Die Zeit sickerte unaufdringlich ins Zimmer zurück. Ich würde für dieses Privileg bezahlen, spätestens, wenn das Limit meiner Kreditkarte überzogen war. Heist und ich streichelten uns immer noch, wie man das macht, wenn man das Streicheln einfach nicht lassen kann. Etwas musste geschehen, aber noch nicht.
»Wie heißt das Hotel hier?«, fragte er.
»Two Bunch Palms.« Plötzlich klang das wie Du Tarzan ich Jane. »Pass auf, wir können rausgehen, hier ist es sicher.« So wie ich mir das vorstellte, brauchte er offene Weiten, um sich beschützt zu fühlen, nachdem er in der Kabine des Riesenrads eingesperrt gewesen war. Einen Häftling leimt man, indem man ihm einen Gefängnishof gibt, wo er im Kreis laufen kann. »Wir können in den Bademänteln bleiben. Es gibt einen Teich.« Jetzt bezog ich mich auf die Google-Bildsuche; auf der Fahrt an den Außenrand dieses Paradieses hatte ich keine Wasserflächen gesehen. »Wir können uns ans Wasser setzen.« Ich merkte, dass ich wieder zu plappern anfing, und versuchte, mich zu drosseln.
»Okay«, sagte er.
»Hast du Hunger? Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.« An der Rezeption hatte ich gesagt bekommen, man müsse im Restaurant nicht reservieren, sondern könne einfach vorbeikommen.
»Ja. Aber noch nicht jetzt.«
»Gehen wir spazieren?«
Wir zogen die Bademäntel und die bereitgelegten Schlappen an und gingen nach draußen. Wir fanden den Teich sofort. So läuft das im Paradies. Einen Teich mit zwei eingeebneten Rasenböschungen und leeren Liegestühlen, die auf uns warteten. Der Teich war voller Enten, die keine Angst vor uns hatten, und wenn man eine Weile dagesessen hatte, merkte man, dass es nicht nur Enten gab. Auch Schildkröten schoben sich in Zeitlupe aus dem Schilf und suchten sich Stellen im Gras, nur ein winziges Stück von der Sicherheit des Wassers entfernt. Die Schildkröten hatten keine Angst vor den Enten; niemand hatte Angst vor irgendwem. Enten und Schildkröten, zwei Spezies, mit denen sich eine neue Zivilisation begründen ließ.
Es war Spätnachmittag geworden. Andere Gäste flanierten in weißen Bademänteln vorbei, hauptsächlich ältere Frauen in Paaren, aber ich wollte nicht die Nase rümpfen. Hier hatten wir alle, was wir brauchten, was man nur brauchen konnte. Ich hoffte, Heist hatte einen Sinn für die Pracht, in die ich ihn gebracht hatte. In der Wüste musste es nicht nur Entbehrung geben. Eine Art wildes Geschick hatte sich hier ausgetobt, und niemand musste sich zwischen der ursprünglichen geschundenen Landschaft und diesen Verzauberungen entscheiden, auch ich nicht. Man brauchte nur eine natürliche und unerschöpfliche Wasserquelle und Landschaftsgestaltung für rund zehn Millionen Dollar sowie eine Hausmasseurin und ein paar Schamanen.
Aber ich konnte natürlich wieder mal nicht die Klappe halten. Ich hätte mich darauf beschränken sollen, ihn ab und zu zu küssen, was er sich in seiner Toleranz hatte gefallen lassen. Stattdessen knetete ich ihm die glatten Wangenknochen, die Lippen und das Kinn mit dem Daumen, als wären sie aus Marmor gehauen und nicht nur mit einem Wegwerfrasierer traktiert worden.
»Mein schöner Flüchtling«, flüsterte ich. »Ich sollte dir auch noch die Haare bleichen.«
»Ich bin kein Flüchtling.«
»Nicht du. Wir beide.« Denk doch nur an all die Ausreißer, die wir sein könnten!, wollte ich sagen und hatte Liebespaare im Film vor Augen, die allen Fallstricken der Zivilisation entkamen und auf Pferderücken oder in einem Ford Galaxy ihr eigenes Reich fanden. Nach allem, was wir gewesen waren und getan hatten, musste ich unser Abenteuer zu einer ganzen Welt aufblähen, die die verloren gegangene ersetzen konnte. Bevor die unausgereifte Vision in sich zusammenfiel, versuchte ich, Heist auf seiner Ebene zu bearbeiten, versuchte, lakonisch zu bleiben: »Du kannst nicht zurück. Sie suchen dich.«
»Ich verstecke mich nicht.« Er klang recht resolut.
Ich flüsterte wieder, als wäre die Landschaft verwanzt. Die Enten wirkten nicht organisiert genug, aber den Schildkröten traute ich nicht. »Wir haben ihn ermordet, Charles. Vielleicht haben wir beide ermordet.«
Wurde es mehr oder weniger wirklich, wenn man es aussprach? Es war wirklich genug. Vielleicht war es ein großer Fehler gewesen, diese Oase der Stille aufzusuchen. In mir konnten immer noch Entsetzen und Zorn an die Oberfläche steigen. Vielleicht gehörte ich in den Wirbelwind aus Schweiß und Feuer und nicht in einen weichgespülten Bademantel. »Verstehst du überhaupt, wovon ich rede?«, fragte ich, und es kam zischender heraus, als ich vorgehabt hatte.
Ich werde es wohl anders nennen als du.«
»Du gehörst eben zur ›In der Wüste gehn halt Sachen schief‹-Schule.«
»Manche Menschen leben und sterben leichtsinnig. Dafür trägst du keine Verantwortung.«
»Und du?«
»Wenn sich jemand rechtfertigen muss, dann ich.«
»Ich hab genug von deinem gottverdammten Edelmut, Charles.« Es war leicht zu sagen, was ich nicht wollte.
»Der zweite, Apollo –«
»Der hat bestimmt eine total süße Vorgeschichte, aber ich will auch nicht über Paul Apollo reden.« Selbst wenn wir das Thema des abgestumpften buddhistischen Geiselnehmers und sein Unglücksrad fallen ließen, lag dahinter etwas Grässliches und Unaussprechliches, merkte ich: Solitary Love oder wie immer er wirklich geheißen hatte. Ein Veteran und Gefängnisinsasse und am Ende ein gigantisches Schmerzenskind. Er hatte es weder mit den Bären aufnehmen können, die ihn eine Zeit lang auf ihren Königsthron gesetzt hatten, noch mit meinem Hupen und Heists Stein. Mein Entsetzen kam zurückgeflutet, selbst jetzt, wo ich neben Heist in Liegestühlen an einem gestalteten Teich in einem Meer des Friedens ruhte.
Die Enten und Schildkröten hatten keine Antwort parat. Mein Herz klopfte. Der Raum, in den Heist und ich geflohen waren, schien im Eiltempo zu schrumpfen.
»Ich möchte dir helfen«, sagte ich.
»Das hast du schon.«
»Ich meine beim Wegkommen. Damit du nicht mehr dazugehörst.«
»Ich wüsste gar nicht, was das bedeutet. Deine Freundin ist in Sicherheit, du hast sie weggebracht. Jetzt kannst du gehen. Niemand kennt deinen Namen, niemand weiß etwas.«
Ich hatte es herausgefordert. Das Einzige, was noch schroffer war als Heists Schweigen, waren seine kurzen, in Stein gehauenen Äußerungen. Die letzte brannte, als wäre der Stein auf meiner Wange gelandet. Aber was sollte ich Heists Anrecht entgegenhalten, in seiner eigenen Ferne zu entschwinden, dem Horizont, der in seinem Blick lag? Nichts anderes hatte er mir von Anfang an gezeigt, die psychischen Bedenken eines Mannes, für den es keine anständigen Alternativen gab. Ich wollte nur mit dabei sein.
»Schickst du mir eine Rechnung?«
»Was?«
»Offenbar hab ich das Honorar für deine Dienstleistungen ganz vergessen«, sagte ich bitter.
»Wir haben nie über ein Honorar gesprochen.«
»Ich hab’s einfach nie begriffen. Ich zahle nur zu gern für mein Abenteuer in der Wildnis und alles andere.« Meine Gereiztheit konnte sich zu einem Sturm auswachsen, der in mir wütete und zur Weltkatastrophe wurde. Aber weltweite Gereiztheit hatte in letzter Zeit schon genug Unheil angerichtet, oder? »Komm, wir gehen essen. Keiner soll sagen können, ich hätte dich nicht fürstlich bewirtet.«