Ich liebe Morphium

Als Gagné das erste Auge öffnete, fühlte er sich wie nach einer ordentlichen Mütze Schlaf. Mit dem zweiten sah er die bleichen Wände, die Gerätearmada und ihre blinkenden Kontrollleuchten mitsamt dem Gewirr an Schläuchen. Einen Moment fragte er sich panisch, wo er war, dann begegnete er dem liebevollen Blick von Shu, die neben seinem Bett saß. Er drehte sich ein wenig zu ihr, bemüht, sich den Schmerz nicht ansehen zu lassen.

»Du hättest dich ruhig zu Hause ein bisschen ausruhen können.«

Entgegen allen Erwartungen war er schon wenige Stunden nach der OP wieder bei Bewusstsein gewesen. Seitdem hatte sich sein Zustand stetig verbessert.

»Das Morphium tut gut, ich liebe Morphium, aber sag ihnen, dass sie mir keins mehr geben sollen. Ich will wirklich nicht rückfällig werden.«

Shu Sze nahm seine Hand.

»Ich pass schon auf dich auf. Du wirst nicht rückfällig. Aber ich sag trotzdem Bescheid.«

Gagné erwiderte ihr Lächeln, dann verfinsterte sich seine Miene auf einmal.

»Immer noch nichts von Lessard und Taillon?«

Auf ihr Kopfschütteln sagte er:

»Ich hoffe, sie stellen nicht irgendeinen Mist an.«

Sein Mund war so trocken, dass er kaum schlucken konnte, und Shu hielt ihm ein Glas Wasser an die Lippen, damit er etwas trank.

»Es kommt mir vor, als hätte ich sie im Stich gelassen.«

So ging es schon, seitdem er aufgewacht war. Wenn er seinem Instinkt trauen durfte, der ihn allerdings schon oft getrogen hatte, waren die ersten Anzeichen bereits in Chinatown erkennbar gewesen. Shu hatte Angst, ihn zu verlieren. Zum ersten Mal glaubte er wieder daran, dass sie eine Chance hatten, doch aus lauter Angst, verletzt zu werden, verdrängte er den Gedanken lieber.

»Niemand lässt hier mehr jemanden im Stich, okay?«

Sie waren beide ergriffen. Shu strich ihm mit den Fingerspitzen über die unrasierte Wange, als es an der Tür klopfte.

Im Rahmen stand eine atemberaubend schöne Frau mit dunklen Haaren.

»Sind Sie Yves Gagné?«

Misstrauisch antwortete Shu an seiner Stelle.

»Kommt drauf an wer fragt.«

Die Journalistin lächelte freundlich, bevor sie sich direkt an ihn wandte.

»Mein Name ist Virginie Tousignant. Sie haben mich angerufen …«

Shu warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Du hast genug getan! Es reicht!«

Gagné sah zu Virginie.

»Nett, dass Sie gekommen sind.«

Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Leise sagte Gagné zu Shu:

»Als wärst du besser. Du hast auch nicht aufgehört, nachdem du Victor behandelt hast.«

»Ich habe ihnen die Tür der Kirche aufgemacht, in der mein Vater arbeitet. Das ist ja wohl kaum dasselbe.«

Virginie hielt sich diskret ein Stück abseits, während Gagné die Hand nach seiner Exfrau ausstreckte.

Shu sah ihn lange an. Je länger die Stille anhielt, desto mehr schmolzen ihre Vorbehalte dahin. Schließlich nickte sie Virginie zu, die daraufhin neben ihr Platz nahm.

 

Nachdem sie ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, kam die Journalistin schnell zur Sache.

»Piché hat nicht nur Druck auf mich ausgeübt, damit ich meinen Artikel nicht publiziere. Er hat sogar einer anderen Zeitung ein Interview gegeben, in dem er Victor beschuldigt, ihn nicht früher auf Tanguays Vergehen hingewiesen zu haben. Seine Version der Fakten wurde von einem seiner internen Ermittler bestätigt.«

Gagné schüttelte den Kopf und sah dabei so angewidert aus, als wäre er in einen dampfenden Hundehaufen getreten.

»François Lachaîne, Pichés Marionette. Ekelhaft ist das.«

Shu konnte bei bestem Willen das Problem nicht erkennen. Für sie war immer nur die Wahrheit entscheidend.

»Victors Unschuld lässt sich doch bestimmt beweisen. Wieso versucht ihr es nicht bei seinem Chef? Der ist doch ein ehrlicher Kerl, oder?«

Virginie erinnerte sie daran, dass die Wahrheit allein manchmal nicht ausreichte.

»Mit Delaney begeben wir uns direkt aufs Glatteis. Sie haben ihn jetzt schon auf dem Kieker, und bei Victors heimlichen Ermittlungen sieht er aktuell bewusst weg. Wenn Piché das herausfindet, verwendet er es gegen ihn und macht die Sache nur noch schlimmer.«

Virginie ließ die beiden einen Moment darüber nachdenken, bevor sie fortfuhr.

»Am Telefon hast du etwas von kompromittierenden

Virginie sah von Shu zu Gagné.

»Ihr könnt mir vertrauen. Ich verrate niemals meine Quellen.«

 

Kommandant Tanguays Stimme klang abwechselnd bedrohlich und beschwichtigend.

»Die Zeit, sich Fragen zu stellen, ist vorbei, Gagné. Du hast sowieso nichts zu befürchten. Wir haben Rückendeckung von oben, okay?«

Shu, das Handy ihres Exmanns in der Hand, stoppte die Aufnahme. Virginie sah zu Gagné.

»Ist das alles?«

Er nickte bedauernd.

»Als ich nachgebohrt habe, hat Tanguay den Finger auf die Lippen gelegt und mir zugezwinkert. Heute würde ich auf Antworten beharren, aber damals …«

»Und dieser Vorgesetzte, die Rückendeckung, das war Piché?«

»Ist Piché. Das ist nicht viel wert, ich weiß. Aber das ist noch nicht alles.«

Seine Mundwinkel hoben sich zu einem kleinen Lächeln.

»Ich kann beweisen, dass Piché über den Missbrauchsring Bescheid wusste. Ich gebe dir die Kontaktdaten von jemandem. Suzie …«

Er streckte die Hand aus, und Shu reichte ihm das Telefon. Mit schwachen Fingern durchsuchte er sein Adressbuch. Als er fündig geworden war, reichte er Virginie den Apparat.

»Hier. Ruf sie an. Und sag ihr, dass du die Nummer von mir hast. Aber sachte, ja? Sie darf auf keinen Fall ihre Meinung ändern.«

Virginie nickte. Sie hatte verstanden.

»War gar nicht einfach, sie zu überzeugen. Aber sollte sie reden, hast du Piché an den Eiern. Und nicht nur im übertragenen Sinne.«

Virginie machte mit ihrem Handy ein Foto von Gagnés

»Nichts zu danken. Wenn du erfolgreich bist, kann ich endlich wieder in den Spiegel sehen.«

Verständnisvoll berührte Virginie seinen Arm, dann verabschiedete sie sich und ging. Gagné drehte sich wieder zu Shu, und mit der erbitterten Leidenschaft zweier Liebender, die sich verloren geglaubt und endlich wiedergefunden haben, fielen sie einander in diesem Krankenhauszimmer, in dem er noch vor wenigen Stunden ums Überleben gekämpft hatte, in die Arme.