Darwyne kennt sich aus mit Stiefvätern.

Ihm scheint sogar, dass sein ganzes Kinderleben vom Kommen und Gehen der Männer seiner Mutter getaktet war. Er erinnert sich nicht an Namen oder, besser gesagt, er hat keine Lust, sich daran zu erinnern, deshalb hat er ihnen im Kopf Nummern verpasst: Stiefvater Eins, Stiefvater Zwei, Stiefvater Drei… Denn zählen kann Darwyne, mindestens bis hundert. Er hat also noch Luft nach oben, obwohl er weiß, dass die Mutter bestimmt viel mehr Männer in ihrem Leben hatte als die acht offiziellen. Klar, sie ist ja auch die schönste Frau von Bois Sec, und vielleicht sogar von allen Vierteln der Stadt zusammen. Und auch die mutigste und schlaueste und fleißigste. Es gibt immer einen Kerl, der um sie herumschleicht, sobald der Platz freigeworden ist. Das hat Darwyne schon lange bemerkt, die Art, wie die Männer sie anschauen, als wäre sie Essen auf zwei Beinen. Manchmal fragt er sich, ob er es eines Tages auch so machen wird, ob er um manche Frauen herumschleichen wird wie eine Ratte um die Mülltonnen, später, wenn er wie die anderen geworden ist. Dann denkt er bei sich: Nein, unmöglich, das sind Dinge, die ihn nie betreffen werden.

Seiner Meinung nach sind die Stiefväter immer schlechte Menschen: Manche sind größer als andere, stärker, ruhiger, manche lachen, manche schreien, manche tun nett, um sich bei ihm einzuschmeicheln oder sich vor der Mutter besonders hervorzutun, aber im Grunde sind sie alle gleich. Mit der Zeit und anhand der gesammelten Erfahrungen hat Darwyne gelernt, sich bei dem Thema keine Illusionen mehr zu machen: Er weiß, wie die Dinge anfangen und wie sie enden. Immer auf die gleiche Art, und meistens schlecht, findet er. Eigentlich ist es ein ständiger Kreislauf, nur die Nummern ändern sich.

Und bei dem Neuen, der Nummer acht, wäre es das Gleiche.

Da ist Darwyne sich sicher.

Er vermisst bereits die paar Wochen, die er mit der Mutter allein verbringen durfte, die Zeit zwischen diesem Mann und dem davor, Stiefvater Sieben, der mit Ästen und Stöcken auf ihn einschlug und immer beteuerte, er werde der Mutter ein richtiges Haus bauen, mit Massivwänden und einem Dach, das nicht verrostet war, aber er hatte nie irgendetwas getan. Die Wochen ohne Stiefvater waren wie eine Auszeit. Das Gefühl, dass die Mutter ganz für ihn da war, und ein bisschen für seine große Schwester, die ab und zu vorbeischaute. Das Gefühl, dass sie anders war, die Mutter. Ihm gegenüber aufmerksamer. Und auch nicht so verstimmt, Ja, denkt er, sie war seltener verstimmt. Am besten wäre das ewig so weitergegangen, am besten hätte sie nie wieder einen Mann gefunden. Aber im Grunde wusste er, dass es irgendwann wieder passieren würde. Weil die Mutter sie nämlich braucht, die Männer. Das hat er begriffen, auch wenn er selbst sich sicher ist, dass sie ohne auskommen könnte.

Jetzt wohnt der Mann mit der Motorsense schon eine Woche bei ihnen, überlegt Darwyne, den Hintern auf seinem Baumstumpf, während weiter oben auf dem Grundstück die Machete singt. Und schon jetzt hat sich so Vieles geändert. Der Alltag geht natürlich seinen Gang: Die Mutter ist jeden Tag in der Stadt und kauft Waren, die sie dann ein bisschen teurer im Viertel weiterverkauft, oder sie macht Blätterteigpasteten und frittierte Fischbällchen und verkauft sie abends an die, die keine Lust zum Kochen haben; er, Darwyne, geht weiterhin zur Schule, denn anscheinend ist das wichtig, wenn er als Erwachsener nicht so ein Leben haben will wie die Mutter, denn: Ja, kleines Opossum, eines Tages bist du erwachsen, und dann musst du es machen wie deine Schwester, du musst Mittel und Wege finden, auszuziehen. Aber er merkt ganz genau, dass es zu Hause nicht ist wie sonst, dass weniger Platz für ihn ist.

Weil ein Stiefvater nämlich viel Platz einnimmt.

Von seiner Hühnerstange aus sieht der Junge zu, wie der Mann gegen den Dschungel kämpft. Die Mutter hat ihn schnell eingespannt: Ganz oben auf ihrem kleinen, von Blechwänden umzäunten Grundstück ist der Mann damit beschäftigt, den Wald zurückzudrängen. Mit nacktem Oberkörper und der Machete in der Hand schlägt er auf das Dickicht ein, um das sich seit Stiefvater Sieben keiner mehr gekümmert hat und das der Mutter zufolge die winzige Hütte bedroht. Die Klinge dringt in die Rinde, prallt am harten Holz ab, die Zweige fliegen, man könnte meinen, er versucht seit vorhin, den gesamten Amazonaswald zu roden. Darwyne gefällt das nicht, bei jedem Schlag geht ein Zucken über sein Gesicht, als würde man ihn selbst in Stücke schneiden. Und jedes Mal, wenn der Stiefvater sich in einem Knäuel rasiermesserscharfen Grases verheddert oder mit dem Fuß neben die Palme kommt, in die Ecke, wo Hunderte Feuerameisen ihr Nest gebaut haben und sich auf jedes Stück menschlicher Haut stürzen, sobald man sie stört, denkt Darwyne bei sich, dass ihm das ganz recht geschieht. Auch die Mutter beobachtet mit der Miene der Hausherrin ihren neuen Liebhaber und wirkt zufrieden. Sie sitzt auf der Betonstufe am Hütteneingang und schält Kochbananen, lässt sie in eine rosa Plastikschüssel mit aufgemalten Blumen fallen. Neben ihr liegt ihr Handy und spuckt evangelikale Gesänge aus, sie hört einen christlichen Radiosender.

Ein dumpfer Hieb trifft den Stamm eines Ameisenbaumes, der unter dem Angriff erzittert und dann mit einem Krachen aus Holz und Blättern fällt. Darwyne versteift sich.

»Jetzt guck nicht so«, ruft die Mutter und schält weiter Bananen. »Du weißt doch, dass ich diesen Wald hasse.«

Der Junge runzelt die Stirn, will sich selbst beruhigen: Nicht doch, sie redet nicht von dir. So vergehen die Minuten im Lärmen der Rodung. Die Mutter ist mit Schälen fertig, wischt sich die Hände am Pareo ab. Sie trägt die Schüssel hinein.

Und bald darauf ruft sie:

»Opossum, Hausaufgaben.«

Darwyne schließt kurz die Augen, in seinem Bauch bildet sich ein Klumpen: Hausaufgaben hasst er. Ein Glück, dass es die Mutter gibt und dass sie weiß, wie man ihm auf die Sprünge helfen muss, denn ohne sie würde er nie welche machen, ganz bestimmt nicht. Und er würde sein ganzes Leben lang ein kleines Opossum bleiben. Und nie so werden wie die anderen. Und er würde schlimm enden, arm und einsam und elend, denn dann gäbe es niemanden mehr, der sich um ihn kümmert. Also verlässt er seinen hölzernen Thron. An einem Stück Blech lehnt der Ranzen mit einem Roboterbild drauf, den haben sie bei einem Chinesen in der Stadt ergattert. Er packt die Riemen, schleift den Ranzen über die graue Erde. Die Mutter erwartet ihn in der klebrigen Hitze der Hütte, sie steht neben dem Gaskocher, die Hände noch schmierig von den Bananen. Er setzt sich x-beinig aufs Sofa, an dieselbe Stelle wie gestern, dort, wo eine kleine Delle in der Matratze ist. Er nimmt das Heft heraus, das blaue, schlägt es auf dem Schoß auf. Und während die Mutter ihm hilft, sich zu konzentrieren, versucht er, die Worte auf dem Papier zu entziffern.

Der reißende Wolf.

Ein warmer Schal.

Im roten Auto.

Tut so, als würde er etwas von diesen Adjektivdingern begreifen, von denen der Lehrer immer redet, als wären diese Buchstabenfolgen lebenswichtige Nahrungsmittel.

Noch stärker als tagsüber merkt Darwyne am Abend, was sich seit dem Einzug von Stiefvater Acht alles verändert hat. Die Nacht ist über Bois Sec hereingebrochen, kein Kind spielt mehr auf den erdigen Gassen des Viertels. Offenbar ist es gefährlich, sich um diese Uhrzeit draußen herumzutreiben, nur ein paar Männer machen das, und dieses Gesindel, das man Dealer nennt und das die Mutter verflucht; sie sagt nämlich, wegen diesen Leuten hassen die Leute im Land Ausländer, und auch, dass man denen verbieten sollte, sonntags in die Kirche zu kommen, diesen Parasiten. Deshalb haben sich die Familien in ihre Hütten zurückgezogen.

Der Fernseher ist an, er steht wackelig oben auf dem Kühlschrank, das Bild auf dem Flatscreen flackert. Vögel sind ihm zwar lieber, aber Darwyne schaut trotzdem gerne fern, Zeichentrickfilme, Fußballspiele, Serien, völlig egal, solange die Bilder sich nur bewegen, immer weiter, manchmal bis es in den Augen brennt. In den letzten Wochen hat er sich mit seiner Schale Klebreis aufs Sofa gesetzt, und die Mutter ließ ihn in Ruhe, aber nun ist das der Platz vom Stiefvater: So, wie er gebaut ist, braucht der das ganze Polster. Also sitzt Darwyne im Schneidersitz auf den gesprungenen Fliesen und lehnt sich an die Wand. Zwischen zwei Werbepausen wirft er dem Mann neugierige Blicke zu: Er hat die Unterarme auf den Knien, beugt sich über seinen Teller und beendet sein Abendessen, chinesische Krabbensuppe, verfolgt geistesabwesend das Fernsehprogramm, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, räuspert sich geräuschvoll. Nach getaner Arbeit hat er sich am Eimer gewaschen, ein paar Wassertropfen trocknen noch immer auf seinem nackten Oberkörper. Die Mutter bereitet schon geschäftig den nächsten Tag vor, stapelt Plastikbehälter mit Brühwürfeln, abgepackter Seife und Flaschen mit Satésauce. Darwyne weiß, dass in den Nachbarhütten viel größere Familien wohnen, manchmal sechs Kinder in einem Raum auf mehreren Stockbetten, doch, er weiß, dass sie hier im Viertel bei Weitem nicht am schlechtesten dran sind. Aber zu dritt ist es in diesem Raum natürlich schwieriger als zu zweit, vor allem mit einem Stiefvater wie diesem.

Schon komisch, dass die Mutter das nie verstanden hat.

Aber was ihm am wenigsten gefällt, kommt danach. Wenn Schlafenszeit ist. Dann, das ist gewiss, ist es überhaupt nicht mehr wie vorher. Darwyne schläft nicht mehr im Schlafzimmer auf der Schaumstoffmatratze zwischen der Wand und dem Doppelbett der Mutter. Nein, sein Schlafplatz ist nun auf dem Sofa, so ist das, wenn ein Stiefvater hier wohnt. Darwyne liegt auf dem Bezug, der sehr vage an ein Leopardenfell erinnert, unter dem in die Wellblechwand geschnittenen Fenster, vor sich den Kühlschrank mit dem ausgeschalteten Fernseher sowie das über der Spüle aufgestapelte Geschirr. Am Oberschenkel, dort, wo der Bezug ein Loch hat, spürt er die feuchte Polsterung. Er massiert sich die rechte Schulter, sie tut ein bisschen weh wegen der Hausaufgaben. Er starrt das Spinnengewebe unter dem Dach aus Balken und Blech an, betrachtet die braunen Gänge, die die Termiten im Laufe der Wochen gebaut haben. Er lauscht, wie die Nacht vibriert, all die Geräusche, die die Stille in Bois Sec stören. Er hört das Brummen der Stromaggregate derer, die keine Mittel und Wege gefunden haben, sich ans Stromnetz anzuschließen. Und auch Musik, ein paar Hütten weiter unten, Rap oder Reggae oder Dancehall. Er entschlüsselt all die Geräusche wie eine Klangkartografie seines Viertels, identifiziert Neuankömmlinge, folgt der unkontrollierten Entwicklung des Ortes.

Aber bald schon dringen andere Geräusche an sein Ohr.

Geräusche hinter dem löchrigen Vorhang, nur ein paar Meter entfernt. Die seiner Mutter in ihrem Bett, wie jedes Mal, wenn sie einen neuen Liebhaber hat. Bei Stiefvater Sieben hat sie anfangs die gleichen gemacht, das weiß Darwyne noch. Dann denkt er: Nein, das war anders. Weil es nämlich immer ein bisschen anders klingt, je nach Stiefvater, manchmal ist es lauter, manchmal unterdrückter. Manchmal klingt es, als hätte sie Schmerzen, manchmal, als ob sie lacht. Darwyne weiß, was sie tun, er weiß Bescheid über Sex. Er hört eigentlich überall, was darüber erzählt wird, als ob man an nichts anderes mehr denken dürfte, wenn man erwachsen wird. In diesen Momenten erinnert die Mutter ihn an ein wildes Tier aus dem Wald. Also stellt er sich vor, wie sie sich verwandelt, in ein Tapirweibchen oder ein Pekari oder in einen Puma vielleicht. Vielleicht ist das ja normal. Vielleicht kommt das ja ein bisschen von ihr. Dass er so ist, wie er ist.

Ein kleines Opossum.

Ein Drecksvieh.

Ein widerlicher dreckiger Makake.

Das Keuchen nimmt kein Ende, erfüllt die ganze Hütte, als wäre sie plötzlich ein Raubtierkäfig. Darwyne liegt stocksteif und lauscht, jedes Stöhnen lässt ihn erstarren, er wagt einen besorgten Blick Richtung Vorhang, als es intensiver wird und die Mutter in Gefahr zu schweben scheint. Aber er weiß, irgendwann ist der Sex immer zu Ende, auch wenn es manchmal ganz schön lange dauert. Und dass man da nicht eingreifen darf, nein, auf keinen Fall. Nur warten, bis der Stiefvater fertig ist. Bis der seltsame Hunger gestillt ist, der alle Männer befällt, sobald sie die Mutter kennenlernen.

Als das Liebesspiel endlich endet, ist es spät und Darwyne kann nicht einschlafen. Deshalb richtet er sich auf, kniet sich aufs Sofa. Er vergewissert sich, dass sich im Schlafzimmer nichts mehr regt, kein Erwachsener aufstehen will. Vorsichtig, damit es nicht quietscht, stößt er den Fensterladen auf und schaut in die Nacht. Und versinkt im Anblick des nahen Waldes. Und jetzt, wo Bois Sec eingeschlafen ist, all der menschliche Lärm schweigt, lauscht er den Geräuschen des Dschungels. Nach einem weiteren Tag mit dem Stiefvater beruhigt ihn das. Er wird es zwar nie jemandem erzählen, weder der Mutter noch sonst irgendwem, aber zuallererst hört er, wie der gerodete Waldrand sich von seinen Wunden erholt. Wunden, die sich langsam schließen, das holzige Rascheln pflanzlichen Gewebes. Und aus der Ferne hört Darwyne die nächtliche Fauna grollen, die sich tiefer im Wald herumdrückt. Er hört die Nachtvögel, das Fauchen des Riesentagschläfers, das Knarzen des Brillenkauzes, hört Baumsteiger- und Giftlaubfrösche singen, hört Brüllaffen brüllen, weit weg. Und weil er keinen dieser Namen kennt, Namen, die in den Büchern der Naturforscher stehen, gibt er ihnen im Kopf eigene Namen. Und obwohl er weiß, dass die Mutter das nicht gern sehen würde, bleibt er lange so hocken und lauscht ins Unterholz, das weitläufiger ist als die Stadt, sich unter dem Baldachin der Baumwipfel ins Unendliche ausdehnt. Der ganze Amazonas ein paar Meter neben seinem Bett.