Kapitel 58

Laird hielt Wort. Es dämmerte, als er wieder einstieg und den Jeep startete. Melinda, die Hunde und ich huschten noch schnell zum Pinkeln hinaus, und er ließ den Motor laufen, bis wir zurück waren. Die Sonne ging gerade erst auf, aber der Wind war nicht abgeflaut, und es war kälter als die ganze Nacht über, hatte ich den Eindruck. Auf der Windschutzscheibe lag eine dünne gelbe Schicht von dem hauchfeinen Wüstengrieß, demselben Staub, den die Geländefahrzeuge im Wohnwagencamp in Schwaden hinter sich hergezogen hatten. Ich hätte Wasser auf die Scheibe gesprüht und die Scheibenwischer laufen lassen – und wohl auch das Radio ausprobiert –, aber ich saß nicht am Steuer. Melinda und ich teilten uns eine Wasserflasche mit den Hunden. Laird fuhr bloß.

Er hatte zwar bemerkt, es sei die Lebensgrundlage der Älteren geworden, aber als die Jahrmarktsaufbauten vor uns auftauchten, wirkten sie verfallen und strahlten ganz entschieden ein »Schaut auf mein Werk und verzagt« à la Ozymandias aus. Die Hüpfburg war zusammengefaltet und halb von einer grünen Plane bedeckt, die an acht oder zehn Stellen mit Felsbrocken beschwert worden war, im Wind aber trotzdem wie wild knatterte. Alles andere war unbewegt und schien lang verlassen. Die Karusselle erinnerten an Einsiedlerkrebse, die sich in ihre Behausungen zurückgezogen und die Gliedmaßen eingezogen hatten, um den Attacken des Winds standzuhalten. Zwei der ramponierten und rostigen einsitzigen Raumfähren, in denen sich Kinder im Kreis drehen konnten, hatten sich aus ihren Verankerungen gelöst. Sie waren halb im Sand vergraben, lagen einsam und verlassen da, als warteten sie auf eine Welle, die niemals kommen würde, um sie hüpfend mit sich fortzutragen. Am Rand der Anlagen parkten zwei Pritschenwagen, mit denen die Karusselle offenbar transportiert werden konnten, sahen aber genauso reglos und bekümmert aus wie die Raumschiffe.

Das Riesenrad bildete wenigstens einen rechten Winkel zur Erdoberfläche. Es stand ein Stück abseits auf einem Hügel neben einem fensterlosen Lagerschuppen. Es sah genauso verlassen aus wie alles andere, anders als dieser Rest überragte es die Szene aber und wahrte eine gewisse träge Würde. Vielleicht war es der letzte Verkaufsschlager im Arsenal der Bären, auch wenn man sich kaum vorstellen konnte, dass es auch nur die Benzinkosten wieder einbrachte, die sein Transport durch die endlose Wüste verursachte.

Wir waren etwa eine halbe Stunde bis zum Jahrmarkt gefahren, entlang einer kaum erkennbaren Strecke, an der es nur spärliche Spuren menschlichen Lebens gab: umgekippte Straßenschilder, ein verrosteter Benzinkanister, eine erkaltete Feuerstelle, um die herum Bierdosen verstreut lagen. Der Jahrmarkt lag an einer Öffnung zwischen herabgestürzten Felsen, die aus Resten eines alten Straßenbetts bestand – zerbröckelter Asphalt, von Zeit und Unkraut aufgesprengt, jetzt abgesperrt von Stacheldrahtzaun und einem Schild privat. Die Straße verlor sich zwischen den unregelmäßigen Blöcken. So viel landschaftliche Vielfalt gab es kilometerweit nicht zu sehen. Hinter den Felsen, vielleicht einen knappen Kilometer weit weg, stiegen graue Rauchwölkchen auf. Sie konnten regelmäßig aus einem Schornstein aufsteigen oder von einem Morgenfeuer stammen.

Am Stacheldrahttor hielt Laird den Jeep an. Ich las das Kleingedruckte auf dem Schild. Es ging um Schürfrechte. Laird riss das Lenkrad herum und wollte am Zaun vorbeifahren.

»Können wir einen Augenblick stehen bleiben und reden?«, fragte ich.

»Was denn, jetzt?«

»Ein bisschen die Beine vertreten.«

Melinda nahm das Stichwort auf, stieg aus und zog mit den Hunden los. Laird schaltete den Motor ab. Der Tank war noch halb voll, aber ich dachte weiter als das. It’s too late to stop now. Die Luft war plötzlich voller Insekten, ein seltsamer Schwarm, aber nichts stach uns. Ich wedelte sie trotzdem weg.

»Fliegende Ameisen«, sagte Laird. »Im Winter suchen die sich normalerweise keine neue Bleibe.« Wieder mal bekam ich unter die Nase gerieben, dass jeder andere diese Wüste besser kannte als ich. »Müssen von der Flut ausgespült worden sein.«

»Fluten folgen dir anscheinend auf Schritt und Tritt.«

Er sah mich durchdringend an. Ich schnippte mir eine Ameise von der Wange.

»Was liegt da vorne?« Ich nickte zum Eingang zwischen den Felsen hinüber.

»Ein Bergarbeiterlager. Ein paar alte Baracken. Kann gut sein, dass sie Charles da untergebracht haben, besonders wenn er so verletzt ist, wie du sagst. Außerdem hoff ich, dass es da Frühstück gibt. Ich kann nämlich nicht nur von Adrenalin leben wie du.«

»Ich will da nicht so direkt rein.«

»Wenn du nicht mit deinem Regenschirm drüber wegfliegen willst, geht’s nur direkt.«

»Ich kann nicht.«

»Dann solltest du vielleicht mal verraten, was du bisher nicht verraten hast.«

»Sagt dir der Name Solitary Love was?«

»Der neue König, ne? Der Gruseltyp? Hab ich aber nie kennengelernt. Ist jetzt wohl die Gelegenheit.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er ist getötet worden. Ich war daran beteiligt. Die Bären haben mich nur nachts gesehen, aber …«

»Ja, Scheiße aber auch, Mary Poppins.« Er drehte den Kopf in verschiedene Richtungen der Windrose wie eine große kahle Eule. »Wolltest du mich etwa für Charles eintauschen? Hast dir gesagt, ein großes hässliches Problem ist so gut wie das andere?«

»Das hab ich nie auch nur gedacht.«

»Dann verrat mir jetzt mal, was du dir gedacht hast.«

»Die sind paranoid, stimmt’s?«

»Inwiefern?«

»Sie glauben an Kondensstreifen, schwarze Helikopter und was weiß ich was sonst noch alles – das weißt du besser als ich.«

»Paranoid bin ich auch.«

»Das können wir gegen sie verwenden«, sagte ich und versuchte verzweifelt, seine letzte Bemerkung zu ignorieren. »Ich weiß nur noch nicht, wie.«

»Kannst du schwarze Helikopter kommen lassen? Gehörst du zu den Bullen, Mary Poppins?«

»Nein.«

»Hast du die Bullen gerufen

»Nur ein bisschen. Und nicht in die Wüste. Ich hab sie zum Berg geschickt.«

»Du bringst mich durcheinander. Ich geh da rein und schau mal, ob Charles meine Hilfe braucht, ja? Wenn du willst, kannst du ja hier warten.«

Ich sah mich nach Melinda um. Sie war nicht zu sehen. Miller und Vakuum liefen den Hügel hoch Richtung Riesenrad. Die neue Sonne schien durch dessen Speichen und Verstrebungen und blendete mich. Ich sah daher in den Himmel hoch und suchte nach Zeichen, nach Kondensstreifen, mit denen ich eine Bärenhöhle einschüchtern konnte, indem ich vorgab, die Deutungshoheit gepachtet zu haben. Der Himmel war leer. Wind und Beschämung scheuerten mir das Gesicht auf. Hier fing ich von vorne an, genau wie bei Heist. Die Frau wartete an der Seitenlinie auf Ergebnisse, während der Mann für sie in die Bresche sprang. Auch ich hätte ein Korsett tragen und auf die Gelegenheit warten können, mit Blumentöpfen um mich zu schmeißen.

»Kommst du zurück?«

»Es gibt keinen anderen Weg da raus. Ich fahr dir schon keine Delle in die Karre.«

»Eindellen kannst du die, so viel du willst. Hauptsache, du bringst Charles da raus.«

»Wenn er da überhaupt drin ist.«

»Wenn er da überhaupt drin ist.«

»Sonst schaff ich’s vielleicht, Frühstück mitzubringen.«

Laird startete den Jeep wieder und umkurvte den überflüssigen Zaun. Ich sah ihm nach. Schon bevor er zwischen den zusammenwachsenden Felsen verschwand, hüllten ihn die gelben Staubwolken ein.