Der Kriegsheimkehrer

In jener Novembernacht, als der letzte Nachtwächter Kaßbergens seine letzte Runde machte, erblickte in Kleinolbersdorf ein Junge die Welt, in der er als neuer Ordnungshüter agieren würde. Bis es so weit war, dauerte es noch Jahre.

Erst einmal ging Emil Uhlig in den Krieg statt in die Lehre. Von dort kehrte er zwar unversehrt, aber innerlich aufgewühlt zurück. Gefangenschaft konnte man nicht nennen, was er bei französischen Bauern erlebt hatte. Gefangen war er in seinem Kopf gewesen, zusammen mit seinem Heimweh und den zahllosen Fragen. War viel zu jung gewesen für die ständige Nähe zum Tod und als Bote für die Begegnung im Lazarett mit Amputierten und Zitterern.

Was würde aus diesen Männern werden? Wie sollten sie je wieder in ein normales Leben kommen?

Bei seiner Rückkehr fand er die Heimat verändert vor. Hier wurden Körperteile produziert. Ganze und halbe Arme mit Werkzeugen daran. Dem Einarmigen wurde der Hammer an den Stumpf geschraubt oder die Zange. In den Wanderer-Werken wurde die erste Schreibmaschine für Einarmige gefertigt.

Emil pfiff auf das Land der Dichter und Denker und schwor auf die Tüftler und Schrauber. Seinen Glauben hatte er im Krieg gelassen, und in die Kirche ging er nur für eine Hochzeit oder eine Taufe, und auch nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. An eines aber glaubte er, daran nämlich, dass die Menschheit nun kuriert war und dass sie sich kein zweites Mal auf einen Krieg einlassen würde. Der Kaiser hatte diesen Krieg nie gewollt, die Generäle hatten ihm das Heft aus der Hand genommen. Auch die, glaubte Emil, hatten daraus gelernt. Auch sie hatten die Schlachtfelder gesehen, die nur Opfer als gemeinsamen Nenner hatten.

Emil sah seinen Kirchturm wieder und den Hof mit dem Walnussbaum. Der Vater verdiente das Brot noch immer bei Strumpfhosen Esche. Und Stiefmutter Clara kochte noch immer so gut. Abends stand warmes Essen auf dem Tisch, freitags wurde gebadet und das Bett frisch bezogen, und vor dem Fenster seiner Dachkammer rauschten die Wipfel der Tannen. Emils Leben fing genau da wieder an, wo es aufgehört hatte.

So hätte es lange weitergehen können, wäre die Stadt mit dem Berg nicht so nah gewesen, von dem man sich mit glänzenden Augen erzählte, wie anderswo von Berlin und Paris.

Was Emil im Krieg gelernt hatte, reichte im Frieden nicht für einen Beruf. Der Vater spürte die Unruhe seines Sohnes und schickte ihn zur Polizei. Als ehemaliger Kurier zwischen den Schützengräben eigne er sich gut für den Streifendienst, gab er dem Jungen noch mit, als der sich beim Vorsteher bewarb. Außerdem seien dort ausgediente Militärangehörige willkommen wie nirgendwo sonst.

Es brauchte nicht mal eine Stunde, Emil zum Hilfspolizisten zu machen. Und schon einen Tag darauf trug er erneut eine graugrüne Uniform, eine abgelegte aus Heeresbeständen. Er bekam seine Schulterstücke für einen Anwärter der Hilfspolizei und seine Abteilungsnummer an den Kragenspiegel.

In der Sternmühle suchten sie just zur selben Zeit junge Männer wie ihn, um die durstigen Kehlen im Biergarten zu versorgen, bevor das große Brüllen begann, und bald spielte sich der junge Polizeianwärter Uhlig dort auf, als gehöre ihm die Schankwirtschaft.

Mit dem Lohn aus seinen beiden Diensten konnte er nun jeden Sonntagabend in die Stadt. Schwang sich zum Kutscher auf den Bock, der zwei der vorgespannten Pferde für Montagfrüh zur Schlächterei Hofmann in der Augustusburger Straße brachte, und sprang dort ab. Ging den Rest des Weges zu Fuß, streifte durch Kaßbergen, am Schlossteich vorbei und zur Schankwirtschaft Kellerhaus. Ließ sich im Nebengelass beim Barbier vom Rasier- und Haarschneide-Salon, der sich auch am Sonntag hinter den Markisen die eine oder andere Mark dazuverdiente, die Haare stutzen.

In die Kneipe verirrten sich auch immer ein paar, die malten und schrieben und sich ausstellten und lautstark rezitierten. Diese Seite des Lebens war nach Emils Geschmack, bereicherte sie doch sein provinzielles Leben um eine weltmännische Facette.

Hier traf er eines Abends auf Frollein Leopold, die Freundin eines Malers aus Rottluff. Die junge Frau stammte aus Garmisch. Und die Industriestadt hatte ihrer reinen, frischen Haut noch nichts anhaben können. Alles an dem Frollein Leopold war erfrischend. Ihre Stimme und wie sie das dunkle Haar nach oben steckte, das hatte er noch bei keiner anderen Frau gesehen, jedenfalls nicht in Kleinolbersdorf. Bei jeder Kopfbewegung fiel ihr ein Löckchen ins Gesicht, das sie zurückstrich oder aus der Stirn blies. Als er den Reflex unterdrücken musste, ihr die Strähne zurück ins Haar zu schieben, wusste er, dass er zum ersten Mal verliebt war.

In Liebe entbrannt, begann er, Geld für eine Reise nach Garmisch beiseitezulegen und trotzdem noch die Berliner Illustrirte für zwanzig Pfennig zu kaufen. Mit seinem Wissen aus den Mitteilungen des Vereins für Stadtgeschichte und der Volksstimme, dem Organ für das arbeitende Volk, würde er bei Frollein Leopold keinen Eindruck schinden.

Sein Vater kaute schmunzelnd auf dem Mundstück seiner Pfeife. War stolz auf den Sohn, von dem nur eine aufgeschlagene Zeitung zu sehen war mit zwei Hosenbeinen drunter und blanken Füßen. Als ein Mann aus dem Krieg gekommen und nun wie ein Junge in die nächste Schlacht ziehend. Der Kerl war von Amors Pfeil getroffen, und am anderen Ende des steinigen Weges wartete eine Frau auf ihn.

Emil war ein schmucker Bursche. Hatte die Gesichtszüge seines Vaters geerbt, markant wie die von Winnetou. Der Vater würde ihm das Puppchen mitgeben für seine kommenden Ausflüge in die Stadt. Das war der Sonntagswagen, und sonntags war Emil auf Freiersfüßen, die ihn nun schon seit ein paar Wochen in immer die gleiche Gasse führten.

Etwas einfältig kam er noch daher. Erzählte rum, die Sternmühle sei Familienbesitz der Uhligs, und war doch selbst nur Aushilfskellner dort. Blieb nur zu wünschen, dass er seine Phantasie weder in der Schreibstube noch bei seiner Auserwählten Blüten treiben ließe.

Womit auch immer es ihm gelungen war: Der junge Emil und das etwas ältere Frollein Leopold wurden ein Paar, ein schönes noch dazu, und bei dem ersten Besuch der Dame war es, als käme der Duft der großen Welt auf das Pflaster von Kleinolbersdorf. Die Nachbarn begannen endlich wieder zu tuscheln, wo es doch so lange nichts zum Tuscheln gegeben hatte.

Die Welt schien in Ordnung, doch Emil träumte weiter. Wollte zur Revierpolizei in die Stadt wechseln und eines der prächtigen Mietshäuser in Kaßbergen bewohnen. Mit Nachbarn, die Kaufleute und Anwälte waren, die sonntags über die Weststraße zum Kaiserplatz flanierten und mit dem Knauf des Spazierstocks zum Gruß an die Hutkrempe tippten. Und mit seinem schönen Frollein Leopold. Sie würden Reisen unternehmen nach Abessinien zu den Straßenbarbieren, Getreidedreschern und Geflügelhändlern, zu den Baumwollbasaren Teherans, zum Berliner Stadtschloss und zur Messe nach Leipzig und dort auf ein Bier ins Baarmann am Markt. Endlich alles erleben, wovon er in der Illustrierten las, wo sich zwischen Chlorodontwerbung und Pelzmode der Aufruf zur Deutschwehr gegen den Bolschewismus formierte. Emil glaubte fest an ein Leben, in dem die Menschen eine Wahl haben würden, und seine hatte er bereits getroffen.

Sie waren kein Jahr beisammen, da wurde das Frollein Leopold immer schmaler und zerbrechlicher und gab sogar ihre geliebten Zigaretten auf. Als ihre schönen, schwingenden Kleider nur noch Haut und Knochen umschlossen, ging sie nicht mehr aus dem Haus. Vom Bett in ihrer Dachkammer schauten sie nun gemeinsam in die Wolken, lauschten dem Kinderkreischen im Hof. Dann schlief sie ein für immer. Das Kreischen blieb im Hof. Die Wolken blieben am Himmel.

Emil hatte so viele Tote gesehen, doch die eigene Endlichkeit begriff er erst im Angesicht der verblichenen Freundin.

Er öffnete das Dachfenster, auf dass ihr letzter Atem die arme Seele in den Himmel trüge und fühlte sich allein wie noch nie zuvor in seinem Leben.