Solange das Riesenrad schepperte, schrie ich auf den Rücken ein, den er uns zugekehrt hatte, bis ich das Gefühl hatte, ich müsste mich gleich übergeben. Dann waren wir oben am Himmel, ich sah den Lieferwagen und verstummte. Erreicht hatte ich nur, dass die Hunde rasend wurden.
»Alles klar?«, fragte Melinda.
»Alles in Ordnung.« Ich hatte mir die Kehle heiser geschrien.
»Tut mir leid.«
»Du musst dich für nichts entschuldigen.«
Er stand da unten, starrte zu uns herauf und beschirmte die Augen mit einer Hand. Dass ich keinen Ton mehr von mir gab, machte ihn anscheinend neugierig. Ohne jede Angst streckte er die Hände aus, legte sie den Hunden auf die Köpfe und beruhigte sie. Die Geste erinnerte mich unweigerlich an Heist. Miller und Vakuum hörten auf zu bellen, duckten sich allerdings unter seinen Händen weg, liefen winselnd im Kreis und suchten eine bessere Sicht auf uns oder eine Treppe in den Himmel, die es nicht gab.
»Hast du den schon mal gesehen, Schatz?« Ich sprach aus verschiedenen Gründen leise. »Vielleicht im Schwemmkegel?«
»Ich bin nicht oft im Schwemmkegel.« Sie schien in die Defensive zu gehen.
»Keine Angst, das war nicht als Vorwurf gemeint.«
»Ich hab dich da nur hingebracht, weil ich wusste, dass der Bär da ist.«
»Meinst du Laird?« Wusste Melinda gar nicht, wie er hieß? Vielleicht kannte sie gar nicht so viele Namen und meinen auch nicht. Warum auch? Vielleicht reichte es, dass sie überhaupt sprechen konnte.
»Ja. Der, der uns hergefahren hat. Wenn der jetzt doch bloß hier wäre.«
»Das wünsch ich mir auch, Liebling.« Ich konnte es nicht lassen, sie Schatz und Liebling zu nennen. Bei extremem Stress verwandelte ich mich offenbar in meine Mutter.
»Habt ihr’s bequem?«, rief der Mann da unten. Der Wind hatte nachgelassen, und die quietschenden Drehungen unserer Kabine hatten aufgehört. Der Schwarm der fliegenden Ameisen hatte uns hier oben entdeckt, und ich konnte ihre schwirrenden Flügel hören, manchmal auch ein ganz leises Plingen, wenn ihre Körper vom Gitter abprallten. Miller und Vakuum hatten sich auf ein tief aus den Kehlen dringendes Knurren verlegt. Die Stimme des Manns war erstaunlich gut zu hören.
»Nein!«, schrie ich zurück.
»Normalerweise dreht es sich immerzu!«, rief er. Selbst wenn er schrie, lag ein Grinsen in seiner Stimme. »Ich würd’s Ihnen zu gern zeigen! Das ist die beste Veranschaulichung der drei Drehungen des Dharmarades!«
»Ich weiß, wie ein Riesenrad funktioniert, danke, kein Bedarf«, schrie ich zurück. »Und ich bin gerade nicht in Stimmung. Lassen Sie uns runter!«
»Tut mir leid, geht nicht.«
»Ich ruf die Polizei.« Mein Smartphone hatte natürlich gar kein Netz. Meine Versuche leerten nur den Akku, und daher hatte ich es abgeschaltet.
»Nur zu, aber ich glaube, das Dharmachakra können auch die Bullen nicht beeinflussen!«
»Mit Ihnen red ich gar nicht mehr.«
»Geht in Ordnung, wir reden später!«
Die Sonne stieg. Noch waren wir höher als sie. Hinter den Felsen, wo Laird und der Jeep verschwunden waren, war nichts zu sehen. Unser Knarzen nahm ab, bis wir ganz still dahingen. In dieser Reglosigkeit hatte ich jetzt das Gefühl, das größte Risiko für uns wäre die schiere Höhe. Die Gesamtstruktur des Riesenrads, seine Ansicht als Fahrzeug, verflüchtigte sich; dafür bekam ich das Gefühl, dass wir ganz oben an einer riesigen kopflastigen Fahnenstange hin- und herschwankten, und das war insofern unheildrohender, als es kaum zu spüren war. Unten latschte unser Geiselnehmer herum, die Hunde tobten und kläfften, und der Staub kräuselte sich. Mir wurde schlecht, wenn ich hinabsah, aber ich konnte es nicht lassen.
»Wer ist das?«, flüsterte Melinda. Sie schmiegte sich an mich und war erstaunlich zierlich. Sie roch nach warmem Brot – okay, Sauerteig.
»Weiß ich nicht.« Flüstern konnte ich nicht nach dem, was ich meiner Kehle angetan hatte. Aber murmeln ging, eine Stimme nur für sie. »Ich bin ziemlich sicher, ich hab ihn auf dem Berg gesehen. Seinen Lieferwagen auf jeden Fall. Ich glaube, er kidnappt Ausreißer und Straßenkinder im Zendo und vielleicht auch im Schwemmkegel.« Dass er ihnen manchmal vielleicht auch die Kehlen aufschlitzte, verschwieg ich ihr lieber. »Gut, dass du ihn nie getroffen hast.«
»Warum lässt er uns nicht runter?«
»Er benutzt das Riesenrad als Gefängnis.« Als Tatsache verinnerlichte ich diese Erkenntnis erst, als ich sie aussprach.
»Am liebsten würd ich runterklettern und ihm den Schädel einschlagen.«
»Ich auch, Spätzchen.« Meine abgeschmackte Herablassung richtete sich eigentlich gegen ein Kind in mir selbst, das in Panik geriet, weil es am Himmel gefangen war. Konnte man gleichzeitig agoraphob und klaustrophob sein? Ich hatte Angst vor dem Berg gehabt und davor, wie er ins Blau ragte, zwei abstoßende Leeren. Jetzt war ich der Berg. Es stank mir, der Berg zu sein. Hier oben konnte man nur Angst vor der Sonne haben. Alles widerte mich an, das Schwindelgefühl und meine Hilflosigkeit.
»Ich hab ein Sondereinsatzkommando gerufen«, brüllte ich zu dem Mann auf dem Boden hinunter. »Die sind schon gleich hinter dem Hügel.« Mein Blick schweifte über die Ödnis, wo meine leere Drohung partout keine Gestalt annehmen wollte, und plötzlich musste ich an meine Zweigschwester Lorrie denken.
»Das Instant Karma soll dich holen!«, kreischte ich und hielt Melinda dabei die Ohren zu.
Seine Antwort beschränkte sich auf ein »Interessant!«.
»Haben Sie keine Angst?«
»Komisch, ne? Ich hab nur Angst vor dem, was ich sehen kann!«
»Wir müssen aufs Klo.«
»Das fällt einfach durch! Aber hey, ich stell Sie so ab, dass Sie mir nicht aufs Getriebe scheißen! Nur zu, ich kuck auch weg!« Er schaltete den Motor des Riesenrads wieder ein und stieß den Hebel in die Gegenrichtung, sodass wir rückwärts ruckten. Ich kreischte. Die Hunde jaulten. Wir stiegen einen Viertelkreis ab und hielten wieder an. Den Abstand zum Erdboden hatten wir halbiert, aber jetzt schwebten wir über dünner Luft und einem felsigen Bachbett.
Die Fahrzeuge hinter dem Schuppen konnten wir nicht mehr sehen, und aus dem Schatten einer riesigen Verstrebung des Riesenrads waren wir raus, sodass unsere Kabine jetzt in der prallen Sonne lag – keine Verbesserung.
»Was ist mit Wasser und Essen?« Aus dieser Höhe konnten wir uns mit fast normaler Lautstärke unterhalten, und das Tuckern des Motors stellte er jetzt auch wieder ab.
»Später«, sagte er zerstreut.
Die Vierteldrehung schien Miller und Vakuum aufzuwühlen. Wir waren näher gekommen, aber sie führten sich auf, als hätte sich auf der anderen Seite etwas Kostbares von ihnen entfernt. Hatte es vielleicht auch. Gab es außer uns noch andere Gefangene? Ich blinzelte durch das sonnendurchloderte Innenskelett und versuchte zu erkennen, ob noch mehr Insassen in ihren Gondeln verschmachteten. Vielleicht kommunizierten sie nachts mit Scharnierquietschern in einem eigenen Morsecode. Vielleicht konnte ich sie zu einer Revolte anstacheln. Aber in die ferneren Kabinen konnte man nicht hineinsehen – wobei: in die näheren auch nicht.
Nachdem wir dem Fettsack näher gekommen waren, schlängelte sich Melinda von meinem Schoß, schnallte sich ab und drückte sich an die andere Kabinenseite. Etwas stieg aus ihrer Kehle auf, ein Gurgeln oder Schluchzen, das sich nicht entscheiden konnte, ob es ein Jaulen oder Knurren werden wollte. Bevor ich schalten konnte, kletterte sie am Vordergitter hoch. Erst dachte ich, sie hätte einen Panikanfall. Ich hatte Angst, sie anzufassen und in Sicherheit zurückzuziehen – vielleicht war ich auf der falschen Seite der Käfigstangen gefangen, zusammengesperrt mit einem Wesen, das das Konzept Gefangenschaft nicht begriff. (Ich war ja wenigstens in einem New Yorker Apartment groß geworden.)
Aber nein. Melinda klammeraffte zur breiten Naht oben im Gitter hoch. Passte sie da vielleicht wirklich durch? Nachdem ich auf dem Schoß gespürt hatte, wie schmal ihr Silberfischkörper war, wäre ich jede Wette eingegangen, dass nur ihr Kopfumfang sie behinderte. Nur wäre ihre Belohnung dann, sich an der Außenseite eines in der Luft hängenden Metallkorbs festzuklammern, was mir eine Heidenangst einjagte.
Ihr Vorstoß versetzte unsere Kabine wieder in Schwingungen und erzeugte auch ein Quietschen, was bei den Hunden ein Reiz-und-Reaktions-Spiel auslöste. Unser Schließer sah hoch. Melinda erstarrte wie ein Insekt, das sich tot stellt.