»Und Ihre Mutter?«

Ladymia legt ihr Handy mit extragroßem Display hin, hebt respektvoll die Brauen.

»Aaaah, meine Mutter … Ganz ehrlich, Darwyne hat soo Glück, dass er sie hat.«

Sie schenkt Mathurine ein Glas von dem Chemiezeugs ein, das sie Fruchtsaft nennt.

»Sie sieht vielleicht nicht so aus, aber Sie können mir glauben, Madame, unsere Mutter ist eine Heilige. Sie hat ein hartes Leben gehabt, ich kann Ihnen sagen, ihr Leben wünsche ich wirklich niemandem, aber für ihre Kinder hat sie alles gegeben. Alles. Ohne sie, keine Ahnung, vielleicht wär ich ein Junkie geworden, oder schon tot … Und Darwyne, pff … das will ich mir lieber gar nicht vorstellen. Wissen Sie, neulich war er, na, was, vielleicht zwei Stunden weg? Sie war krank vor Sorge, Sie machen sich kein Bild, zehnmal hat sie angerufen.«

Sie greift wieder nach dem Handy, spielt ein bisschen herum, tippt aufs Display, nicht dass sie eine Nachricht verpasst.

»So. Wenn Sie eine Liste von Eltern aus Bois Sec wollen, die ihre Kinder verprügeln oder sich überhaupt nicht um sie kümmern, da kann ich Ihnen ein gutes Dutzend nennen. Da hätten Sie eine ganze Weile zu tun.«

Das Mundwerk der großen Schwester funktioniert einwandfrei. Sie sind bei ihr zu Hause, das hat sie spontan als Treffpunkt vorgeschlagen, als die Pädagogin sie auf Yolanda Massilys Rat hin kontaktiert hat. Eine ganz neue Wohnung, bescheiden, aber gut in Schuss, Blick auf einen Kanal und einen Platz, auf dem sich lärmende Kinder tummeln. Kein Vergleich zu der Bruchbude, in der ihre Mutter wohnt. Soweit Mathurine das verstanden hat, zahlt der Lebensgefährte die Miete, er arbeitet für ein Maklerbüro. Aber die junge Frau hat ebenfalls ein Gehalt, sie ist Verkäuferin in einer Boutique in der Innenstadt. Wenn man bedenkt, wo sie herkommt, nennt man das wohl Erfolg im Leben. Vorausgesetzt, das bedeutet irgendetwas, überlegt Mathurine beim Gedanken an ihr eigenes Dasein, das von ihrem heimlichen Kinderwunsch überschattet wird.

»Nein, Darwynes Problem sind eigentlich die Männer.«

»Die Männer?«

»Von unserer Mutter. Die Stiefväter halt.«

»Und davon gab es viele? Außer Jhonson und … Roodney?«

»Man merkt«, sagt die junge Frau mit schiefem Lächeln, »dass Sie sie nicht kennen … Sie … Sie ist eben eine Herzensbrecherin. Die Männer tauchen in ihrem Leben auf wie durch Zauberei. Hinterher, wenn es nicht mehr gut läuft, verschwinden sie wieder, und zwar völlig, aus, vorbei, sie will nicht mehr drüber reden. Dann angelt sie sich den Nächsten, keine Ahnung, wie sie das macht oder wo sie die immer aufgabelt … So ist sie, unsere Mutter: Ohne Kerle kann sie nicht leben. Ich ja auch nicht, aber gut, bei mir halten sie länger. Ich bin anspruchsvoller, glaube ich … Na ja, Sie verstehen schon.«

Mathurine lächelt und nickt, als wollte sie sagen: Ja, ich verstehe sehr gut. Als würde sie auch zu dieser Welt dazugehören. Zu dieser Welt, in der Männer und Frauen einander begegnen, einander verführen, sich vereinen, sich trennen und manchmal auch Kinder zeugen.

Die Schwester fährt von allein fort:

»Ja, okay, stimmt schon, Roodney war ein richtiges Arschloch, der hat Darwyne geschlagen. Aber es gab auch welche, die waren nicht schlecht, finde ich. Den Neuen, da, ich kenn ihn nicht gut, aber er sieht nett aus.« (Sie tippt ein paar Sätze auf ihrem Riesenhandy und redet dabei einfach weiter.) »Das Problem ist, also, ich liebe Darwyne, aber er ist nicht einfach. Der würde seine Mutter am liebsten ganz für sich haben, der kleine Neidbolzen, von daher läuft das natürlich eher suboptimal.«

»Hm«, lächelt Mathurine.

Die junge Frau lächelt ebenfalls, allerdings eher über die SMS, die sie gerade bekommen hat, als beim Gedanken an ihren kleinen Bruder, scheint es. Sie führt zwei Gespräche gleichzeitig, wirkt, als würde sie der Sozialevaluation nicht besonders viel Beachtung schenken. Während sie ihre Onlineunterhaltung fortsetzt, mit dem Daumen über den Touchscreen wischt, mustert Mathurine sie aufmerksam. Das Kleid liegt eng an dem pummeligen Körper und umspannt den ausladenden Busen, am Rücken eine Art Korsett aus überkreuzten Schnüren. Ein zum Lachen aufgelegtes Gesicht von der Unbeschwertheit eines Teenagers. Gegenüber dem Kunstledersofa hängt ein großer Fernsehbildschirm mit Soundbar, WLAN-Router und einer PlayStation 4 oder 5, das Ganze beißt sich mit dem ansonsten schlichten, kleinen Wohnzimmer. Mathurine stellt sich die Abende in der Wohnung vor, wie Ladymia und ihr Liebster auf dem Sofa lümmeln und Netflix gucken. Sie denkt bei sich, dass Darwynes Probleme der großen Schwester sicherlich keine schlaflosen Nächte bereiten. Wartet, bis der Austausch mit einer Flut Emojis beendet ist.

»Tut mir leid«, sagt Ladymia endlich und sieht auf, sie platzt fast vor Lachen. »Eine Freundin hat mir was geschickt … also, sie ist halt sehr witzig …«

»Natürlich, das verstehe ich«, lügt Mathurine.

»Haben Sie sonst noch Fragen? Weil, mein Freund kommt jeden Moment nach Hause.«

»Ich glaube, das ist alles.«

»Sie werden unserer Mutter doch keine Probleme machen, oder? Sie hat auch so schon genug, wissen Sie. Helfen Sie ihr lieber mit ihren Papieren, weil, jedes Jahr die Aufenthaltsgenehmigung erneuern, das geht ja gar nicht. Ja, das wär doch mal nice …«

Mathurine reagiert mit einem breiten, heuchlerischen Lächeln: Sie interessiert sich für das Kind, nicht die Mutter.

Schlechte Stimmung im Büro für Sozialevaluationen. Carole und Orlane sind im Pausenraum und schauen finster drein. Karine schwirrt um sie herum, findet aber nicht die richtigen Worte, um die Wut zu beschwichtigen.

»Sie haben Gabriella in eine Pflegefamilie gesteckt«, erklärt Orlane.

Mathurine wendet sich an Carole:

»Gabriella? Deine Gabriella, vom Fluss?«

»Genau. Es ist schon zwei Wochen her, aber die CRIP hat mich gerade erst informiert. Ich bin stinksauer, kann ich dir sagen, stinksauer. Da sollte ein AEMO[1]  gemacht werden, Erziehungshilfe vor Ort, wie ich es empfohlen habe. Sie sollte in ihrer Familie bleiben, die Kleine!«

Gabriella: Dieser Fall lag der Sozialarbeiterin besonders am Herzen. Die Kleine lebte in einem abgelegenen Dorf, in das man nur per Einbaum gelangte. Ein gewalttätiger, alkoholabhängiger Vater, aber Carole hatte ihn dazu gebracht, mit ihr zu sprechen. Am Ende der Evaluation war sie überzeugt, dass die Dinge in Ordnung kommen würden, wenn die Eltern Unterstützung erhielten und regelmäßig ein Sozialarbeiter vorbeischaute. Und vor allem gelangte sie zum Schluss, dass es die allerschlechteste Lösung wäre, das Kind in der Stadt, hunderte Kilometer von ihrem Zuhause, unterzubringen.

»Carole«, probiert es die Chefin noch mal. »Ein AEMO an so einem abgelegenen Ort, du weißt ganz genau, dass das unmöglich ist … Überleg doch mal: Du hast selber für jeden Hausbesuch zwei Tage gebraucht, musstest dort übernachten … Jetzt stell dir mal eine Familienbegleitung vor, über ein ganzes Jahr!«

»Ja, das kann ich mir sogar sehr gut vorstellen. Wo ist denn das Problem? Das ist nur eine Frage der Mittel, Karine. Der Mittel. Ein AEMO ist eine Alternative zur Inobhutnahme durch eine Pflegefamilie, die vom Gesetzgeber vorgesehen ist. Wir wenden das Gesetz nicht an, weil die Mittel fehlen. So sieht es aus in diesem Département! Und wer muss dafür bezahlen? Immer die gleichen: die Kinder! Soll ich mal eine Prognose stellen? In einem Monat unternimmt Gabriella einen Selbstmordversuch.«

Eisige Stille am Tisch.

Orlane streichelt Carole tröstend die Schulter.

Mathurine dagegen schlüpft wortlos hinaus, mitleidig und hilflos zugleich. Sie geht in ihr Büro, legt die Akte auf den vollen Schreibtisch. Reibt sich seufzend mit den Händen das Gesicht. Seit heute Morgen fühlt sie sich müde und schwer. Und ihre Brüste sind empfindlicher als sonst, tun ein bisschen weh. Vertraute Anzeichen, auf die sie mehr als jede andere Frau lauert: Die nächste Periode kündigt sich an. Ein neuer Monatszyklus und damit eine neue Runde IVF-Behandlung. Eine Mischung aus Ungeduld und Sorge.

»Alles klar, Mathurine?«

Sie dreht sich um: Karine ist ins Büro getreten.

»Ja, ja«, lächelt Mathurine. »Alles in Ordnung.«

Die Chefin guckt zweifelnd hinter der zierlichen Brille hervor. Sie setzt sich auf einen Besucherstuhl.

»Es tut mir leid, wenn ich dir das so sage, aber du siehst wieder mal extrem fertig aus.«

Wie immer, denkt Mathurine, das Gefühl, am Rande der totalen Erschöpfung zu stehen, schon seit zwei Jahren. Hässlich, alt, fett, ihrer Meinung nach jedenfalls. Und müde.

»Ich gebe zu, dass es nicht einfach ist im Moment«, räumt Karine ein und meint Caroles Wut. »Wir kriegen nicht viel Hilfe. Wie ist es bei dir mit deinen Fällen, kommst du zurecht?«

Sie deutet mit dem Kinn auf den Stapel Papphefter.

»Nein, es sind viel zu viele, genau wie die Kolleginnen. Aber sagen wir mal, es geht voran. Da ist nur …« (Sie greift nach einem Hefter.) »Diese Akte hier. Darwyne Massily.«

»In Bois Sec, oder?«

»Genau. Ich trete ehrlich gesagt ein bisschen auf der Stelle. Die Mutter ist kooperativ, ich konnte mit ihr sprechen, sowohl zu Hause als auch hier, ich habe mit dem Klassenlehrer des Jungen geredet und mit dem Stiefvater. Heute Morgen habe ich mich sogar mit der großen Schwester getroffen, dabei wohnt sie nicht mehr zu Hause … Und im Großen und Ganzen schildern alle die gleiche Situation.«

»Die da wäre?«

»Die da wäre, dass das Kind in der Tat Gewalt ausgesetzt war, vonseiten des Stiefvaters, damals, als die erste Meldung einging. Aber seit der Trennung wäre alles wieder in Ordnung. Und dass die Mutter tut, was sie kann, wenn man ihre Lage bedenkt. Keine Gefahr und nachweislich keine Misshandlung, soweit ich das sehen kann.«

Karine hebt die Hände.

»Na, umso besser, nicht? Akte hinfällig, Verfahren einstellen … Bei den ganzen anderen Fällen, um die wir uns kümmern müssen …«

»Ja, ja, ich weiß. Das war übrigens auch die Empfehlung vom ersten Gutachten vor zwei Jahren.«

»Ach, das ist schon die zweite Evaluation? Verrückt, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern … Wer war denn die Gutachterin?«

»Éliane Brunel. Ich hab neulich mit ihr telefoniert.«

Die Chefin verzieht das Gesicht.

»Ah, okay, jetzt verstehe ich.«

»Wie meinst du das?«

»Tja, also, Éliane … hatte so ihre Prinzipien, über die Schweigepflicht zum Beispiel … Kommunikation war nicht wirklich ihre Stärke. Und sie hat sich hier auch nicht wohlgefühlt, weder im Büro noch im Département. Sie ist nicht mal ein Jahr geblieben, ich würde sagen, sie hat weniger als zehn Fälle betreut.«

»Ach, echt? Warum denn?«

Karine seufzt, macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich weiß auch nicht … Also, sie hat schon ihre Arbeit gemacht. Aber sie war ein bisschen engstirnig. Hast du das Gruppenfoto im Konferenzraum gesehen? Zwischen den anderen wirkt sie wie ein Eindringling, nicht? Tja, das sagt eigentlich schon alles. Die Frau hatte Angst vor allem und jedem, hat nie das Haus verlassen: Angst vor der unsicheren Lage, vor den Leuten, sogar vor den Kindern. Und vor dem Dschungel auch, da war sie richtig panisch … Einmal hat sie es geschafft, sich beim Joggen auf dem Küstenweg zu verlaufen, da kann man mal sehen …« (Bekümmert schüttelt die Chefin den Kopf.) »Die Ärmste ist tausend Tode gestorben, bis die Polizei sie wiedergefunden hat.«

»Ah, okay, ich versteh, was du meinst.«

Und Mathurine lächelt, als sie sich besagten Küstenweg vorstellt, drei Meter breit und täglich von Stadtbewohnern samt Kindern und Hunden stark frequentiert.

»Von daher kann ich nicht behaupten, sie würde mir fehlen«, schließt Karine. »Aber warum findest du, dass du nicht weiterkommst?«

»Weil der Junge sich weigert, mit mir zu sprechen. Ich habe mit allen aus seinem Umfeld geredet, aber nie mit ihm.«

»Hm, das ist natürlich wirklich ärgerlich. Du kannst wohl kaum deinen Bericht abschließen, ohne ihn gehört zu haben.«

»Korrekt.«

Karine rückt die Brille gerade, ganz die aufmerksame, hilfsbereite Chefin.

»Schlag einen neuen Termin vor, oder sprich noch mal mit der Mutter, meinst du nicht?«

»Ja, schon, aber na ja, im Moment … Nein, was ich brauche, ist ein Anlass. Eine Möglichkeit, ihm die Angst zu nehmen.«

»Richtig. Oder einen neutraleren Ort, an dem er sich wohler fühlt.«

Mathurine nickt, bleibt sekundenlang still. Ihr Blick wandert über die Möbel im Gemeinschaftsbüro. Die Plakate der eingefleischten Gewerkschaftlerin Carole. Werbeposter für Kinder- und Jugendliteratur, an die in der Praxis nur wenige Kinder herankommen. Die Samen aus dem Wald, die wie kleine Trophäen auf ihrem Schreibtisch liegen. Die Fotos ihrer Exkursionen in den Amazonas, Panorama auf das grüne Blätterdach. Und da fallen ihr die Worte des Lehrers von vor ein paar Tagen wieder ein. Dass der kleine Darwyne sich für nichts interessiert.

Außer vielleicht für den Dschungel.