Morgendliches Hühnergackern auf den Straßen des Slums, die gefiederten Frühaufsteher picken nach herumliegenden Nahrungsresten der Menschen. Darwyne setzt sich auf, wird aus seinen Träumen gerissen, die sofort verfliegen. Durch die Gardinenlöcher lugt der Tag, Lichtschnüre spannen sich zwischen Wand und Fenster. Auf der Waldseite zwitschern andere Vögel, Weißbinden-Zaunkönig, Türkistangare, Aschkopfvireo: Er identifiziert einen nach dem anderen, nach seinem eigenen System. Als würde er im Kopf die Anwesenheitsliste durchgehen.
Eine Hand im zerzausten Schopf, kommt er langsam zu sich, reißt die Augen weit auf. Die Mutter ist schon aufgestanden, läuft zwischen Küche und Hof hin und her, faltet die große Plane zusammen, die ihr auf dem Markt als Markise dient. Aus dem Handy kommt ein christlicher Radiosender, Jesu Liebe bis zum Abwinken:
»Ich möchte nirgendwo anders sein als in deinen liebenden Armen, an dein Herz gedrückt … Ich will meinem Heiland ein Loblied singen …«
»Darwyne«, sagt sie. »Aufstehen.«
Weil es Zeit ist, sich fertig zu machen. Für die Schule.
Weil sie nicht will, dass er zu spät kommt.
Darwyne kratzt sich die Seite, die immer noch von den Bissen der Feuerameisen schmerzt, verrenkt sich, um zu schauen, wie es aussieht. Man sieht fast nichts mehr, die raue Haut ist leicht gerötet. Deshalb sagt er sich: Gut, ist nicht schlimm. Du bist eben ein kleines Opossum. Opossums sind ekelhaft, aber sie sind an Insekten gewöhnt, das weiß sie, die Mutter. Sie weiß, dass man dich dressieren muss, wie man ein Tier dressiert, deswegen hat sie dich in die Ameisen gesetzt, wie sie es jedes Mal macht, wenn es nottut. Denn so muss man es machen mit dir, denn die Leute kennen dich nicht, wie sie dich kennt. Er legt eine Hand aufs Fensterbrett, schaut ihr ein Weilchen zu, denkt: Siehst du, schon vorbei, sie ist dir nicht mehr böse. Und wieder einmal findet er, dass sie wirklich was hermacht, diese Mutter. Dass sie schön und stark und klug und fleißig und mutig ist. Er denkt an andere Eltern, daran, was die anderen erzählen, die Kinder in seiner Klasse. Schläge mit Elektrokabeln, mit dem Gürtel, dem Hammer, scheint es. Er erinnert sich an den Vater, der in den Unterricht hereingeplatzt war, sein Kind aus dem Schulgebäude gezerrt und mit seinen gewaltigen Fäusten auf es eingeschlagen hatte, vor aller Augen. Und er denkt an diese Faulpelze, die Bois Sec bevölkern, immer am Jammern über ihr Elend: Ach, es ist so schwer, ach, ich hab keine Papiere, ach, ich hab keine Arbeit, aber unfähig, sich etwas auszudenken, um ein paar Euro zu verdienen und ihrem Sohn einen Ranzen zu kaufen. Und Darwyne denkt: Du hast wirklich großes Glück, dass du so eine Mutter hast.
Sie hat recht, und Ladymia auch: Ohne sie wärst du nichts.
Nicht mal ein kleines Opossum.
Ein Grunzen aus dem Elternschlafzimmer: Stiefvater Acht wird ebenfalls wach. Der Junge beugt sich vor, beobachtet heimlich den wuchtigen Leib, der sich auf dem breiten Bett räkelt, als wäre es schon immer seins gewesen. Na bitte, er fühlt sich wie zu Hause in ihrem petit carbet. Darwyne presst die Lippen zusammen: So langsam kann er ihn einschätzen, den Kerl. Er hat nicht vergessen, was unten im Viertel passiert ist, als er aus dem Wald kam. Die beiden Schläge an den Kopf, und dann standen da auch noch Leute und die Mutter war nicht dabei. Das hat ihm nicht gefallen, nein, ganz und gar nicht. In diesem Moment hat er ihn gehasst, wie man nur jemanden hassen kann. Die Ohrfeigen sind der Beweis, dass dieser Stiefvater im Grunde genauso ist wie die anderen. Dass Ladymia sich irrt, wenn sie sagt, dass er nicht fies ist, dass man ihm eine Chance geben muss, nachsichtig sein und so.
Diese Ohrfeigen sind in Darwynes Augen ein erstes Anzeichen. Es gibt immer erste Anzeichen, einen Augenblick, wo die Dinge eine entsetzlich vertraute Wendung nehmen. Er erinnert sich an jeden einzelnen. An das eine Mal, als Stiefvater Sieben einen Schuh nach ihm geschmissen und ihn böse an der Schulter getroffen hat, weil Darwyne aufhören sollte zu pfeifen; das störte ihn beim Ausruhen, dabei hatte er den ganzen Tag nur gefaulenzt, der Nichtsnutz. Und natürlich an das eine Mal, als Stiefvater Vier das Opossum getötet hat, das neben ihm schlief. Erinnerung an ein brutales Erwachen, die Matratze blutgetränkt. Darwyne war noch klein, aber diese Geschichte hat er ganz gewiss nicht vergessen. Manchmal hat er das Gefühl, das Opossum ist nicht wirklich tot. Sondern immer noch hier, bei ihm. Oder in ihm, ja, genau.
Ganz bestimmt: Die Ohrfeigen sind ein erstes Anzeichen.
Der Beweis, dass er seit diesem Sonntag, als Stiefvater Acht in sein Leben trat, richtig gelegen hat. Der Beweis, dass es wieder von vorn anfängt, der neue Zyklus hat begonnen. Und all das, so sicher, wie er ein kleines Opossum ist, all das wird genauso enden wie sonst auch. Irgendwann wird getan werden müssen, was immer getan werden muss.
»Darwyne«, erinnert ihn die Mutter, als sie das nächste Mal hereinkommt und mit einer Ladung Gemüse wieder hinausgeht.
Er schüttelt sich: Stimmt, er muss sich ein bisschen beeilen. Er wühlt in der Kleiderkiste, die an der Wand steht, zieht Jeans und ein grünes T-Shirt an. Der Topf auf dem Gasherd ist warm, Nudeln und Tomatenkonzentrat: Er nimmt sich eine Schüssel, schlingt es in einer Sofaecke hinunter. Der Stiefvater taucht auf, er kommt aus dem Schlafzimmer und füllt plötzlich den kleinen Raum aus. Nackter Oberkörper, schäbige Unterhose, muskulöse Oberschenkel. Er und das Kind wechseln kein Wort, der Mann begnügt sich damit, ihn mit verschwommenem Blick von oben herab zu mustern. Er geht zu Yolanda nach draußen.
»Kannst du ein bisschen mähen?«, fragt die Mutter. »Guck mal: Dort hinten wächst es nach.«
»Schon wieder? Ich hab doch erst letzte Woche.«
»Ich weiß. Aber was soll man machen …«
Der Mann seufzt.
»Unmöglich, dieser Wald.«
Und Darwyne, der still auf der anderen Seite der Wand sitzt, denkt, dass der Mann im Grunde nur das kann: ihnen wehtun, ihm und dem Wald. Aber der Wald würde immer wieder nachwachsen, weil er stärker ist als jeder Stiefvater.
»Darwyne, Ranzen.«
Ja, ja, der Ranzen, denkt er.
Er packt ihn am Griff, schleppt ihn nach draußen auf den rissigen Beton. Überprüft den Inhalt. Vor der Schule muss man immer den Ranzen nachgucken. Ob alles ordentlich ist. An der Seite klebt noch ein bisschen Erde, er rubbelt sie ab. Und entfernt ein paar Humusreste aus dem Inneren, von seinen Schätzen, die er von seinem Baum mitgebracht hat und die jetzt sorgfältig im Versteck verstaut sind, unter der Hütte. Wenn er heute Abend nach Hause kommt, lässt ihm die Mutter vielleicht ein bisschen Zeit, dann kann er sich alles genauer ansehen, schauen, was er damit machen, was er daraus schnitzen könnte.
So früh am Morgen ist es noch frisch. Leichter Nebel dicht über dem Boden, am Waldrand ist er dicker. Darwyne mag diesen Nebel gern. Er schaut gern dabei zu, wie er dahinfließt, wie ein Fluss in Zeitlupe, sich in Spiralen auflöst, es gefällt ihm, wie die Vögel ihn beim Herumflattern durchbrechen. Fast wie ein Schleier, ja, ein unendlich großer Schleier, unter dem die Welt sich verbirgt, wenn der Tag nach ihr sucht. Rechts neben ihm sitzt der Stiefvater mit einem Kaffee auf dem Bürostuhl und schnieft. Das reißt den Jungen aus seiner Träumerei, er wendet sich wieder dem Ranzen zu, schließt die Schnalle. Zieht die kleinen Turnschuhe an, eine Fälschung aus China. Denn er wird sich auf den Weg machen müssen, obwohl er überhaupt keine Lust hat, in die Schule zu kommen. Obwohl er viel lieber hierbleiben würde, beim Nebel und den Vögeln und seinen Schätzen. Aber Schule ist wichtig, das weiß er. Und wenn er dort ist, macht er wenigstens seiner Mutter keine Schande mehr, indem er sich wie ein Ferkel benimmt.
Mutter und Sohn wollen das Grundstück gerade verlassen, da klingelt ihr Handy. Darwyne verzieht das Gesicht: Ein Anruf so früh am Morgen kommt selten vor.
»Nein, nein, Sie stören mich nicht, Madame«, sagt die Mutter.
Es muss wichtig sein, errät das Kind. Denn eigentlich stört es sie wohl, das ist ganz und gar nicht der richtige Augenblick. Die Riemen der prallen Einkaufstaschen voller Gemüse schneiden der Mutter in die Schulter.
»Hm, hm«, macht sie.
Darwyne bleibt stumm, Roboterranzen auf dem Rücken.
»Ja, Madame, ich verstehe.«
Sie lauscht sekundenlang auf das Gesagte, runzelt die Stirn. Seufzt endlich:
»Gut. Ich sehe, was sich machen lässt, in Ordnung?«
Dann steckt sie das Handy in die Tasche ihrer Jeans und macht das Tor auf. Mutter und Sohn brechen auf, während der Stiefvater hinter ihnen zur Machete greift und den Dschungel attackiert. Sie gehen die Straße hinunter, an der Wellblechwand entlang, passieren umgekippte, ausgeschlachtete Kühlschränke, sie liegen überall wie lauter weiße Särge. Die Mutter wartet eine Weile, scheint zu überlegen, zu zögern. So sieht man sie selten, so voller Zweifel.
»Das war die Frau von der Jugendhilfe«, sagt sie endlich, ohne stehen zu bleiben. »Sie sagt, du kannst mit in den Wald gehen, wenn du willst. Dann wärst du vielleicht endlich bereit, mit ihr zu reden.«
Darwyne schaut sie verständnislos an. Jugendhilfe, Wald: Er findet, dass die beiden Wörter nicht zusammenpassen. Sie gehen weiter, an der hohen Metallwand vorbei, hinter denen sich anscheinend die Dealer verbarrikadieren. Und die Mutter fügt hinzu:
»Ich sage ihr zu: Du gehst da hin. Denn das muss jetzt mal abgeschlossen werden, ihr Gutachten über uns, es reicht. Aber sei bloß vorsichtig, spiel dort nicht das Opossum.«
»…«
»Du willst doch nicht, dass sie dich in eine andere Familie steckt?«
Darwyne schüttelt energisch den Kopf: Nein, nein, nein, alles, bloß das nicht.
»Du weißt doch, dass ich die Einzige bin, die weiß, wie man mit dir umgehen muss?«
»Ja.«
»Weil du ein Drecksvieh bist.«
»Ja, weil ich ein Drecksvieh bin.«