Die Wände im Wartezimmer der Intensivstation verströmten einen Hauch von Trübsal. Den Blick ins Leere gerichtet, Abel Parkers Akte in der Hand, hatte Victor das Gefühl, auf einen Abgrund zuzugleiten. Das Leben hatte ihm schon zu viele nahestehende Menschen entrissen, und aus seiner aufgewühlten Seele, deren Tiefe er nicht ergründen konnte, reckten sich ihm die Hände der Toten entgegen, die ihn zu sich holen wollten. Nein, nicht noch einen. Diesmal nicht. Das würde er nicht verkraften.
Er kam in dem Moment wieder zu sich, als Delaney zu ihm zurückkehrte.
»Alles klar. Vera und Yako sind mit Loïc zurückgefahren.«
Victor dankte ihm. Es beruhigte ihn, die beiden Frauen in der Obhut des Dezernats zu wissen. Delaney zögerte.
»Du solltest nicht ewig hierbleiben.«
»Gagné hat alles für mich riskiert. Ich habe ihn mit da hineingezogen. Du würdest an meiner Stelle dasselbe tun, Paul.«
Delaney nickte und senkte den Kopf.
»Wie geht’s ihm?«
»Der Chirurg sagt, er hat alles getan, was in seiner Macht steht.«
Delaneys Abneigung gegen den Expolizisten schien verschwunden.
»Aber … wird er durchkommen?«
Victor sah ihn aus feuchten Augen an und machte eine hilflose Geste. Die Wahrheit war, dass Gagné mit dem Tode rang.
»Ist Jacinthe bei ihm?«
Als Antwort ruckte er mit dem Kinn. Delaney legte ihm einen Arm um die Schultern.
Jacinthe hatte Victor vor der drohenden Gefahr gewarnt, als sie zum nächsten Krankenhaus gerast war. Er hatte sie beruhigt: Die Gefahr sei gebannt. Fürs Erste jedenfalls. Nach dem Telefonat hatte er sofort Paul Delaney angerufen. Der Chef des Dezernats Kapitalverbrechen, zu dem Zeitpunkt auf dem Weg nach Montréal, hatte sofort gewendet und sich mit ihnen auf einer sicheren Straße am Waldausgang getroffen, die Yako ihnen angegeben hatte.
Sie hatten kein Wort gesprochen, als sie mit Blaulicht und Sirene ins Krankenhaus von Rivière-Rouge fuhren. Auf dem Rücksitz hatte Yako Vera im Arm gehalten. Und Delaney, der am Steuer saß, hatte nur hin und wieder einen verstohlenen Blick auf Victor geworfen.
Gagné lag bleich und ohne Bewusstsein in dem weißen Bett, künstlich beatmet und an diverse Infusionsbeutel angeschlossen. Die Krankenschwester ließ Jacinthe einen Moment mit ihm allein. So brauchte sie nicht zu verbergen, wie erschüttert sie war. Wie schon bei Nadja sprach sie mit ihm, ohne zu wissen, ob er sie hörte.
»Suzie ist auf dem Weg. Sie muss gleich hier sein.«
Sie ergriff seine Hand.
»Du lässt dich nicht hängen, klar? Du musst durchkommen, Großer!«
Plötzlich stieß sie seine Hand weg, sodass sie aufs Bett fiel und reglos neben seinem Körper liegen blieb.
»Denn wenn du dich hängen lässt, werde ich nicht zu deiner Beerdigung kommen, und ich werde dir auch keine Blumen aufs Grab legen. Ich möchte nicht mal wissen, wo es ist, dein beschissenes Grab.«
Sie verdrückte ihre Tränen und schlug beim Rausgehen die Tür hinter sich zu.
Um neugierigen Blicke zu entgehen, waren sie in einem Untersuchungszimmer unmittelbar neben der Intensivstation zusammengekommen. Delaney hatte Victor über Nadjas Zustand in Kenntnis gesetzt – er war nach wie vor stabil – und von der Akte erzählt, die er Jacinthe und Gagné übergeben hatte, und anschließend hatte Victor von seinem Zusammenstoß mit dem Chef der Freelander im Wald berichtet.
»Bist du sicher, dass er es war?«
Victor biss die Zähne zusammen.
»Ja, alles geht auf sein Konto. Guillaume Lefebvre, die Schießerei vor dem Restaurant und Nadja, Thomson, Gagné und alles andere. Ich hatte ihn direkt vor mir. Und konnte nichts machen.«
»Immer noch besser als ein Blutbad.«
»Dieser verfluchte Abel Parker. Ich muss ihn kriegen, und zwar schnell.«
Er taumelte am Rande des Abgrunds, und Delaney wusste es.
»Vor allem musst du einen kühlen Kopf bewahren, Victor.«
»Leicht gesagt.«
Der Chef des Dezernats Kapitalverbrechen schlug einen vertraulichen Ton an.
»Da ist es noch etwas, was ich vor Gagné nicht sagen wollte, als ich mit Jacinthe gesprochen habe.«
»Was?«
»Ich habe die Akte vom SCRS bekommen.«
Victors Weltbild bekam einen Knacks.
»Vom SCRS?«
Delaney schien darüber ebenso verwundert wie er.
»Ich weiß, mir ist das auch ein Rätsel. Einerseits verlangen sie, dass ich meine Ermittlungen auf Eis lege. Andererseits steckt mir einer ihrer Agenten hinter dem Rücken seiner Chefin das da zu. Und zwar kurz nachdem ebendiese Chefin in mein Büro platzt und mir erklärt, dass ich mich raushalten soll.«
»Aber wenn sie ihn überwachen, warum geben sie die Akte dann weiter? Was könnten sie damit bezwecken?«
»Das ist die große Frage. Also für mich riecht das nach Manipulation. Vor dieser Chefin, einer gewissen Claire Sondos, würde ich mich an deiner Stelle in Acht nehmen.«
Victor wedelte mit der Akte in seiner Hand.
»Da drin sind mehr Schwärzungen als sonst was. Wir wissen nicht einmal, welchem Regiment er in Afghanistan angehört hat. Wir haben nichts oder fast nichts außer seinem Namen.«
Er überlegte kurz.
»Haben sie uns nur einen Knochen hingeworfen, damit wir etwas zum Nagen haben, oder ist das eine echte Spur?«
Delaney zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht.
»Ich habe Loïc gebeten, ein paar Nachforschungen zu Abel Parker anzustellen. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
Nach kurzem Schweigen sagte Victor:
»Das ist doch nicht normal, Paul. Da ist irgendwas faul beim SCRS.«
Nach kurzem Zögern erwiderte Delaney mit Unschuldsmiene:
»Und du würdest am liebsten hingehen und sie höchstpersönlich fragen, was das Ganze soll, stimmt’s?«
Victor sah ihn fragend an.
»Der Agent, der mir das da gegeben hat, heißt Hubert Baron.«