Kapitel 52

Als die Straße vor uns dunkel wurde, kuschelten sich Melinda und die Hunde hinten zusammen und schliefen. Ich hoffte die ganze Zeit, mein goldenes Mädchen würde wieder auftauchen – die Frau auf dem Motorrad, meine Botschafterin der Wüste, als ich das erste Mal mit Heist hier gewesen war. Wenn ich sie wiedersähe, wüsste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Aber nein.

Die einzige Stimme im Jeep gehörte Laird. Er saß in seinem Poncho da, starrte geradeaus und intonierte wie ein schonungsloses reizbares Navi: »Nein, da lang«, »Vielleicht tankst du hier noch mal, danach kommt nichts mehr« oder »Ich hab doch gesagt, immer weiter geradeaus«.

Unter seiner Anleitung waren wir früher, als ich erwartet hatte, von der Hauptstraße abgebogen, durchquerten Richtung Norden Nester, die Namen wie Hesperia oder Victorville trugen, und dann wieder nach Osten auf zwei Asphaltspuren, die sich Old Woman Springs Road nannten. Von dort aus ging es weiter durch Geröll und Schotter, wofür der Jeep eigentlich geschaffen war. In unserem Rücken malte die Sonne einen fernen orangefarbenen Reif, als wir die letzten Straßen mit Namen hinter uns ließen und in die Sand- und Grusbäche hineinschuckelten.

»Sollten wir bei den Reifen Luft ablassen?«

Ich war stolz darauf, mit Wüstenkunde protzen zu können, aber Laird tat sie desinteressiert ab: »Wir fahren noch nirgends hoch.« Dann verstummten wir wieder, unsere Scheinwerfer leuchteten einen Tunnel in die gelbe Abenddämmerung, unsere Spuren kreuzten immer wieder Palimpseste anderer Fahrzeuge, die hier durchgekommen waren, aber ob vor einer Stunde oder einem Monat, hätte ich nicht sagen können. Und wenn Laird ein begabter Fährtenleser war, ließ er sich das nicht anmerken.

Ich fühlte mich zugleich ausgeleert und komplett. Mein aufgedrehter Spruch vom Übergepäck hing noch in der Luft, für mich jedenfalls. Nach seinem Äußeren zu urteilen, hatte Laird sein Leben lange nicht mehr in Bezug auf Gepäck betrachtet, falls überhaupt je. Zusammen mit seiner Aura eines Thoreaus von der Baubrache, seinen Secondhand-Adidas und dem Bestseller war er genau der richtige Begleiter für meine gegenwärtige Stimmung. Das Mädchen, das kündigte war das Mädchen, das abstieß geworden.

Die alte Platzangst hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne dass ich etwas gemerkt hatte, und war ersetzt worden: Ich war richtig Feuer und Flamme, mich wieder in die Mojave abzusetzen, und je weniger Straßenschilder, desto besser. Im Augenblick konnte ich weder Städte brauchen noch Familien oder Stämme. Diese Rumpfmannschaft – Melinda, die Hunde und Laird – war das Maximum an Lebewesen, das ich ertragen oder versorgen konnte. Ich wollte Arabella anrufen und mich dafür entschuldigen, dass ich sie aus diesem Wunderland der Leere unter dem Himmelszelt verscheucht hatte. Nur tat ich das nicht, weil ich niemanden anrufen wollte. Ich kontrollierte auch mein Smartphone nicht mehr. Der Jeep war zu meinem eigentlichen Körper geworden.

Als man ihm im November des letzten Jahres die Maske abgerissen hatte, als der Wurm in der Knospe angekommen war, wusste ich noch, hatte auf meinem Nachttisch eine Zeitschrift mit einer Karikatur auf dem Titel gelegen, die zeigte, wie der Mann, den ich jetzt Präsident nennen musste, wie ein Zauberkünstler einen Elefanten entzweisägte. Der Elefant war die Republikanische Partei. Wie sehr wir uns doch genau das von ihm gewünscht hatten! Unsere Zuversicht war ekelhaft – sie war selbst die Krankheit. Am Morgen hatte ich die Zeitschrift ins Altpapier geworfen, weil mich die Artefakte unseres damaligen Scharfsinns anwiderten. Danach hatte ich das Internet wochenlang Tag für Tag nach einem neuen und besseren Scharfsinn abgesucht, der mich wieder hätte ausfüllen können. Die Krankheit steckte immer noch in mir, war aber zum Trauma geworden.

Vielleicht war das meine Erfahrung der Leere, die Stephanie mir an dem Abend in Culver City in Aussicht gestellt hatte. (Ob Stephanie jemals wirklich wie ich eine solche Erfahrung gemacht hatte? Wohl eher unwahrscheinlich!) Aber dafür hatte ich ein Ziel gefunden, nicht im Versuch in Cobble Hill, Arabella wieder in ihrer alten Welt Wurzeln schlagen zu lassen, sondern im Kondensstreifen hierher zurück, um Heist zu finden.

In der neuen Welt war er der einzige Partner, den sich ein Mädchen wünschen konnte. Ein ungezähmtes Wesen aus den Zwischenräumen, ein von allen Lagern überlasteter Widerstand, der unnötige Kämpfe ablehnte, den Schwachen mit unendlicher Güte begegnete, aber zum Töten bereit war, wenn er mit dem Rücken an der Wand stand. Ich würde Heists anderer werden. Jetzt verstand ich ihn, sein Bedürfnis nach Distanz, seine noble Abstandnahme – seit wir das teilten, konnte er sich auf mich zubewegen.

Außerdem musste ich aufhören, Laird immerzu so raschelig auf die sehnigen Unterarme zu starren, weil er nun so etwas wie mein jugendlicher Adoptivsohn war. Wie viele ausgewachsene Jugendliche ging er seiner Mom zur Hand, holte ihr meinetwegen ein Gefäß aus dem obersten Regal oder schraubte zu feste Gläser auf – das entsprach seinen Mühen bei dieser Rettungsmission. Wie viele ausgewachsene Jugendliche war er aber auch auf liebenswerte Weise mürrisch. Und Melinda konnte in unserer wilden Familie Lairds kleine Schwester werden. Wenn ich Heist erst gerettet hatte, konnten wir beide uns um diese beiden kümmern und um unsere herrlichen Hunde auch. Dass solche Gedankengänge völlig verrückt waren, machte sie nicht weniger tröstlich. Wir lebten in einer verrückten Scheißwelt. Vielleicht schaltete ich mit solchen Gedanken bei meiner Expedition genau in den richtigen Gang.

Es versteht sich von selbst, dass diese Epiphanien und Selbsttäuschungen daran gekoppelt waren, ein PS-starkes Fahrzeug durch die stille Dunkelheit zu fahren. Schwierig würde es, sie nach Ende der Nachtfahrt aufrechtzuerhalten, wenn ich die Bären gefunden hatte und das, was von Heist noch übrig war – vorausgesetzt, Laird konnte das überhaupt bewerkstelligen und ich konnte ihn kontrollieren (meinen adoptierten Fantasiesohn).

Vielleicht war ich die Entzweigesägte.