Sein Name klang auf Deutsch recht handfest – Johann. Er aber wollte, dass man seinen Namen auf Französisch aussprach. Schong. Und alle hielten sich daran.
Johann Müller-Rabenstein war zuerst nur ein Bildhauer, der mit Bleistift auf Karton zeichnete, was er von Knaben mit geschickten Fingern fertigen ließ. Keine Furche im Gesicht durfte in der Skulptur vergessen werden, kein Bauchmuskel unterschlagen, der den Jüngling zu einem begehrenswerten machte. Ein falscher Strich im Lehm bedeutete den Ausschluss aus dem Kreis von Müller-Rabenstein. Und dort wuchsen immer neue Jünglinge nach. Die aus Fleisch und Blut. Und die aus Ton.
Schong Müller-Rabenstein lebte in der griechischen Mythologie, und er lebte in Kaßbergen. Immer wach genug, ein Geschäft zu wittern, und mit der Geschichte des Berges vertraut, hatte er abgewartet, bis die Villa des lang verblichenen Stadtrats Oscar Otto zum Verkauf stand. Marode und verrottet, nach dem Krieg als Stützpunkt sowjetischer Militärs genutzt, war das Haus des einst mächtigen Kaufmanns eines Tages zum Abriss freigegeben worden. Da es in einer Mangelwirtschaft galt, Beziehungen zu haben, nutzte Müller-Rabenstein die seinen, um die Villa in der Agricolastraße zu erwerben.
Sein eher missratenes Aussehen kompensierte der Sechzigjährige mit einem enormen Wissensschatz um Kunst in jeglicher Form. Er wurde vom Bildhauer zum Kunstsammler und Mäzen, und er verstärkte den schwachen Allerweltsnamen »Müller« mit dem Zusatz »Rabenstein«. Den hatte er sich bei einem Stadtviertel südlich Kaßbergens geliehen, ähnlich wie Schmidt-Rottluff. Der hatte einst Maler und Bildhauer um sich geschart, hatte mit den Pechsteins und Kirchners die Künstlergruppe »Brücke« gebildet und Geschichte geschrieben.
Müller-Rabensteins Künstler waren weniger bedeutend. Bald zerfaserten die Treffen und zerfielen zu Saufgelagen, die Schong schließlich mit der Auflösung beendete. Von da an waren allein die Jünglinge seine Begleitung, und aus seiner Vorliebe für das männliche Geschlecht machten weder er selbst noch seine Admirateure einen Hehl.
Für den Sammler von Kunst gab es kaum einen Ort in dieser sächsischen Diaspora des Schönen, auf den er nicht mindestens einen Fuß gesetzt hatte; gab es kaum eine Laube mit ausrangiertem Jugendstil, die er nicht leergekauft hatte. Müller-Rabenstein trieb eine Wut, die aus der Missachtung für seine Stadt erwuchs, der Stadt der Moderne, deren Schätze ungehoben unter Beton verrotteten.
Was nur musste geschehen, fragte er sich, damit die Welt ein Auge warf auf das, was Generationen vor ihm und vor den großen Kriegen hierher gebracht und hier vermehrt hatten an Ästhetik, künstlerischem Goût und Gespür, an avantgardistischen Ideen, die sie mutig umsetzten, ob sie nun davon hatten leben können oder nicht?
Wer sprach noch vom Chemnitzer Museumsdirektor Schreiber-Weigand, der im Morgenlicht der Weimarer Republik eben hier aus einer unkuratierten Mischung eine europaweit bekannte Sammlung der Moderne gemacht hatte?
Es waren die Textilfabrikanten, welche die Daumiers und Toulouse-Lautrecs von ihren Messen in Paris mitbrachten. Hierzulande dann entdeckten sie – mutig für ihre Zeit – das Faszinierende der Skulpturen von Lehmbruck, das Aufrüttelnde des Expressionismus von Schmidt-Rottluff, den weltumspannenden Schrei der Kunst eines Edvard Munch.
Die bald »Städtische Kunstsammlungen« genannte Brillanz aus Entdeckung und Präsentation neuer Kunst fand ihr jähes Ende als »Entartete Kunst«.
Landeten Exponate in den Hallen, die zu einem Gemischtwarenladen aus Naturkunde- und Regionalmuseum verkamen.
Seine Künstlergruppe mochte es nicht mehr geben, doch blieb Schong Müller-Rabenstein unbeirrt dabei, den alten Geist heraufzubeschwören. Und wenn er diesem Geist auch die eine oder andere Moral opfern musste wie die Königin ihr Kind, so war ihm dieser Tanz zwischen den Fronten um einiges lieber als Stillstand.