Kapitel fünfunddreißig

»Eine Südstaaten-Mama ist auch nicht anders als andere Mamas.

Sie ist nur höflicher beim Schuldzuschieben.«

Mimi

Auf meiner Liste der Unerwartetsten, Wunderbarsten Überraschungen im Leben stand »Mit Nate ausgehen« ungefähr an den Stellen eins bis hundert.

Wir waren auf ein zweites Date gegangen, und danach hatten wir Händchen haltend und knutschend auf meinem Sofa gesessen. Zumindest bis die Babysitterin anrief und Nate daran erinnerte, dass sie um elf zu Hause sein müsse. Das dritte und das vierte Date wurden nur noch besser, und beim fünften war ich vollkommen hin und weg – auf die verträumte, auf Wolke-sieben-schwebende Art, die für andere Menschen so nervig ist. Es war mir egal.

Er war so lieb. Blumen, einfach so und ohne Grund, ein Zettel an meiner Tür, auf dem er mir einen schönen Tag wünschte und den ich am Morgen fand, eine Textnachricht, um mir zu sagen, dass er an mich denke. Und dann die Berührungen. Er konnte nicht an mir vorbeigehen, ohne mit den Fingern über meine Wange zu streichen, in mein Haar zu fassen oder mich auf den Scheitel zu küssen. Immer, wenn er das tat, hüpfte mein Herz, und mir wurde sehr warm. Ich hätte dann am liebsten das Fenster geöffnet und hinausgeschrien: »Nate Russo ist mein Freund.«

Ich tat es nicht. So groß die Versuchung auch war.

Vielleicht lag es daran, dass wir nebeneinander wohnten, aber es war so leicht, in das Leben des jeweils anderen zu gleiten, fast, als wäre es vorherbestimmt. Die meisten Mahlzeiten aßen wir an meinem oder an seinem Tisch, Lilah plapperte dabei über irgendwelche neuen Fakten über Tiere, die sie gelernt hatte. Wir verbrachten heiße Sommernachmittage mit Lilah im Park oder gingen schwimmen.

Samstagabends, wenn Nate einen Babysitter hatte, gingen wir ins Kino und knutschten in der hintersten Reihe wie Teenager. (Meine Mutter wäre empört gewesen.) Wir gingen sogar zusammen einkaufen. Ich schob den Wagen, Lilah bettelte um Süßigkeiten und Pop-Tarts, wir achteten meistens nicht darauf, und Nate warf die Zutaten für Lasagne in den Wagen. Mit seiner berühmten selbst gemachten Soße. Und – oh ja, die war wirklich lecker.

Wobei es vielleicht der heiße Typ am Herd war, der die Soße noch leckerer machte. Oder der Umstand, dass es mein heißer Typ war.

Zusammen beschlossen wir, Lilah noch nichts davon zu sagen. Es war Nates Vorschlag, aber ich stimmte ihm zu. Es war alles noch so neu, und wir wussten nicht, wohin es führen würde. Keiner von uns wollte, dass Lilah leiden musste, wenn es nicht funktionierte. Außerdem, um ehrlich zu sein, war die Heimlichkeit auch aufregend.

Manchmal hätte ich mich am liebsten gekniffen, um sicher zu gehen, dass ich nicht in einer Phantasiewelt lebte. Und obwohl alles gut zu laufen schien, wartete ein kleiner Teil von mir auf die Rache des Universums, weil es mir zu gut ging. Ein leises Stimmchen in mir sagte immer wieder, dass es so schnell vorbei sein würde, wie es angefangen hatte. Eines Abends, als Lilah schon im Bett war und wir zusammen auf dem Sofa kuschelten und einen Film schauten (wobei ich ehrlicherweise mehr ihn schaute als den Film), erzählte ich ihm davon.

Ich seufzte. Er war einfach so … perfekt.

Er blickte auf mich hinunter. »Was ist los?«

»Nichts. Alles ist perfekt.«

Er lächelte. »Ach ja?«

»Ja. Ich meine, du bist perfekt.« Ich pickte einen Fussel von der Decke, unter der wir kuschelten. »Manchmal frage ich mich, wann du herausfindest, dass ich es nicht bin.«

Er runzelte die Stirn. »Was bist du nicht?«

»Nicht perfekt. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass du es kapierst, und dann bist du weg. Ich mache Fehler, ich vergeige Dinge. Dann sind da dein Unterricht und Lilah. Was, wenn ich alles nur noch schwieriger für dich mache? Was, wenn ich doch nur eine Ablenkung bin?«

Er küsste mich, seine Lippen ganz weich auf meiner Haut, aber er schaffte es, mich damit zum Schweigen zu bringen. Der Kuss führte zu einem noch weit tieferen Kuss, der mich ein wenig schwindelig und sehr enttäuscht machte, als er endete.

»Es ist alles gut«, sagte er und streichelte mir mit dem Daumen über die Wange. »Ich bin nicht perfekt, und ich glaube, du auch nicht. Wir sind zusammen nicht perfekt.«

»Hmm«, machte ich, weil ich mich noch von dem Kuss erholen musste. »Okay.«

»Nur okay?«

»Ich meine, wenn ich noch einen Kuss bekäme, könnte mich das vielleicht überzeugen …«

Er grinste und tat genau das.

* * *

»Du bist geradezu unerträglich«, sagte Stella an einem Samstagmorgen. »Ich meine, widerlich glücklich, die ganze Zeit. Davon kriege ich Kopfweh.«

Ich grinste. »Vielen Dank.«

Sie verdrehte die Augen und stampfte in ihr Büro, ließ die Tür aber offen. Ich folgte ihr.

»Hör gefälligst auf zu lächeln«, knurrte sie, ohne von ihrem Klemmbrett aufzuschauen. »Und setz dich endlich.«

Ich setzte mich auf den wackeligen Stuhl vor dem Schreibtisch.

Zwischen Nate, meinem Job in der Tagesstätte und den Plänen für die Hochzeitsfeier meiner Eltern hatte ich endlich das Gefühl, dass mein Leben Formen annahm. Es kam mir vor, als hätte ich den größten Teil meines Lebens damit verbracht, ein letztes Eckstück für mein Puzzle zu finden, nur um dann zu bemerken, dass es die ganze Zeit ein Innenstück gewesen war.

Ich war the girl after, das Mädchen, das erst ganz unten ist und dann alles erreicht, was sie sich je gewünscht hat, indem sie sich die Haare wachsen lässt und ein neuer, lebenssprühender Mensch wird.

Klar, meine Mom und ich sprachen nicht miteinander, wir redeten eher aufeinander ein. Und meine Schwester heiratete einen Vollpfosten, und Bria tauchte kaum noch auf. Und ich hatte in den letzten paar Monaten häufiger gelogen als je zuvor, aber das Leben war toll. Oder?

»Ich muss schnell machen. Bria ist hier. Sie hat gerade von der Firma gehört, bei der sie sich beworben hatte.«

»Hat sie die Stelle bekommen?«, fragte ich begeistert.

»Nein, hat sie nicht. Das Vorstellungsgespräch ist ziemlich schlecht gelaufen.« Sie schob ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch zusammen. »Es ist so schlecht gelaufen, dass der Mann von der Ölfirma hinterher bei mir angerufen hat, um mir davon zu erzählen. Sie hat es völlig versemmelt. Kam zehn Minuten zu spät, trug Shorts und ein Top und hat auf die Hälfte der Fragen nicht antworten wollen.«

Mein Lächeln fiel in sich zusammen. »Was? Wir haben das doch geübt. Sie war vorbereitet. Warum hat sie das getan?«

»Ich glaube, das musst du sie schon selbst fragen.« Stella kaute ernst auf ihrer Lippe herum. »Denk dran, es braucht lange, bis ein Mensch es schafft, seine eigene Meinung von sich zu verändern. Sie ist sauer auf sich selbst, aber sie wird es an jemand anderem auslassen.«

Ich seufzte, stand auf und ging in den Gemeinschaftsraum. Bria hing auf einem hässlichen beigefarbenen Sofa herum, ein Kissen an den Bauch gedrückt. Sie schaltete abwesend zwischen den Fernsehsendern herum, um dann an einer Kochshow hängen zu bleiben.

»Hey.« Ich setzte mich ihr gegenüber. Ein Klumpen Sorge mit einem Tröpfchen Schuldgefühl machte sich in meinem Magen breit. »Wie läuft’s?«

Sie schaltete weiter, um bei einem Wrestling-Match zu bleiben.

Ich fummelte unruhig mit meinen Händen herum. »Ich habe vom Bewerbungsgespräch gehört. Willst du darüber reden?«

Nichts. Aber ihr Atem veränderte sich, er klang jetzt abgehackter.

»Oder auch nicht. Wir müssen nicht reden.«

Sie schaltete den Fernseher aus. Wir starrten beide auf den schwarzen Bildschirm.

Ich berührte ihren Arm. »Es tut mir leid, Bria. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um es besser zu machen.«

Die Fernbedienung flog durch den Raum und knallte gegen die Wand. Plastikteilchen regneten zu Boden. Bria stand auf und richtete ihre Wut auf mich. Ihre Augen glühten.

»Weißt du was? Ich habe es satt, dass du ständig versuchst, irgendetwas besser zu machen. Ich bin kein Straßenkind, das man irgendwo aufliest, es wäscht und hofft, dass das all seine Probleme löst.«

Ich zuckte bei ihren Worten zusammen, einen säuerlichen Geschmack im Mund. »Ich … ich versuche gar nicht, all deine Probleme zu lösen.«

Bria schnaubte. »Tust du nicht? Ich bin ein Totalausfall. Ich werde immer ein Totalausfall sein. Nichts wird das ändern. Ich brauche dich und deine Hilfe nicht.«

Ihre Worte taten weh, aber es war ihr Blick, unter dem sich mein Inneres zusammenzog. »Das stimmt nicht. Es stimmt einfach nicht.«

Aber was, wenn es doch stimmte? Was, wenn ich Bria genau das angetan hatte, was meine Mutter mir schon mein ganzes Leben lang antat? Was, wenn ich in ihr nur ein »Problem« gesehen hatte, das ich lösen konnte? Dann wäre ich genau wie meine Mutter. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich.

Sie beugte sich vor. »Es ist doch wahr. Einmal eine Verliererin, immer eine Verliererin. Du weißt genau, was ich meine, oder? Du bist doch auch so eine.«

Ich sog scharf den Atem ein und hielt ihn in der Lunge, bis es brannte. Bria stampfte aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Aber ich hörte den Knall gar nicht. Ich hörte nur immer wieder ihre Worte, wie ein Mantra: Einmal eine Verliererin, immer eine Verliererin.