Ein Pakt mit dem Feind

Da Ghetto X und das umliegende Terrain inzwischen vom SCRS und seinen Spezialeinsatzkräften kontrolliert wurden, wusste Abel, dass seine Fluchtchancen minimal waren. Aber im Moment gab es sowieso Wichtigeres. Er konnte nicht aufhören, über Victor Lessards Behauptungen nachzudenken, bis ihm schwindelerregende Zweifel kamen. Hatte sein Vater sie wirklich betrogen und dem SCRS zum Fraß vorgeworfen? Und wenn ja, warum?

Dann unterbrach eine Stimme seinen Gedankengang. Die Stimme seines früheren Kendomeisters, den Joseph engagiert hatte, um Abel zu unterrichten, als er erst sechs war. »Du brauchst stets einen ruhigen Geist, Abel. Mach dich leer.«

Er hatte es gerade wieder geschafft, sich zu fokussieren, als jemand den Schlüssel ins Schloss steckte. Er hob den Kopf. In der Tür stand Hubert Baron, der dem wachhabenden Soldaten mit einem Nicken dankte. Hinter sich schloss er ab und ging auf Abel zu.

»Tut mir leid, ich konnte nicht früher weg.«

»Du musst mich hier rausbringen.«

»Würde ich ja gern, aber mit der Spezialeinheit vor Ort sind mir die Hände gebunden. Wenn du entkämst, wäre sofort klar, dass du einen Komplizen hast. Und ich glaube, dass sich das Risiko, dass ich mit auffliege, nicht lohnt.«

»Ich muss zu meinem Vater, Baron.«

Der SCRS-Agent schob die Hände in die Tasche und starrte zu Boden.

»Ich habe mit Joseph geredet.«

»Dass wir abwarten sollen, bis sich der Staub gelegt hat und wir weitersehen können.«

Abel biss die Zähne aufeinander. Diese weitere Ablehnung war für ihn der nächste Schock.

»Er will mich hier also nicht rausholen?«

»Doch, natürlich, aber nicht jetzt gleich.«

»Baron … die Cyberattacke … Ist die Operation abgeblasen?«

Der Agent befand sich auf hauchdünnem Eis.

»Ich ähm … Ich denke schon.«

»Du denkst?! Hat er dir nichts dazu gesagt?«

Baron versuchte sich aus der Affäre zu ziehen.

»Hör zu, Abel, ich …«

Doch der Scharfschütze nahm ihn genau ins Visier. So einfach würde er sich nicht abspeisen lassen.

»Will er ohne mich weitermachen?«

Baron wollte ihn beschwichtigen.

»Aber nein, Abel …«

»Wenn ich hierbleibe, lande ich im Gefängnis.«

»Abel, dein Vater hat eine Menge Einfluss. Ich bin mir sicher …«

»Tu was, Hubert!«

»Ich habe doch gesagt, hier sieht’s aus wie auf Alcatraz!«

Abel stand auf, näherte sich seinem Gegenüber und sah Baron flehend an.

»Ich bitte dich.«

Schneller, als Baron reagieren konnte, warf sich Abel auf ihn, legte ihm die gefesselten Hände um den Hals und hielt ihn im Würgegriff. Baron wehrte sich, aber gegen Abel hatte er keine Chance und verlor schließlich das Bewusstsein. Der Anführer der Freelander ließ Barons reglosen Körper vorsichtig zu Boden gleiten. Dann schnappte er sich dessen Waffe und schlug gegen die Tür, wie es der Agent getan hätte.

Ahnungslos öffnete der Wachsoldat die Tür. Die Waffe auf ihn

 

Der Freelander hatte einen weiteren Trumpf im Ärmel: Er kannte die Anlage von Ghetto X wie seine Westentasche. So konnte er sich trotz kleinerer Schreckmomente ohne große Probleme die versteckten Schlüssel besorgen, den Soldaten auf ihren Runden ausweichen und es ins Gebäude zu Ibas Zimmer schaffen. Dort entriegelte er ihre Tür und drückte sie lautlos einen Spaltbreit auf.

Abels Herz zog sich zusammen. Sie lag auf ihrem Bett. Er machte den Mund auf, besann sich jedoch eines Besseren und betrachtete sie schweigend in all ihrer Makellosigkeit und Pracht.

Iba hatte ihn schon an seinem Gang auf dem Flur erkannt; seine Schritte hätte sie unter Tausenden ausgemacht. Die junge Frau lächelte gelassen, auch wenn ihr Tränen in die Augen stiegen. Nicht weniger aufgewühlt ließ Abel sie allein. Erst da begriff er, warum er zu ihr gegangen war: Er würde sie nie wiedersehen.

 

»Wir sind zwar nicht verhaftet, aber die Tür ist trotzdem verriegelt.«

Zum wiederholten Mal ließ Jacinthe ihre Laune am Türknauf aus. Auf Claire Sondos’ Befehl waren Victor und sie in einem Zimmer der Schlafbaracke der Freelander eingesperrt, »bis ich mit Joseph Parker geredet und ein paar Dinge geklärt habe«.

Draußen vorm Fenster blieb ein Soldat stehen. Wie auf jeder seiner Runden warf er einen Blick hinein, aber für Jacinthe war es das eine Mal zu viel.

Von ihren Beschimpfungen unbeeindruckt, ging der Mann weiter. Victor, der nachdenklich und angespannt auf dem Bett saß, griff ein.

»Du solltest dich hinsetzen und deine Kräfte sparen. Vielleicht brauchst du sie später noch.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Ach ja? Weißt du was, was ich nicht weiß? Ich hab nämlich Neuig…«

Das Klicken des Schlosses unterbrach sie, dann schwang lautlos die Tür auf. Abel kam herein und machte hinter sich zu, den Zeigefinger auf den Lippen, damit sie keinen Mucks von sich gaben. Victor sprang vom Bett und überprüfte am Fenster, wie weit der Wachsoldat mit seiner Runde war.

»Wir haben nicht viel Zeit, Abel.«

Der andere zögerte keine Sekunde.

»Worauf warten wir dann? Let’s go.«

Die beiden Männer maßen einander mit Blicken und versuchten einzuschätzen, was der andere im Schilde führte.

»Ähm … ’tschuldigt bitte, aber würde mir mal jemand erklären, was hier los ist?«

»Wir machen uns auf die Suche nach seinem Vater.«

Baff schüttelte Jacinthe den Kopf.

»Ja klar! Das ist doch offensichtlich eine Falle!«

Victor drehte sich zurück zu Abel.

»Weißt du, wo’s hingeht?«

»Wir haben ein Safehouse.«

Jacinthe packte Victor am Arm.

»Du kannst dem Typen nicht trauen, Lessard. Er hat versucht dich zu töten. Seinetwegen liegt deine Freundin im Koma. Davon abgesehen – selbst wenn wir hier rauskommen, sitzt uns der SCRS im Nacken.«

Abel öffnete die Tür, spähte den Flur hinab und drehte sich zu ihm um.

»Das wolltest du doch, Lessard. Dass wir zwei die Sache zu Ende bringen. Jetzt hast du die Wahl. Bleib hier und tapp weiter im Dunkeln, oder komm mit. Alles oder nichts.«

»Victor Lessard, sag mir, dass du das nicht tust.«

Zwiegespalten, aber mit entschlossener Miene antwortete Victor:

»Tut mir leid, Jacinthe, aber ich muss Bescheid wissen.«

Abel machte ihm Beine.

»Los jetzt, die Luft ist rein!«

Jacinthe atmete durch und sah ihren Freund vorwurfsvoll an.

»Du schuldest mir einen Burger. Fucking Gwendoline. Und zwar mit Blattgold statt Käse.«

Sie postierte sich hinter Abel, der sie misstrauisch ansah.

»Die nicht. Nur du und ich, Lessard!«

Gerührt schüttelte Victor den Kopf. Er konnte kein weiteres Opfer von Jacinthe verlangen; sie hatte ihr Leben schon zu oft für ihn riskiert. Genau das wollte er ihr sagen.

»Bleib hier. Nach allem, was …«

Aber sie unterbrach ihn sofort.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich mit dem Geisteskranken allein lasse! Wir sind Partner, mein Lieber.«

Für Abel hatte sie nur einen herablassenden Blick übrig.

»Und du hältst gefälligst die Klappe, Messie. Niemand hat dich gefragt.«

Vorsichtig schlichen sie aus dem Zimmer, und Abel schloss hinter ihnen die Tür ab. In eisigem Tonfall flüsterte er:

»Links bis zum Ende des Flurs. Schnell.«

Mit Abel als Schlusslicht hasteten sie los.