Kapitel 45

Als ich aufwachte, war es taghell, und Arabella putzte die Küche. Sie sah mich nicht gleich. Roslyn war bis in die Puppen aufgeblieben und hatte Weißwein getrunken – das hatte ich im Halbschlaf auf der Couch mitbekommen. Arabella spülte das Glas und stellte es kopfüber aufs Trockentuch, wie ihr das beigebracht worden war. Sie spülte auch die Flasche aus und legte sie leise in den Altglaskorb, um uns nicht zu wecken.

Sie trug wieder ihre alten Sachen, ihre Highschool-Uniform, soll heißen, ein T-Shirt, das sie aus Roslyns Sammlung abgetragener Konzert-T-Shirts gemopst hatte – in diesem Fall Zappa im Fillmore East –, einen Rock über Leggins und Neckholder sowie Schnürstiefel. Genau wie das frühe Aufstehen und das Kücheputzen wirkte das als leichter Tadel, als wollte sie Roslyn sagen, wer von uns ist denn hier wohl das böse Mädchen? Es war, als wäre Arabella wieder im letzten Jahr an der Saint Ann’s und würde auf der Promenade Nelkenzigaretten rauchen.

Stattdessen reanimierte ich ein Ritual, Roslyns und meins, aber auch Arabellas und meins, das noch aus der Zeit stammte, in der ich manchmal bei ihnen übernachtet hatte. Ich zog die Sachen an, die Roslyn mir hingelegt hatte, auch diese ein New Yorker Kostüm, und es nieselte zwar, war aber nicht kalt, und wir konnten zusammen die ganze Atlantic Avenue hoch zum Iris Café gehen. Unser kleinkariertes Lieblingsfrühstückslokal, wo wir auch ohne einen Blick auf die Karte wussten, dass wir die pochierten Eier mit Paprikasalz und Avocado-Toast wollten, und wo wir einst unsere besten Gespräche geführt hatten – Roslyn und ich, aber auch Arabella und ich, allerdings nie alle drei zusammen.

Die Stimmung war natürlich im Eimer. Das hier war die neue Welt, wenn auch erst vier Tage alt. Trotzdem war es für mich eine Zeitreise in die Vergangenheit, in die Stadt, die ich aufgegeben und verloren hatte und aus der ich gefeuert worden war. Die Stadt war noch da, zumindest in ihren groben Zügen und Ritualen, nur ich nicht mehr – obwohl im Augenblick eben doch.

Arabella wartete, bis wir unsere Caffè Lattes hatten. »Als du gestern Abend unten geduscht hast, hat sie gesagt, sie hat für mich Termine bei ihrer Ärztin und ihrem Therapeuten abgemacht.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, zum Therapeuten komm ich mit, wenn sie bei der Sitzung dabeibleibt. Sie will, dass er mir Fragen stellt, aber sie hat Angst vor den Antworten.«

»Vor denen hätte ich auch Angst.«

»Wieso? Du weißt doch genauso viel wie ich.«

»Nämlich was?«

»Dass sie in den Poconos Wahlkampf für Hillary gemacht hat? Da ist sie jeden Sommer hin, immer in denselben Ort, hat sich mit ihren Verwandten getroffen, hat sich über die Einheimischen auf ihren Vorderveranden lustig gemacht und sich ihnen als New Yorkerin überlegen gefühlt. Und da ist sie vergewaltigt worden, worüber sie nie spricht. Also ich fühl mich nicht überlegen, bloß weil ich aus New York komme.«

Einige der von ihr zitierten Tatsachen waren mir bekannt, aber sonderlich sinnvoll klang auch Arabella nicht. Doch wie sie sprach, berührte mich, passte zu meinem eigenen Orientierungsverlust.

»Schaffst du’s, nett zu ihr zu sein?«

»Ja klar. Auf diese Weise red ich nur mit dir.«

Ich sah mich im Café um. Ein älteres Paar aus Brooklyn Heights las gemeinsam den Politikteil, als versteckten sich irgendwo in dessen Spalten Beschreibungen ihrer Todesstunden und -arten. Sie hätten zwei Zeitungen kaufen sollen. Das Feuilleton oder die Beilage »Wissenschaft am Dienstag« würde so bald keiner wieder lesen.

»Bist du vergewaltigt worden?«, fragte ich.

Arabella schüttelte den Kopf.

»Und es hat auch keiner versucht?«

»Solitary Love hatte mich ausgewählt. Er hatte einen Sinn für … Rituale.«

Trotz meiner Scham, als ich den Namen hörte, erboste mich plötzlich ihre Naivität. »Ist dir eigentlich klar, dass du unverschämtes Glück gehabt hast?«

»Ja.«

»Sollte ich je herausfinden, dass du dich zum Schutz vor solchen Männern auf einen Sinn für Rituale oder sonst einen mystischen Bockmist verlässt, komm ich vorbei und erwürge dich höchstpersönlich, kapiert?«

»Ja.«

»Warst du auf dem Baldy, als sie ermordet wurden?« Für meine innere Nancy Drew war es unerlässlich, dass sie meine Frage verstand. Meine innere große Schwester hatte keine Lust mehr, sie vor dem zu beschützen, was ich gesehen hatte.

»Nein, aber ich hab davon gehört.«

»Du warst mit einem Mädchen namens Sage zusammen, oder?«, erinnerte ich sie sanft.

»Ja, das weiß ich noch.«

»War sie mit den Jugendlichen auf dem Berg befreundet? Den Ermordeten?« Ich sah noch nach der Frau aus, die ich gewesen war, eine ledige Neurotikerin mit Eierstöcken in Torschlusspanik und einem Lieblingscafé. Mein wahres Selbst schwebte noch unbestimmt über den Szenen des Wahnsinns. Mein Zivilistenkörper war insgeheim die Bodenstation eines Drohnenpiloten und navigierte per Fernbedienung einen Augapfel über das Gelände, Abraumhalden, Schotterbetten und Höhenlichtungen zwischen Kiefern.

»Sage war wie ich«, sagte Arabella. »Sie war auch neu. Wir hatten die Wüstenmenschen gerade erst kennengelernt.«

»Und die beiden Toten waren nicht neu?« Ich war nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte.

»Sie waren schon in der Wüste gewesen. Dein Freund Heist hatte ihnen wahrscheinlich bei der Flucht geholfen.«

»Weil sie keine Bären oder Kaninchen werden wollten?«

Sie nickte.

»Schade, denn als das sind sie gestorben.« Ich merkte, wie grausam ich klang, als steckte die Grausamkeit, die ich erlebt hatte, jetzt in mir und suchte ein Ventil.

Arabella zuckte zusammen, fing jedoch nicht an zu weinen. Aber in dem Moment glaubte ich ihr, dass sie nicht am Tatort gewesen war. Für sie war es vielleicht nur ein Gerücht gewesen. Ich ließ dessen Bestätigung einen langen Augenblick bei ihr sacken, bevor ich wieder ansetzte.

»Was wollen die Bären auf dem Berg?«

Mit dem Aussprechen der Frage kannte ich die Antwort. Sie war in den Datura-Monologen von Sparks Freund vergraben gewesen, seinen Bärklärungen. Er hatte sogar gesagt, die Wahrheit würde vor aller Augen versteckt, aber bis zu diesem Augenblick hatte ich sie nicht gesehen. Die Bären wollten nicht etwas auf dem Berg, sie wollten den Berg selbst. Er war verteidigungsfähiges Hochland, ihre Davoser Redoute.

»Sie klangen, als wären sie da oben angestellt«, sagte Arabella und zuckte wieder die Schultern. »Als wären sie eine Art Wachschutz der Koreaner.« Sie erzählte mir alles, was sie wusste, aber inzwischen wusste ich mehr. Die Eigentümer der Anlage hatten auf dem Baldy ein fatales Geschäft abgeschlossen, vielleicht vergleichbar dem Irrtum der Rolling Stones, als sie die Hells Angels als Sicherheitspersonal in Altamont eingestellt hatten. Einmal eingeladen, hatten die Bären etwas gesehen, was sie haben wollten, weil sie es bei der bevorstehenden Sintflut brauchen würden. Jahrelange Träume vom Weltuntergang waren auf die Paranoia der koreanischen Überlebenskünstler gestoßen und hatten diese als dringenden Weckruf verstanden, als Aufruf zum Handeln. Nur das Drängen war übertrieben. Die Bären waren sterbende Hippies und wie der Downer Shockley davon überzeugt, mit ihrem Tod würde auch die Welt untergehen.

»Was machst du jetzt?«, fragte ich.

»Ich bleibe bei ihr, bis ich unbesorgt aufbrechen kann.«

Vielleicht wurde der Latte im Iris Café mit Daturasamenextrakt angereichert, vielleicht hatte ich aber auch nur meine Synapsen sperrangelweit aufgerissen und war offenbarungsaffin. Koffein reichte eigentlich als Droge. Ich dachte, ich wäre nach Upland gegangen, um Arabella zu retten, aber es war andersrum gekommen. Ich hatte Arabella nur geholt, um Roslyn ihrer Obhut anzuvertrauen, nicht umgekehrt. Der Gedanke erinnerte mich an die seit einiger Zeit zirkulierende Theorie, der Frühmensch hätte die wilden Hunde nicht domestiziert, sondern wäre seinerseits von ihnen domestiziert worden.

»Wohin aufbrechen?«, fragte ich sie. »Zurück zu den Kaninchen?«

»Eher weniger. Vielleicht nach Kanada. Ich habe jemanden kennengelernt, der abgehauen und nach Halifax gegangen ist. Da gibt es gute Musik.«

»Du singst immer noch wunderschön.«

»Oder auf eine griechische Insel. Da hab ich mich noch nicht entschieden.«

»Leonard Cohen, hm?«

Sie zuckte die Schultern.

»Macht übrigens nichts, wenn du dich Phoebe nennst.«

»Das ist auch nicht direkt das Schrägste, was ich je getan hätte.«

»Das hab ich auch nicht behauptet.« Ich wurde von etwas am Himmel vor dem Fenster abgelenkt: ein Kondensstreifen. Wie viele ungelesene Botschaften entfalteten sich wohl stündlich über New York?

»Was machst du jetzt wegen Charles?«, fragte Arabella.

Damit hatte sie mich kalt erwischt. Es war ja nicht so, dass ich ihn aus meinem Leben gestrichen hätte, aber ich wusste nicht, dass meine Absichten mir so offen anzusehen waren. Vielleicht hatte Arabella sie aus einem flüchtigen Kondensstreifen herausgelesen.

»Ich geh natürlich zurück und such ihn«, sagte ich.