging auf. Der Regen stoppte. Wir tanzten immer noch. Arabella wechselte zu einem neuen Song. »I can see clearly now, the SPLAIN is gone«, sang sie, und die tanzenden Kaninchen, inzwischen fünf oder sechs, fielen ein, und die anderen sahen zu und klatschten mit. Die Gitarristin kannte auch diesen Song. Donna kam den Hügel hoch und zupfte mich am Ärmel. Sie wollte mit mir zur Neptune Lodge zurück, wohin Anita und sie vor einiger Zeit verschwunden waren, ohne dass ich darauf geachtet hatte. Aber warum sollte ich auch? Mir war nicht ganz klar, was sie von mir wollte. Ging es um Heist, gab es Neuigkeiten? Nein.
»Ich glaube, da gibt es etwas, das du sehen möchtest.«
Der Downer, Shockley – lag er in den letzten Zügen? Hatten wir ihn zur Ziellinie gesungen?
Sie brachten mich zu einem kleinen Fernseher auf der Arbeitsfläche in der Küche. Die Satellitenschüssel funktionierte. Der Sender war CNN. Bilder aus den Städten im Osten, Boston, New York, Washington, alle Straßen überflutet von Menschen und Spruchbändern in jubelndem Pink. Der Protestmarsch. Ich hatte die um sich greifenden Vorbereitungen wochenlang über meinen Feed verfolgt, aber wie alles andere in der Wüste bis auf die Wüste selbst war es für mich unwirklich geworden. Jetzt war es nur ein körniger Feed, eine reine Injektion dessen, was ich gewesen war, in das, was ich geworden war. Dort waren meine Leute und zeigten, wie groß ihre bislang geheime Zahl war. Ich heulte Rotz und Wasser, als ich ihren frohlockenden Aufstand sah und wie sie mit ihren selbst gestrickten Pussymützen dem Monster ihre allumfassende Verweigerung entgegentröteten – und er, der das Zuschauen bestimmt nicht lassen konnte, tobte wahrscheinlich wie ein Kleinkind. Meine Leute waren aber auch auf dieser Seite des Bildschirms. Dass sie mich geholt hatten, um das anzuschauen, dass das alles für sie eine Rolle spielte, dadurch wurde der Marsch für mich eine Kaninchenveranstaltung, eine Erfüllung und eine Antwort auf das, was wir nachts durchgemacht hatten. Als Arabella und ich am Tag darauf am Flughafen von Ontario ankamen, fand ich eine Steckdose für mein Ladekabel, und mein wiederbelebtes Smartphone wurde von Fotos, SMS und Selfies geflutet, aber vorläufig gab es nur diese Satellitenbilder, und das genügte. Wir sahen eine Weile zu, und dann ging ich zum Morgenfeuer und zum Gesang meiner schönen Arabella zurück. »I can see all obstacles in my way –« Das war eigentlich ein viel besserer Song als der davor. Das Wort »splain« war weggefallen, es hatte seine Arbeit getan. »Here is that rainbow I’ve been praying for –« Dem Morgenhimmel fehlte der Regenbogen, aber ansonsten wurde er dem Song gerecht.
Ich holte wieder den Lippenstift aus der Handtasche. Diesmal durfte ich ihn bei Spark auftragen. Sie beugte sich vor und schloss die Augen. Arabella wollte ihn auch haben, und danach machte er wie ein Joint die Runde. »I think I can make it now, the pain is gone –« Während wir tanzten und Arabella sang, zeigten die Kaninchen auf den Hügel in der Ferne – wieder wollten sie meine Aufmerksamkeit. Ich drehte mich um und sah ein nichtmenschliches Wesen, einen Strich, der auf uns zukam – eine Klapperschlange? Mein erschöpftes Hirn zeichnete immer noch imaginäre Schlangen. Aber nein. Es war Jessie, der mit dem Schwanz wedelte. Er sprang in den Kreis der Kaninchen und mir in die Arme. Ich hatte alles, was ich brauchte.