Die Wellen klatschten gegen die Betonmauer am Quai de l’Horloge. Nur die beleuchtete Silhouette der Jacques-Cartier-Brücke, die sich zu seiner Linken über den Fluss spannte, leistete ihm Gesellschaft. Victor zog an seiner Zigarette. Er fröstelte, und die Schulter tat ihm weh.
Sein letztes Gespräch mit Delaney war schlecht ausgegangen, doch er konnte ihn verstehen. Der Leiter des Dezernats Kapitalverbrechen hatte ihn immer fair und respektvoll behandelt. Jacinthe und er waren auf zwei Leichen gestoßen, und Victor wollte ihn davon in Kenntnis setzen, was sie wussten.
Delaney machte ein entschlossenes Gesicht, als er kam. Er stützte sich auf das Geländer und holte tief Luft, bevor er sprach. Seine Worte waren hart, doch seine Stimme ruhig und beherrscht.
»Habt ihr den Verstand verloren, du und Jacinthe? Was habt ihr mit Vera Nesvitaylo gemacht?«
Victor zerdrückte seine Kippe unter der Sohle.
»Nichts. Sie war nicht da, als wir eintrafen. Nur die Leiche eines Mannes, der offensichtlich versucht hat, sie umzubringen. Ich schwöre dir, wir wissen nicht, wo sie ist.«
»Hat sie ihn etwa getötet?«
Victor zuckte mit den Schultern. Er war nicht bereit, mit ihm über Yako zu reden. Noch nicht.
»Du musst mir schon etwas mehr erzählen, wenn du nicht willst, dass der SCRS dich kassiert. Ich habe seine Beschatter drei Straßenecken von hier abgeschüttelt.«
Victor zuckte überrascht zusammen.
»Was? Der SCRS hat dich verfolgt?«
»Hast du nicht kapiert? Ich bin es, der hier die Fragen stellt.«
Victor beschloss, ihm alles zu erzählen.
Das Gespräch dauerte schon einige Minuten. Sie waren am Quai entlang nach Westen geschlendert und kamen jetzt auf die Höhe eines alten Schiffes, das sich, umgebaut in ein Wellnessbad, träge auf dem Wasser wiegte.
Delaney vergrub die Hände in den Taschen.
»Hast du mir alles gesagt? Hast du auch nichts vergessen?«
Victor nickte zuerst und schüttelte dann den Kopf.
»Kann ich jetzt fragen, warum dir der SCRS an den Fersen klebt?«
»Weil sie dich suchen, was glaubst du denn?«
»Weil ich mit Komarov zusammen war?«
»Das ist wohl mit ein Grund.«
Delaney machte eine Pause.
»Sie haben mir den Fall Thomson weggenommen. Und den Fall Komarov gleich mit.«
Victor sah ihn bestürzt an.
»Wissen sie, dass die beiden ein Paar waren?«
Delaney nickte.
»Vermutlich.«
»Was sagt Piché? Wird er dich unterstützen?«
Der Leiter des Dezernats Kapitalverbrechen blickte verdrossen.
»Piché … Ich habe nachher einen Termin mit ihm. Aber glaubst du wirklich, er wird auch nur den kleinen Finger rühren, um eine Untersuchung voranzubringen, die dich betrifft?«
Victor vernahm es mit Gleichmut. Er hatte gewusst, dass er sich den Chef des SPVM mit seiner Kündigung zum Feind gemacht hatte. Aber so sehr? Die beiden Männer gingen schweigend weiter. Nach ein paar Metern sagte Delaney:
»Ich habe Loïc und die Kollegen von der Wirtschaftskriminalität ein paar Nachforschungen anstellen lassen. Im letzten Jahr hat Robert Thomson drei bedeutende Transaktionen getätigt.«
»In welcher Höhe?«
»Von mehreren hunderttausend Dollar.«
Victor folgte mit den Augen einem Tanker, der durch die Wellen glitt. Seine Lichter schimmerten wie illuminierte Pentagramme durch den nächtlichen Dunst. Niemand auf der Brücke. Er erinnerte an ein Geisterschiff.
»Was waren das für Transaktionen?«
»Er hat dazu eine Reihe von Briefkastenfirmen benutzt. Keine Chance, mehr rauszukriegen. Fest steht nur, dass die Summe zehn Jahresgehältern in seinem Museum entspricht.«
Delaney folgte dem Beispiel Victors, der soeben stehen geblieben war. Sie standen einander gegenüber.
»Der SCRS weiß Bescheid, Paul. Warum hätte er sich sonst einmischen sollen?«
»Ich kann mich täuschen, aber ich habe das Gefühl, dass sie die Kontrolle über eine Operation verloren haben und jetzt versuchen Zeit zu gewinnen.«
»Zeit zu gewinnen und den Scherbenhaufen zusammenzukehren. Aber du … Hast du keine Angst, dass sie dem Dezernat die Schuld geben, wenn sie dahinterkommen, dass du heimlich in Sachen Komarov und Thomson ermittelst?«
»Als Sündenbock eignest du dich viel besser, meinst du nicht? Du hast dich bei dieser Geschichte so ziemlich überall in die Nesseln gesetzt.«
Victor schüttelte den Kopf.
»Der SCRS … Das hat gerade noch gefehlt.«
»Heute Morgen wollte ich dich noch dazu überreden, das Versteckspiel aufzugeben. Aber jetzt …«
»Wenn ich wieder auf der Bildfläche erscheine und ihnen in die Hände falle …«
Delaney nickte. Ein bitterer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.
»Und was ist mit mir? Muss ich dir sagen, wie es mich ankotzt, dass ich mich vom SCRS abservieren lassen muss?«
Sie tauschten einen wissenden Blick.
»Du musst die Wahrheit herausfinden, Victor, ohne sie und trotz ihnen. Sonst werden der SCRS oder Piché dafür sorgen, dass du die Sache ausbaden musst, so viel ist mal sicher. Ich habe nicht die Absicht, das zuzulassen. Aber ich kann dir nur beistehen, wenn wir an einem Strang ziehen.«
Victor nickte und legte seinem ehemaligen Vorgesetzten die Hand auf die Schulter.
»Du hast mein Wort, Paul.«
Das Problem lag im Unausgesprochenen der folgenden Stille. Delaney wusste es.
»Okay. Wie kann ich dir helfen?«
»Es gibt da Krankenakten, an die ich nicht herankomme. Bei der Armee.«
Das Handy in Victors Tasche vibrierte. Er zog es heraus und schaute auf das Display.
»Außer Gagné, Jacinthe und dir habe ich diese Nummer nur einer einzigen Person gegeben.«
Ohne weiteres Zögern ging er ran.
»Vera? Vera Nesvitaylo?«
Delaney spitzte die Ohren.