Feuchte, lärmige Flure in der Grundschule, Minirucksäcke an Kleiderhaken. Mathurine kämpft sich gegen den Strom durch die Kinderflut. In den obligatorischen grünen T-Shirts schieben die Kleinen drängelnd und schubsend dem Ausgang zu, die nächsten Schulferien stehen offenbar kurz bevor. Die Pädagogin denkt: Ferien, die könnte ich auch gebrauchen. Nach diesem Fall, und all den anderen laufenden Verfahren. Nach der IVF, nach der Schwangerschaft (denn diesmal wird es klappen), nach der Geburt. Nach dem Mutterschutz. Ja, Mutterschaftsurlaub. Sie lächelt vor sich hin: Da wirst du dich noch ganz schön gedulden müssen, altes Mädchen. Im Vorbeigehen schnappt sie Gesprächsfetzen auf:
»Hey, du, du hast mich angefasst!«, schimpft ein Kind, das zwei Köpfe größer ist und aus dem Getümmel herausragt.
»Na, bei der Note, die der Lehrer dir gegeben hat, kriegst du garantiert Haue von deinem Vater!«, meint ein anderer zu seinem Freund. »Oh, oh, das wird zwiebeln …«
Eine spontane Aussage zu elterlicher Gewalt, potentielle Akten, die vielleicht einmal auf Mathurines Schreibtisch landen. Sie drückt sich an die Wand und lässt die Massen vorbei, die Akte vor der Brust. Dann geht sie auf den Lehrer zu, der sie vor einer verschlossenen Tür erwartet. Unsauber rasiert, zerknittertes Hemd: Mathurine ahnt, dass es trotz der Bemühungen schwierig für ihn ist, jeden Morgen korrekt gekleidet vor die Klasse zu treten. Aus dem Kragen guckt ein Stück Tätowierung heraus, irgendein Stammesmotiv, manchen Mädchen gefällt das sicher, denkt sie flüchtig. Sie schüttelt ihm die Hand, fragt:
»Ist er da drin?«
Kopfnicken.
»Ja, ja, er ist da. Ich hab ihm nur gesagt, er soll noch ein paar Minuten bleiben. Er wusste schon Bescheid.«
So war das auch mit Yolanda Massily ausgemacht gewesen: Mathurine sollte in der Schule mit Darwyne sprechen, ein neutralerer und vertrauterer Ort als die Büros der Jugendhilfe. Die Mutter hatte zugestimmt, ganz im Sinne ihrer bereitwilligen Kooperation mit den Behörden. Und die Direktorin der Grundschule hatte ebenfalls mitgespielt, den kleinen Raum angeboten, der als Bibliothek dient und um diese Uhrzeit meist leer ist.
»Kann ich danach noch mit Ihnen sprechen?«
»Natürlich, ich bin im Lehrerzimmer. Gleich rechts neben dem Ausgang.«
»Wunderbar. So, ich will ihn nicht allzu lange warten lassen, aber … Wie ist er denn so im Unterricht?«
Der Lehrer kratzt sich am Nacken, entblößt noch mehr von seiner Tätowierung.
»Darwyne? Er ist …« (Blick auf die geschlossene Tür, Seufzen.) »Also, da liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns. Mir persönlich tut ja eher die Mutter leid.«
Mathurine verzieht das Gesicht, die Bemerkung gefällt ihr nicht, was auch immer dahintersteckt. Der tätowierte Lehrer redet weiter, ohne sich groß drum zu kümmern, dass der Junge wartet:
»Ganz ehrlich, man kann ihn unmöglich einschätzen. Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm machen soll.«
»Haben Sie mit der Mutter gesprochen?«
»Ja, zweimal. Und ich würde sagen, dass sie ihren Job ziemlich gut macht. Ich hab den Eindruck, sie fördert ihn, so gut es geht, ist aufmerksam, aber na ja … ihr ist nicht bewusst, wie weit zurück ihr Sohn wirklich ist. Darwyne … hat kaum das Niveau eines Erstklässlers, beim Lesen bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas entziffern kann. Die Hausaufgaben macht er immer, aber ich glaube, er versteht nicht mal die Arbeitsanweisungen. Also, ich sage nicht, dass er zurückgeblieben ist, er ist nicht der Einzige, der nicht mitkommt. Aber … er ist halt irgendwie ein bisschen abseits. Lebt in seiner eigenen Welt.«
»In seiner eigenen Welt …«
»Das einzige Mal, dass er sich für den Unterricht zu interessieren schien, war, als wir einen Mitarbeiter vom ONF, von der Forstbehörde, zu Gast hatten, der über den Amazonas gesprochen hat. Da hat er vielleicht mal ein bisschen zugehört …«
Mathurine ringt sich ein Lächeln ab, eine Art Gut, Dankeschön, ich hab’s begriffen. Jetzt ist es Zeit, mit dem Kind zu sprechen. Der Lehrer geht zu seinen Kollegen. Die Pädagogin drückt die Klinke runter, macht die Tür auf, steckt den Kopf hinein, vor sich ein großer Tisch, umgeben von Kinderstühlen.
Niemand da.
Der Raum ist leer.
Mathurine stürzt zum offenen Fenster, es geht zum Hof: Am Zaun des Schulgeländes toben noch ein paar Kinder herum, kommen tröpfchenweise aus der Schule. Mitten unter ihnen, am Tor, meint sie die schiefe Gestalt des kleinen Darwyne auszumachen, gesenkter Kopf, Ranzen auf dem Rücken.
»Scheiße!«
Sie macht kehrt, rennt durch die Gänge Richtung Lehrerzimmer. Der Lehrer sitzt über einem Stapel Arbeiten, hat den roten Korrekturstift in der Hand.
»Er ist weg!«
Die grauen Augen blicken auf.
»Was?«
»Darwyne. Er ist weg.«
Der Lehrer schiebt den Stuhl zurück.
»Unmöglich, dieser Bengel …«
Und er läuft mit ihr bis zum Schultor, aus dem gerade die letzten Kinder gehen. Blickt sich nach allen Seiten um: Fahrzeuge mit hochgekurbelten Scheiben auf den Straßen, eine unordentliche Ansammlung von Einkaufswägelchen vor dem chinesischen Gemischtwarenladen, Jugendliche mit Bier in der Hand auf einem bröckelnden Mäuerchen. Aber keine Spur von dem Jungen.
»Sie haben mir doch gesagt, er sei einverstanden?«
»Ja, ja, ich habe es ihm heute Mittag gesagt. Aber na ja, er hat nicht gerade Luftsprünge gemacht, dass er Sie treffen soll …«
»Kann ich mir vorstellen. Aber einfach so abzuhauen, also wirklich.«
Blick über die Schulter: Alles okay, sie kommen dir nicht hinterher. Darwyne beschleunigt den Schritt auf dem Asphalt, biegt an der nächsten Ecke ab. Das Schulgelände verschwindet hinter der Betonmauer, er hält kurz an, um zu verschnaufen, ist schweißgebadet. Er rückt den Ranzen zurecht, ganz schön schwer, denkt dran, dass er auf die Bücher und Hefte darin achtgeben muss. Dass die beim Rennen abwetzen könnten, dass der Mutter das nicht gefallen würde. Aber gleich darauf wird ihm klar, dass das, was er gerade getan hat, hinsichtlich der mütterlichen Verstimmung sehr viel schlimmer ist.
Es wird ihr gar nicht gefallen, wenn sie es erfährt, nein, ganz und gar nicht.
Er ist ärgerlich auf sich selbst, ärgert sich ganz furchtbar. Er ärgert sich, weil er so ein kleines Opossum ist, das immer nur Probleme macht und einmal schmutzig und elend und verhungert enden wird, denn so wird er enden, das weiß er, wenn er so weitermacht. Dabei hatte er doch gut zugehört, als der Lehrer mit ihm sprach, ehe die Stunde wieder losging. Und auch, als die Mutter heute Morgen mit ihm geredet hat. Er wusste, dass er in der Bibliothek warten sollte auf die Frau von der Jugendhilfe, um ihr zu erklären, dass zu Hause alles in Ordnung war. Wenn er das machte, würde sie nämlich aufhören, ihre Nase in alles hineinzustecken und ihn zu anderen Eltern geben zu wollen. So viel begreifst du doch wohl, oder? Aber als er da saß und wartete und es zu lange dauerte, inmitten der Regalreihen voller Bücher, ist in ihm alles wieder hochgekommen. Die Sozialarbeiterin von vor zwei Jahren. Die Stiefväter und der Kreislauf, der jedes Mal von Neuem beginnt und immer gleich endet. Und auch all die Dinge, die die Mutter tut, um ihm zu helfen, aber die er nicht erzählen darf, weil das niemand je verstehen würde. Weil die Leute nämlich nicht wissen, wie das ist, wenn man statt eines Kindes einen dreckigen Makaken aufziehen muss.
Da hat er es sich anders überlegt, wollte auf keinen Fall mehr mit der Frau sprechen.
Da ist er ausgerissen.
In der prallen Hitze geht er weiter, Richtung Bois Sec, denn er muss zurück zur Hütte. Ja, schnell nach Hause, ohne zu trödeln, um nicht noch ungehorsamer zu sein als er es ohnehin schon war. Das sagt Darwyne sich immer wieder vor, während er die neonfarbenen Riemen umklammert hält: Nach Hause, nach Hause, so schnell wie möglich nach Hause. Nicht nach links und rechts schauen, sich nicht verleiten lassen. Mit gesenktem Kopf marschiert er voran, keucht noch immer vor Aufregung über seine Flucht, starrt auf seine verformten Turnschuhe. Er weiß ganz genau, was da gerade in ihm aufkeimt, all das kennt er schon, diesen Drang, der um ihn herumstreicht, seit Stiefvater Acht eingezogen und die Frau von der Jugendhilfe vorbeigekommen ist. Er weiß, dass das eine ganz schlechte Idee ist, dass er das nicht tun darf: Hm, das weißt du doch, kleines Opossum. Er presst die Lippen aufeinander, überholt andere Kinder, ohne sie zu beachten, Erscheinungen, die er gleich wieder vergisst. Behelfsmäßige Restaurants, aus denen wilde Rhythmen schallen, überfüllte Parkplätze, auf denen kreuz und quer Fahrzeuge stehen: Er beschleunigt den Schritt, konzentriert sich fest auf den Heimweg.
Aber hundert Meter bevor es in sein Viertel geht, bleibt er stehen.
Schließt sekundenlang die Augen, denkt noch einmal: Nein, sie hat es dir verboten.
Und schaut schließlich nach links.
Hinter dem trockenen Graben, der an der Straße nach Bois Sec entlangläuft, führt ein Pfad in den Wald. Einer der vielen Zugänge zum Wald, an denen Darwyne täglich vorbeikommt. Er starrt das niedergedrückte Gras an, die freiliegende Erde am Fuß der Bäume. Denkt an das letzte Mal, als er diesen Pfad genommen hat, vor ein paar Monaten, in der Zeit des gewalttätigen Stiefvaters Sieben. Ehe Stiefvater Acht aufgetaucht ist, in der winzig kurzen Zeitspanne, in der er mit der Mutter alleine war und das Gefühl hatte, alles wurde besser, hatte Darwyne eine Weile geglaubt, es sei vorbei, er brauche den Wald nicht mehr. Er könne sich mit dem unauffälligen, zugewachsenen Stück hinten auf dem Grundstück zufriedengeben, mit dem Eindringen der Vegetation oben im Viertel, mit Tukanen, Weißbauchpapageien, Milanen, Goldhasen, Südopossums, die ihn besuchen kommen, ohne dass jemand etwas davon weiß. Er hatte geglaubt, das würde reichen.
Aber er hatte sich getäuscht.
Er zögert, trippelt auf dem Asphalt herum, schaut nach rechts, schaut nach links. Die Bewohner dort, die einfach ihr Leben weiterführen, ohne sich um seines zu kümmern.
Und mit dem Ranzen auf dem Rücken läuft er in den Dschungel.
Er bricht durch den Rand aus dichtem Gestrüpp und Ameisenbäumen, geht über den mit Getränkedosen und anderem Müll bedeckten Boden, von der Straße aus weggeworfen. Kämpft sich durch das stadtnahe Dickicht, den von Trampelpfaden und Waldwegen durchkreuzten Dschungel, Abkürzungen für Fußgänger zwischen den einzelnen Vierteln, die der Wald noch trennt, heimliche Wege für tausendfache menschliche Transaktionen. Spuren im Schlamm, Splitter auf verstümmelten Stämmen, mit der Machete geköpfte Aststummel, die menschlichen Abdrücke werden mit der Zeit weniger. Und bald ist da der Amazonas. Das Unterholz nimmt sich seiner an wie ein Weibchen ihres verletzten Jungen, nimmt ihn in seinem Schatten auf. Darwynes Gang wird auf dem lockeren Humus sicherer, er kommt schneller voran als auf jedem Beton, die Feuchtigkeit hüllt seinen Körper in rehbraunen Schweiß und tut wohl, die Geräusche, die er jetzt nicht mehr von fern aus einem gerodeten Garten, sondern von überall her hört, treiben ihn an. Summende Zikaden auf der Baumrinde, das Quaken der Stummelfußfrösche an Bachläufen, Schwärme verschiedener Sperlingsvögel fliegen von Ast zu Ast, alle tschilpen in ihrer Sprache, Einfarbwürgerlinge vorneweg, der metallische Gesang des Kapuzinervogels, ein tierischer, vertrauter Chor, den Darwyne nun endlich wieder hört. Und ab und zu stößt er selbst Pfiffe oder ein Kollern aus, Geräusche, die ihn in den Augen der anderen schwachsinnig wirken lassen. Es ist ein Wohlgefühl, hier geht es ihm so gut wie sonst nirgendwo, vergessen die Schule und die undurchsichtigen Anweisungen des Lehrers, vergessen der Stiefvater, der ihm seine Mutter stiehlt und ihm Böses will, genau wie seine Vorgänger, vergessen die Jugendhilfe. Er wird zu einem anderen Darwyne, von seiner Bürde und den Blicken befreit.
Er geht immer weiter, findet unterwegs Pfade wieder, die ihm etwas sagen, vertraute Reliefs, pflanzliche Formen, die sich mit nichts vergleichen lassen, verwachsene Stämme, vertikale Stützpfeiler, die eine Mauer bilden, eine Ansammlung von Palmen mit tausend Dornen, und er orientiert sich an diesen Anhaltspunkten, als wären sie für ihn gemacht, lässt sich von dem Schwung tragen, Erinnerungen an vergangene Exkursionen kehren zurück. Er erklettert die Hänge, die Hügel des Amazonas hinter der Stadt, wandert einen dicht bewachsenen Bergkamm entlang, schlüpft durch ein verworrenes Lianendickicht, springt über das sandige Bett eines klaren Bachs. Er dringt tiefer vor als die Wildjäger, dorthin, wo die Fauna weniger scheu ist, begegnet den Blicken der Tiere, die sich im Gebüsch versteckt halten, findet Leben, von dem er, so scheint es ihm, als Einziger etwas ahnt, sowohl dem Dschungel als auch seiner Fantasie entsprungen. Er betritt ein Sumpfgebiet mit Kohlpalmen und gefallenen Baumstämmen, gelangt wieder auf festen Untergrund.
Und steht endlich vor seinem Baum.
Ein Riese, dessen Äste sich in der Höhe verlieren, weit höher als seine Artgenossen. Er erhebt sich aus dem Unterholz wie ein König in seinem Reich, der Stamm ist dicker als alle anderen, das kommt von einem Auswuchs auf halber Höhe, wie ein hölzerner Kessel. Die unterirdischen Wurzeln setzen sich über der Erde fort wie miteinander verflochtene, mannshohe Pfeiler, sie bilden ein Labyrinth, in das Darwyne, winzig am Fuße des Ungeheuers, sich nun hineinwagt. Seine Hand gleitet über das nasse Holz, er arbeitet sich bis zum Hauptstamm vor, wo alle Arme zusammenlaufen. Dort gibt es eine Öffnung zwischen Boden und Baum, eine Art Minihöhle. Darwyne schiebt die Holzstückchen beiseite, die sich im Laufe der Regengüsse angesammelt haben, wühlt mit den Händen im Humus.
Und legt einen seiner Schätze frei.
All die Dinge, die er hier versteckt, nie mit ins petit carbet gebracht hat, weil es viel zu viele oder weil sie zu sperrig sind. Er sitzt auf einem Wurzelstück, den Hintern schwarz vom Schlamm, und reiht alles vor sich auf. Ein paar von den Flüssen modellierte Steine, Treibholz in extravaganten Formen. Und Knochen, von Regenschauern und Aasfressern blankgeputzt, zerbrochen, poliert, behauen. Er betrachtet eins nach dem anderen, streichelt sie mit kleinen, dreckigen Fingern. Er setzt den Ranzen ab, stellt ihn auf die toten Blätter, schiebt ein paar seiner Schätze zwischen die Schulsachen, kriegt die Schnalle kaum wieder zu. Und lehnt sich an die Baumpfeiler, lässt sich auf die braune Erde sinken.
Er schaut zu den Wipfeln empor, mustert das verwobene Dach aus Ästen und Laub am Fuße des Himmels. Senkt den Blick auf die mittleren Etagen, aufkeimendes Astwerk im oberen Bereich der Stämme, jede Menge Epiphyten, Orchideen, Lianen zwischen den Stockwerken, Luftwurzeln wie senkrecht gezogene Würmer. Dann wandert sein Blick wieder zur Erde, wo er selbst liegt, ein Boden, der vor unterirdischem Leben nur so wimmelt, Samen in Winterruhe, die auf ein Austreiben warten, Triebe, die sich nach oben kämpfen, zarte, winzige Stängel neben den Baumgiganten. Endlich mustert Darwyne seinen eigenen Körper, die Füße voller Schlamm und Erde und die Unterschenkel voller Blätter auf dem Waldboden. Er mustert sie, wie er es sonst, wenn andere dabei sind, nicht tun kann, Ferse, Sohle, Zehen. Er denkt an die Behandlungen zurück, den Gips, die Schienen, die Operationen, um seine monströse Opossummissbildung zu heilen. Und er denkt an die Mutter, ohne die er gar nichts wäre, an die Mutter, die dort unten auf ihn wartet. Und er träumt davon, wie sie ihn bei seiner Rückkehr, denn zurückkehren wird er müssen, mit solchen Worten empfängt wie denen, die sie zu Ladymia gesagt hat.