Kapitel siebenundvierzig

»Ein Ende ist immer nur der Anfang von etwas Neuem.«

Mimi

Für die Silvesterfeier war der Ballsaal im fünfzehnten Stock des Loveland Hotels in ein Winterwunderland verwandelt worden. Runde Tische mit übergroßen Tischdekorationen in der Mitte umstanden die Tanzfläche, die so dramatisch beleuchtet war, dass alles aussah wie im Märchen. Durch die bodentiefen Fenster konnte man über die ganze Stadt hinweg schauen.

Mir war noch nie aufgefallen, wie schön dieser Saal war. In den Jahren zuvor war ich gezwungen gewesen zu erscheinen und ein schrecklich unbequemes Kleid zu tragen, das meine Mutter für mich ausgesucht hatte, und jedes Mal wäre ich an jedem anderen Ort lieber gewesen als hier. Diesmal war es anders, denn ich war anders. Dieses Jahr freute ich mich darauf, das alte Jahr zu verabschieden und mein neues Ich zu feiern. Ich wollte feiern wie Mimis Enkelin.

»Also, wann fangen wir an zu tanzen, will ich wissen?«, sagte Mimi und zupfte sich das bodenlange Kleid zurecht, das sie eigens für diesen Anlass gekauft hatte. Damit sie nicht zu zahm aussah, hatte sie viel Zeit auf ihr Styling verwandt und dabei nicht an roten Federn gespart, passend zu ihrer roten Boa und den roten High Heels.

»Mama, setz dich bitte. Getanzt wird später«, sagte meine Mutter regelrecht verzweifelt. »Mit dir kann man wirklich nirgends hingehen.«

Mimi tätschelte ihr die Wange. »Du hast mich nun mal lieb.«

Mom verdrehte die Augen und musterte mein Outfit vom Scheitel bis zur Sohle. »Du siehst sehr hübsch aus.«

Ich wusste, dass sie das nur schwer über die Lippen brachte. Anfang der Woche hatte ich angekündigt, ich würde mir selbst ein Kleid aussuchen, vielen Dank auch.

Mom hatte widersprochen, aber ich war hart geblieben. »Ich entscheide, was ich trage, sonst komme ich nicht.«

Was nicht ganz stimmte. Ich wäre auf jeden Fall gekommen. Aber das musste sie ja nicht wissen.

»Oh, na dann«, hatte meine Mutter gesagt.

Seht ihr? Fortschritt.

Mit Mathias und Phee im Schlepptau war ich zum Secondhand-Laden gegangen, an dem ich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeikam, und hatte Das Kleid anprobiert. Sein Fünfziger-Jahre-Charme, der Sweetheart-Ausschnitt, der genau richtige Rotton – all das stand mir perfekt. Als wäre es für mich gemacht. Die Verkäuferin hatte mir dazu ein Paar schwarze Ballerina und eine schneeweiße Stola empfohlen, die das Outfit perfekt machten.

Gestern Morgen hatte mir Mom eine Maniküre und einen Friseurbesuch spendiert. Sie hatte nicht einmal widersprochen, als ich darauf bestand, dass Alisa statt Jacques ihre Voodookünste an meinem Haar wirken lassen sollte. Phee hatte mir dann mit dem Make-up geholfen. Ich schäme mich nur ein bisschen, dass ich seitdem ständig an allen möglichen Spiegeln vorbeilief und versuchte, einen Blick auf mich zu erhaschen.

Auf der Liste der Leute, Die Heute Abend Superheiß Aussahen, war ich mindestens unter den ersten fünf.

An jedem Tisch standen zwölf Stühle, an unserem saßen Mom, Dad, Phee, Mathias, Mimi und ich. Auch Brent war gekommen, begleitet von seinem Date. Sie hatte ganz offensichtlich denselben Kleidergeschmack, den Brent auch bei der Auswahl seiner Schlipse an den Tag legte. Ein Paar direkt aus der Modehölle.

Bria tauchte eine halbe Stunde später auf – in ihrem knielangen grünen Samtkleid, das ihr, wie ich aus gut unterrichteter Quelle erfahren hatte, meine Mutter ausgesucht hatte. Ein Teil von mir hätte sie am liebsten direkt auf die Toilette geschickt, damit sie sich ihre Hotpants und ein Tanktop anzog.

Sie hatte als Rezeptionistin bei Mayfield Home Mortgage zu arbeiten begonnen. Miss Ruby war noch einige Tage länger geblieben, um sie einzuarbeiten, aber schon am Ende des ersten Tages war klar, dass Bria die Mitarbeiter auch ganz allein anbellen konnte. Am Ende des zweiten Tages schickte Bria mir eine Nachricht, die aus nur einem Wort bestand: Danke.

Bria nahm auf dem Stuhl mir gegenüber Platz, mit vor Furcht geweiteten Augen. Sie hielt eine der Gabeln neben dem Teller hoch. »Das ist eine ganz schön piekfeine Scheiße. Warum bin ich noch mal hier?«

»Weil«, antwortete Daddy und lächelte, »du jetzt Teil der Mayfield-Familie bist.«

»Na toll.« Bria verschränkte die Arme vor der Brust, aber ich war mir sicher, ein winziges Lächeln um ihre Mundwinkel spielen zu sehen.

Das Essen wurde erst kurz vor halb zehn Uhr serviert, und danach wurde getanzt. Ich schaute zu, wie die Leute an meinem Tisch sich zu Paaren zusammenfanden und zur Tanzfläche gingen. Mimi entdeckte einen älteren Herrn in einem leuchtend roten Smoking und belegte ihn sofort mit Beschlag. Selbst Bria fand einen Tanzpartner – einen kleinen, dünnen Mann, der sich entweder zu Tode fürchtete oder einen Heidenspaß dabei hatte, mit ihr zu tanzen – so genau konnte ließ sich das nichts sagen.

Dann wurde ein langsamer Song gespielt, und ich sah lächelnd zu, wie Mathias meine Schwester an sich zog. Obwohl sie nach wie vor »noch kein Etikett auf ihre Beziehung geklebt« hatten, lag doch auf der Hand, dass sie sich in der Übelst-Ineinander-Verknallt-Phase befanden.

Daddy schaute vollkommen hingerissen auf Mom hinunter – diese Eheberatung funktionierte offensichtlich hervorragend. Ich unterdrückte eine Welle des Kummers – und, na gut, auch des Neids – und spazierte durch den Saal. Vor der Bar waren nicht allzu viele Leute, also holte ich mir einen Cocktail, danach ging ich zur Toilette.

Ich wusch mir gerade die Hände, als Mimi hereinplatzte. »Puh. Da bist du ja. Wir konnten dich nirgends finden.«

»Tut mir leid. Ich musste mal.«

Mimi betrachtete mein Gesicht und runzelte die Stirn. »Hast du deinen Lippenstift in dem kleinen Täschchen da? Du musst nachzeichnen. Und zwar zack-zack.« Als ich mich nicht regte, packte sie meine winzige Clutch und knallte sie auf den Waschtisch.

»Herrje, ist ja schon gut.« Ich holte den Lippenstift heraus und tat wie befohlen.

»Und jetzt die Haare ein bisschen in Schwung bringen.« Sie drehte mich zu sich um und kniff mir in die Wangen.

»Aua!«

»Du warst zu blas, so hast du ein bisschen Farbe in den Wangen. Jetzt lächele, damit ich deine Zähne sehen kann.«

»Mimi, das ist …«

»Lächeln!«, bellte sie.

Ich lächelte.

»Sehr gut.« Sie warf alles wieder in meine Tasche zurück. »Ich halte das für dich. Rück noch deine Stola zurecht. Und jetzt komm.« Sie zog mich an der Hand durch die Tür und zurück in den Saal.

»Was zum Teufel ist eigentlich in dich gefahren?«

Mimi blieb abrupt stehen. »Hör mir mal zu, Perci-Mädchen. Du weißt ja, dass das Leben voll von diesen gewissen Momenten ist, oder? Voller kleiner und großer Momente. Einige erkennen wir gar nicht als Momente, bis wir uns später daran erinnern.«

Ich nickte und dachte an den Moment vor einem Jahr, als ich beim Zahnarzt auf dem Behandlungsstuhl saß und Brent mit mir im Radio Schluss machte. Kein besonders glorreicher Moment, aber einer, der eine ganze Lawine von Dingen losgetreten hatte, die ich mir nie hätte vorstellen können.

»Also los«, sagte sie. »Ich glaube, du wirst gleich wieder so einen Moment haben. Ich will, dass du ihn zulässt. Genieße ihn. Sei einfach du selbst, meine Süße.«

»Gut. Und wie soll ich wissen …«

Doch dann brachte ich kein Wort mehr heraus. Denn vor all den Menschen, die ich liebte, stand da ein kantiger, nicht gut aussehender Mann im Smoking. Er lächelte, und ich wäre am liebsten sofort dahin geschmolzen.

Mimi schubste mich auf ihn zu. »Schnapp ihn dir, Tiger.«

Ich ging auf ihn zu, und er kam mir entgegen. Nur Zentimeter voreinander blieben wir stehen.

»Hallo«, hauchte ich. »Was machst du denn hier?«

»Das ist irgendwie eine abgefahrene Geschichte«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Vor ein paar Wochen saß ich auf meinem Balkon und war mich ziemlich bedrückt, weil ich diese Freundin habe, mit der ich eine ganze Weile nicht mehr gesprochen habe. Du kennst sie vielleicht, sie ist echt hübsch, bringt mich immer zum Lächeln, und ich habe sie so vermisst.«

Ich verschränkte die Hände hinter meinem Rücken, um nicht nach ihm zu greifen. »Und?«

»Dann passierte was ganz Merkwürdiges: Dieser kleine Vogel landete auf meinem Geländer. Seine Federn standen ihm so lustig vom Kopf hoch. Ich schaute ihn an, und er schaute mich an. Und je mehr ich versuchte, ihn wegzuscheuchen, desto eindringlicher schaute er mich an. Es war, als wolle er mir etwas sagen.«

»Ach wirklich? Was meinst du denn, was er dir sagen wollte?«

»Ich glaube, er wollte mir sagen, wenn man jemanden liebt, bedeutet das nicht immer, dass derjenige einen verlassen oder enttäuschen wird. Manchmal schon, weil wir eben nur Menschen sind. Aber meistens macht die Liebe das Leben einfach viel besser.«

Ich brummte zustimmend. »Klingt, als wäre das ein ziemlich schlauer Vogel.«

Er lächelte mich an, ich lächelte zurück. Wir stünden vermutlich immer noch so da, wenn ihn nicht jemand im Vorbeigehen angerempelt hätte.

»Willst du tanzen?« Er streckte die Hand aus.

»Unglaublich gern.«

Das nächste Lied war ausgerechnet ein langsamer, kitschiger Liebessong.

Nate legte den Arm um meine Taille und nahm meine Hand. Wir kamen einander beim Tanzen näher und näher, wobei sein Gesicht bei jeder Drehung kurz in den Schatten geriet, so dass seine Augen dunkel und wieder hell wurden und die Konturen seines Gesichts immer wieder von Neuem hervortraten. Er war wunderschön, und er war hier und tanzte mit mir.

»Natürlich tanze ich mit dir.« Er lächelte mich an, und ich wurde rot, weil ich meine Gedanken offenbar laut ausgesprochen hatte. Schon wieder. »Und du bist hier die Wunderschöne.« Er zog mich an sich. »Ich vermisse dich. Und offenbar bin ich noch viel stärker abgelenkt, wenn du nicht da bist.« Er küsste mich auf die Stirn. »Ich denke die ganze Zeit an dich.« Dann streifte er mit den Lippen meinen Mundwinkel. Ich bekam eine Gänsehaut. »Ich denke an deine Stimme und dein Lachen und an diese zarte Stelle hier.« Ich musste kichern, als er die Mulde küsste, wo mein Schlüsselbein in den Hals übergeht. »Ich denke an dich, wenn ich mit Lilah zusammen bin, weil sie ständig von dir spricht.« Dann legte er meine Hand an seine Lippen. »Und ich denke sogar an dich, wenn ich schlafe.« Seine Stimme war ganz leise, und ein Schauder überlief mich.

Wir drehten uns, und jetzt sah ich meine ganze Familie, alle in einer Reihe aufgereiht wie die Freaks, die am Black Friday darauf warten, dass der Walmart öffnet. Mom winkte mir zu; Daddy verlagerte sein Gewicht auf die Fersen.

»Ich habe hundertmal darüber nachgedacht, zu dir rüberzukommen. Aber immer, wenn ich dich im Flur sah, sahst du so glücklich aus. Ich dachte, ich hätte meine Chance verpasst. Und dann klopfte Phee an meine Tür.«

»Sie ist zu dir gekommen?«

»Ja. Und sie hat mir den Kopf zurechtgerückt.«

Ich konnte nur ungläubig nicken, so überwältigt war ich. »Sie hat mir kein Wort davon gesagt.«

»Die Leute in deiner Familie können ziemlich dichthalten, wenn sie wollen. Deine Mom hat nämlich auch mit meiner Mom gesprochen.«

»Was? Hat sie nicht!«

»O doch.« Jetzt passte kein Blatt Papier mehr zwischen uns. Wir waren stehen geblieben. »Sie haben sich erschreckend gut verstanden. Und deine Mom hat meine Mom angestachelt, mich hierherzulocken.«

»Ich bringe sie um«, sagte ich, jedoch ohne große Überzeugung. Diesmal war ich allen Ernstes eher dankbar und weniger wütend, dass sich meine Mutter eingemischt hatte. Vielleicht hatte das auch seine guten Seiten, denn ich brauchte mir nichts vorzumachen: Nate war hier, und das auch noch in einem Smoking, und er tanzte am Silvesterabend mit mir.

»Und? Schauen sie zu?«

»Wer?«

»Deine Familie. Schauen sie zu?«

Ich warf einen Blick über seine Schulter und nickte.

»Gut.«

Und dann küssten wir uns. Ich hörte ein Pfeifen, von dem ich mir ziemlich sicher war, dass es von Mimi stammte, war aber viel zu sehr damit beschäftigt, Nate zu umarmen und seinen Kuss zu erwidern. Wir drehten uns, er ließ mich nach hinten sinken, wobei meine Stola zu Boden fiel, unsere Lippen lösten sich jedoch nicht voneinander.

Nicht einmal, als meine Mutter sagte: »Persephone Amelia Mayfield, im Ernst? Wir sind hier in der Öffentlichkeit.«

Nein, murmelten wir lachend, hörten aber nicht auf, uns zu küssen.