Auf der Lichtung stehen fünf traditionelle carbets, offene Pfahlbauten aus lokalem Holz, groß genug für mehrere Hängematten; eine weitere, um einiges größere Hütte mit zwei Etagen, Küche und Esszimmer; alles ist durch Gitterroste verbunden: Einer der bestausgestatteten Lagerplätze des Départements, da gibt es nichts. Mathurine ist daran gewöhnt, den Dschungel allein zu erkunden, sie war schon seit drei Jahren nicht mehr hier. Dabei ist sie eine der Gründerinnen dieses Vereins, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Jugendlichen den Wald näherzubringen. Damals hat sie einige Dutzend Wochenenden an Orten wie diesem organisiert. Aber in den letzten Jahren hat sie sich zurückgezogen, war immer seltener präsent bei solchen Aktionen. Jüngere, dynamisch und motiviert, lösten sie ab. Keine Zeit mehr, keine Kraft. Und dann war da noch das Projekt eines eigenen Kindes, anstatt sich ewig um die Kinder anderer Leute zu kümmern.

Der Kleinbus hält am Rand der Schotterpiste, die Reifen in den schlammigen Spurrinnen. Die letzten Kilometer sind holprig gewesen, die Kinder wurden im Takt der Schlaglöcher auf den Sitzen herumgeschleudert. Nacheinander klettern sie aus dem Bus, strecken sich auf dem trockenen Gras, tun, als hätten sie einen steifen Hals, suchen auf den billigen Smartphones nach einem Balken Netz.

»Vergesst es, gibt hier kein Netz«, sagt Mélanie, eine der drei Betreuerinnen, amüsiert.

»Echt jetzt?«

»Jap. Und ihr werdet es überleben, glaubt’s mir.«

»Gott …«

Sie sind zu acht, zwischen neun und dreizehn Jahren. Acht Jungen und Mädchen aus den ärmsten Vierteln der Stadt. Kinder, von denen die meisten noch nie aus der Stadt herausgekommen sind, in weiten Bermudas und taillierten Röcken. Es hatte einiger Überredungskunst bedurft, um sowohl sie als auch die Eltern zu überzeugen, dass zwei Tage im Dschungel ihnen guttun würden. Mathurine beobachtet die kleine Gruppe, findet die Betreuerinnen professionell; methodisch schlagen sie das Lager auf, führen die Jugendlichen zu den carbets, helfen ihnen, die vom Verein bereitgestellten Hängematten anzubringen. Es wird um die Wette gezetert, sie hänseln einander, wenn die erfundenen Knoten aufgehen und die Hängematten zu Boden plumpsen, großes Geseufze bei der Vorstellung, hier zu übernachten, Jungen und Mädchen getrennt.

»Setz bitte die Kopfhörer ab. Deine Rapper laufen schon nicht weg, keine Sorge.«

»Madame, tun Sie mal nicht so, als hätten Sie Ahnung, das ist kein Rap.«

»Ja, na ja, egal. Stell deinen Rucksack hierhin.«

Wie Mathurine es erwartet hat, fällt Darwyne aus dem Raster. Im Bus saß er alleine, starrte aufmerksam die Landschaft an, die sich immer mehr entvölkerte, je weiter sie sich aus dem Stadtgebiet entfernten. Die anderen warfen ihm von ihren Sitzen aus verstohlene Blicke zu, fragten sich wohl, wo dieses komische Kind entsprungen war, machten sich vielleicht über ihn lustig. Und während sich schon die ersten Grüppchen bildeten, versuchte niemand, mit ihm Kontakt aufzunehmen, sie redeten nicht mal mit ihm. Mathurine hofft, dass der Ausflug kein Reinfall wird. Dass die gemeinsam verbrachte Zeit auf dem Lagerplatz für Touristen ein günstigeres Klima zwischen ihnen schaffen wird. Und dass sie endlich mit ihm sprechen kann, am späten Nachmittag, da wird sie ihn beiseite nehmen, so ist es mit den Betreuerinnen abgesprochen. Ein Kind im Rahmen einer Evaluation mit auf einen Ausflug zu nehmen, ist nicht unbedingt die herkömmliche Herangehensweise, und Karine war auch erst skeptisch gewesen. Aber weil es über einen Verein lief und Mutter und Sohn einverstanden waren, hatte sie schließlich zugestimmt.

Darwyne humpelt weit hinter den anderen auf den Gitterrosten her, nach innen gedrehte Füße, Turnschuhe-Shorts-Poloshirt. Sein Gepäck besteht aus einer kleinen Sporttasche, die er über der Schulter trägt. Er mustert den Lagerplatz, wie man ein neues Haus bezieht. Mathurine tritt zu ihm, deutet auf ein carbet.

»Komm, du kannst dort rein, wenn du willst.«

Das Kind nickt, vermeidet systematisch jeden Blickkontakt.

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein, Madame. Es geht schon.«

Also lässt sie ihn machen, denkt: Verschreck ihn nicht. Sie schaut zu, wie er zur Unterkunft geht und sich einrichtet, in einiger Entfernung der beiden bereits an den Balken angebrachten Hängematten. Ein kleiner Tukan überfliegt das Lager, eine Art Willkommensgruß, mäandernde Flügelschläge am gräulichen Himmel.

»Madame, sehen wir dann auch Affen? Ich hab schon mal welche gesehen, wissen Sie.«

»Ach ja, was denn für welche, Totenkopfäffchen?«

Das Mädchen kichert los.

»Keine Ahnung, es waren halt einfach Affen. Bei der Quelle, im Bambus. Da waren ganz viele um uns rum, ich schwör’s. Mein Vater wollte sie abschießen.«

Die Atmosphäre am Tisch ist gelöst. Abgesehen vom Ältesten, der mit Basecap auf dem Kopf versucht, sich in den Vordergrund zu rücken, gibt es keinen Bandenführer, der sich den Erwachsenen widersetzen will, keine Provokationen. Nur Kinder, die nicht so genau wissen, was sie hier sollen, noch nicht ganz überzeugt vom Sinn eines solchen Wochenendes. Glück gehabt, denkt Mathurine, es war manchmal schon viel schwieriger. Sie essen eifrig die Teller leer, die Finger in Hähnchenstücken und Maniokcouscous. Mélanie setzt die Einweisung fort:

»Also, ja, man sieht manchmal Affen in dieser Gegend. Aber ihr müsst euch klarmachen, dass wir hier noch ganz dicht an der Straße sind. Das Gebiet ist recht stark befahren, und die Tiere sind natürlich scheu. Wenn du wirklich Affen sehen willst, Klammeraffen oder Brüllaffen, müssen wir weiter hinein. Dorthin, wo sich kaum Menschen hinverirren, wo es keine Jäger gibt. Verstehst du?«

Das Mädchen verzieht enttäuscht das Gesicht.

»Aber wir können sicher Vögel sehen, ein paar Nagetiere vielleicht, Goldhasen …«

»Hm …«

»So, jetzt räumt mal eure Teller weg. Und dann geht es los, okay? Nehmt nur mit, was ihr wirklich braucht, lasst die Handys hier. Wir treffen uns in fünf Minuten dort hinten am Schild.«

Die Jugendlichen grummeln, erheben sich von der Bank. Bringen die Teller zum Koch, ganz hinten im großen carbet. Mathurine, Mélanie und die beiden anderen Betreuerinnen setzen sich zusammen, einigen sich über den Ablauf der Exkursion. Und bald schon ist die ganze Truppe gerüstet, die Kinder tragen passendere Kleidung, Trainingshosen, Turnschuhe, Tops. Ein bisschen zu bunt, zu auffällig, denkt Mathurine, aber gut, wir wollen es mal nicht so genau nehmen. Nur Darwyne sticht heraus, in schwarz, beige und grau. Mathurine zeigt auf seine Umhängetasche.

»Das musst du vielleicht nicht alles mitschleppen. Du kannst deine Sachen ruhig hierlassen.«

»Nein, ich hab sie lieber dabei«, erwidert er, ohne sie anzusehen, und umklammert den Schulterriemen.

Als wäre sein ganzes Leben in dieser Tasche.

Mathurine bohrt nicht weiter nach.

Hinten an der Lichtung erhebt sich der Wald, ragt vor der Gruppe auf wie eine mächtige Mauer. Auf dem Schild stehen ein paar Hinweise zum Lehrpfad, zum Verlauf, was man alles entdecken kann, dazu Naturkundezeichnungen. Mélanie kommentiert ein bisschen: »Und der Vogel hier, kann mir jemand sagen, wie der heißt?« Die Kinder verziehen die Gesichter, schütteln die Köpfe. Ein Ausdruck des Nichtwissens, die Artenvielfalt des Amazonas ist wie ein nie erforschter Kontinent. Nicht weiter verwunderlich, Mathurine ist das schon gewohnt: Die Armen kennen ja nichts anderes als ihre Hütten aus Wellblech und Holz. Und doch muss sie innerlich seufzen. Denkt, dass es im Grunde etwas Schreckliches ist, diese Abspaltung der Jugendlichen von der riesigen, lebendigen Welt, die sie umgibt. Genau darin liegt eine der Tragödien des modernen Menschen, niemand ist mehr in der Lage, auch nur einen Vogel zu benennen. Genau diese Ignoranz bringt die Menschen dazu, den Teil der Welt, den sie jetzt Natur nennen und der ihnen im Laufe der Jahre fremd geworden ist, zu zerstören.

Mélanie zeigt auf das Bild eines Pekaris.

»Und das hier, kennt ihr das?«

»Ein Darwyne?«, gluckst der Junge mit dem Basecap.

Die Bande lässt sich von dem Lachen anstecken. Darwyne selber reagiert nicht mal. Als hätte die Bemerkung in seinen Augen nichts Beleidigendes. Die Betreuerin bricht ab:

»Na, los jetzt, gehen wir.«

Sie machen sich auf den Weg, er führt in die Bäume hinein, die Erwachsenen rahmen die Gruppe ein. Die Kinder machen Krach, hänseln einander bei jeder Gelegenheit, stolpern über Wurzeln, stehen lachend wieder auf, an den Jogginghosen klebt Erde. Die Eindringlinge werden von den schrillen Rufen der Schreipihas begrüßt, es zetert von allen Seiten, in den Baumkronen brechen die Schopfkarakaras in Geschrei aus. Die Luft im Unterholz ist schwül, schnell schwitzen alle in den synthetischen T-Shirts. Darwyne geht ganz hinten, direkt vor Mathurine. Sie mustert seinen gebeugten Rücken, den krausen Schopf, erahnt ganz schwach einen rötlichen Schimmer in den schwarzen Locken, wie kleine Flammen, die auf seinem Kopf lodern. Sie erkundigt sich:

»Alles okay, Darwyne?«

Aber er gibt keine Antwort. Er wirkt nicht angestrengt, überlegt sie nach ein paar hundert Metern Marsch. Anders als befürchtet, läuft er genauso sicher wie die anderen. Vielleicht sogar besser.

Erster Halt: Mélanie bleibt an einer Würgefeige stehen. In gewählten Worten erklärt sie, wie dieser Epiphyt sich von den oberen Ästen aus auf einem Wirtsbaum entwickelt, bis er ihn irgendwann ganz umschließt und mit seinen dicken Wurzeln buchstäblich erwürgt. Und ihm am Ende den Standort streitig macht, um sich weiterhin von den verrottenden Überresten zu ernähren. Eins der Mädchen ist gebannt, reißt entsetzt den Mund auf.

»Das ist ja schrecklich!«

»Ja, ein bisschen«, lächelt die Betreuerin. »Jede Art hat ihre Strategie, um zu überleben oder sich fortzupflanzen. Und manche erscheinen uns grausamer als andere, sogar in der Pflanzenwelt, wie ihr seht …«

»Mein Gott …«

Der Basecapträger wirft einen respektvollen Blick auf den Schmarotzer und schlussfolgert:

»Das ist ja wie bei uns: Jeder kämpft für sich allein. No pain, no gain …«

Mit dem Thema kennt Mathurine sich nur allzu gut aus, viel besser als Mélanie. Aber sie enthält sich jeden Kommentars, lässt sie ihren Vortrag halten, wie sie es besprochen haben. Eine andere Betreuerin will Darwyne mit einbeziehen:

»Was denkst du denn darüber?«

Aber der Junge sagt nichts, zuckt nur die Schultern. Nicht besonders interessiert. Er hebt den Kopf, schaut ganz nach oben, zu den nicht sichtbaren Wipfeln.

»Darwyne denkt nicht, Madame …«

Mathurine seufzt, wirft dem Jungen einen mitleidigen Blick zu, alle machen sich ständig über ihn lustig, und er reagiert nie auf die Provokationen.

Die Truppe geht weiter, dringt ein bisschen tiefer ins Unterholz.

»Schön auf dem Pfad bleiben, ja. Ich hab euren Eltern versprochen, dass ich euch heil zurückbringe.«

»Ja, wobei, ich glaub, meine Eltern würden sich freuen, wenn sie mich nie wiedersehen.«

Wie hektische Seilakrobaten überqueren sie einen Fluss, erklimmen kleine Hänge, schlängeln sich zwischen Felsblöcken hindurch, die vor Moos und Feuchtigkeit glänzen. Die Betreuerinnen machen in regelmäßigen Abständen Halt, erzählen den Kindern von der treppenförmigen Liane, der Affenleiter, die in so vielen Mythen der Ureinwohner vorkommt; vom sogenannten bois cathédrale, dessen Holz an filigrane Rockfalten erinnert und kilometerweit hallt, wenn man gegen den Stamm schlägt; von den vielfarbigen und vor Blicken verborgenen Aras, deren Schreie oberhalb des Blätterdachs ertönen. Lauter einführende Beispiele für den Artenreichtum des Amazonas. Trotz der Witze und dem präpubertären Getue redet Mathurine sich ein, dass sie etwas davon mitnehmen werden, und seien es nur schöne Erinnerungen. Darwynes Verhalten dagegen macht sie betroffen: Anders als erhofft, ist er überhaupt nicht gefesselt, hört nicht zu. Bei jeder Station dreht er sich von der Gruppe weg, egal, wie oft die Erwachsenen versuchen, ihn zurückzuholen. Er scheint ganz woanders zu sein, stumm und geistesabwesend. Mathurine glaubt nun etwas besser zu verstehen, was seine Mutter bei dem Gespräch gemeint hat. Seine scheue Seite. Ein bisschen wie ein Tier. Sie denkt: Ich glaub, das wird nichts.

Neuerlicher Halt, Mélanie zeigt auf ein Erdloch im ockerfarbenen Boden: der Eingang zum Bau eines Gürteltiers. Die Kinder werden langsam müde, unterdrücktes Gähnen, Füßescharren. Darwyne dreht sich um, klinkt sich wieder mal aus, läuft ein paar Meter zurück. Mathurine beobachtet, wie er zerstreut den Pfad langschlendert. Er bleibt stehen, der Blick wie in den Tiefen des Unterholzes verloren. Sie tritt hinter ihn, schaut ebenfalls forschend in das Dickicht.

Und schließlich sieht sie es.

Zehn Meter vor ihnen sitzt auf einem niedrigen Ast ein Gelbschnabel-Glanzvogel. Er ist wunderschön, grün, braun, weiß und gelb, bekannt für sein unauffälliges Verhalten, damit er unerfahrenen Augen verborgen bleibt. Alle sind sie an ihm vorbeigelaufen, aber niemand hat ihn gesehen, denkt Mathurine. Sie beugt sich zu dem Jungen hinunter, flüstert:

»Das ist ein Glanzvogel.«

Und Darwyne nickt mit geschlossenem Mund, als wollte er sagen: Ich weiß. So bleiben sie eine Weile stehen, die Pädagogin und das Kind, beobachten den seltenen Vogel auf seinem Ast.

»Der ist schön, nicht.«

»Ja«, bestätigt der Kleine ganz leise.

Da dreht Mathurine sich zu den Betreuerinnen um, bedeutet ihnen mit dem Finger an den Lippen, leise näher zu kommen. Die ganze Gruppe schleicht heran, die Kinder gehen theatralisch auf Zehenspitzen. Alle Augen richten sich auf den Dschungel.

»Ich sehe überhaupt nichts.«

»Doch, da, guck mal«, sagt Mathurine mit ausgestrecktem Zeigefinger.

Am Ende sehen sie ihn, ziehen staunend die Brauen hoch. Als hätte die Schönheit des Vogels die Macht, sie für einen Augenblick zusammenzubringen, etwas Universelles. Der Glanzvogel hält die Pose, nur der gelb-schwarze Schnabel scheint sich zu bewegen, rechts, links, rechts, links. Aber als eins der Kinder mit dem Fuß an einem verrotteten Baumstumpf hängenbleibt, sich laut lachend an seinen Freunden festhält, fliegt das Tier davon.

»Na prima …«

»Aber Madame, das war keine Absicht, das war wegen dem Ding da …«

Alle richten sich auf, Darwyne als Letzter, und Mathurine meint ihn seufzen zu hören, als er seine Umhängetasche zurechtrückt.

Eine Minute später sind sie wieder unterwegs, wühlen wieder mit den Turnschuhen in der Erde. Und Mathurine sieht Darwyne auf einmal mit anderen Augen. Die verstohlenen Blicke nach beiden Seiten des Weges, das Abkapseln, sein Desinteresse für Mélanies Erklärungen. Sie denkt: Eigentlich sucht er, will es mit eigenen Augen sehen. Ein Kind, das offenbar schon für das Ökosystem Wald sensibilisiert ist. Während sie durch das vorbereitete Stück Dschungel ziehen, kommt es Mathurine so vor, als ob sie beide dieselben Zeichen bemerken, die allen anderen verborgen bleiben, ferne Vogelschreie, holziges Knacken in den Baumkronen, Blätterrascheln aus den Wipfeln, unscheinbare Auswaschungen an den Bachufern. Still nimmt sie mit ihm gemeinsam alles in sich auf.

Die Gruppe macht noch mehrmals Halt, gut einstudierte Vorträge von den drei Betreuerinnen. Die Aufmerksamkeit der Kinder lässt nach.

»Madame, können wir zurück zum Lager? Mein Gott, mir tun die Füße weh, ich muss aus diesen Schuhen raus …«

Die Erwachsenen wechseln Blicke: Man darf nicht zu viel erwarten, sie sind schon ein gutes Stück gelaufen.

»Gut. Ich will euch nur noch eine letzte Sache zeigen, dann kehren wir um, okay.«

»Hm.«

Mélanies letzte Sache ist ein Balsambaum, mit dem duftenden Harz bringt man ein Feuer schneller in Gang als mit jeder fabrikfertigen Anzündhilfe. Aber niemand hört ihr mehr zu, sie wollen sich einfach nur noch in die Hängematten legen. Ein Mädchen sinkt auf eine Baumwurzel, tut extrem erschöpft: Ich kann nicht mehr, ich schwör’s, ich sterbe … Mathurine amüsiert die kollektive Müdigkeit nach gerade einmal zwei Stunden Fußmarsch. Darwyne bildet die Ausnahme: Er steht auf seinen verdrehten Beinen, lässt weiterhin den Blick schweifen und zeigt keinerlei Anzeichen von Schwäche. Er wirft einen flüchtigen Blick auf das Mädchen, seinen Gesichtsausdruck könnte man als verächtlich deuten. Da kommt Mathurine eine Idee, ganz spontan. Als Mélanie schließlich sagt:

»So, auf geht’s, ab nach Hause.«

Wendet sich Mathurine an den Jungen.

»Darwyne, was hältst du davon, wenn wir noch ein Stück weitergehen? Nur du und ich.«

Und etwas Seltsames zeichnet sich in dem kleinen Kindergesicht ab, widerstreitende Gefühle, Begeisterung, Zweifel, Misstrauen. Und zum ersten Mal schaut er Mathurine in die Augen. Und sein Kinn sagt: Ja.

Sie sind gar nicht so weit gewandert, dennoch scheint der Rest der Welt schon weit weg, der Lagerplatz, die Betreuerinnen, die anderen Kinder und ihre für Städter typische Unbeholfenheit. Mathurine und Darwyne marschieren nun etwas schneller den Pfad entlang. Der Junge wirkt genauso in seinem Element wie die Pädagogin, hat anscheinend die Ausdauer erprobter Wanderer. Und deren Lautlosigkeit: Er hat den Mund nicht wieder aufgemacht und geht achtsam über den lockeren Boden, mit geschmeidigen, präzisen Schritten, weicht Ästen aus, deren Knacken bereits ein Acouchi in die Flucht schlagen würde. Mathurine hat das Gefühl, kein Kind mehr vor sich zu haben. Ja, es ist merkwürdig, irgendwie sieht sein Gang hier ein bisschen anders aus. Die Beine sind immer noch verdreht. Die Füße zeigen immer noch nach innen, vielleicht sogar mehr als sonst, überlegt sie, als sie ihn aufmerksam beobachtet. Aber alles ist viel geschmeidiger, als wären Humus und tote Blätter für ihn nicht so anstrengend.

Ohne das Geschnatter der Gruppe offenbart sich ihnen der Wald, wie Mathurine es schon manchmal erlebt hat, wenn sie allein wandern war. Neue Schreie erklingen, Schreie einer noch scheueren Fauna. Gemeinsam beobachten sie, wie Sperlingsvögel von Zweig zu Zweig hüpfen, betrachten die kunterbunten, vielfältigen Flügel der Heliconius-Falter, die getarnten Kragenbaum-Eidechsen auf Baumstämmen, die regungslosen Sipo-Schlangen in den Ästen. Bei jeder Entdeckung flüstert Mathurine den Namen der Art, und jedes Mal nickt Darwyne, als wüsste er das genauso gut wie sie. Und je mehr Zeit vergeht, desto erstaunter ist sie über die Kenntnisse dieses Jungen aus Bois Sec, sie fragt sich, wer ihm wohl so viel beigebracht haben kann, welcher Ranger ihn unterrichtet hat. In regelmäßigen Abständen zieht er die Umhängetasche hoch, wirft einen zweifelnden Blick hinein, als hätte er darin etwas Verbotenes versteckt.

»Gehen wir hier lang?«, wispert er gleich darauf an einer Biegung.

Mathurine schaut in die angezeigte Richtung: Hier lang bedeutet tiefster Dschungel, im rechten Winkel zum Weg. Er schlägt tatsächlich vor, dass sie den ausgewiesenen Lehrpfad verlassen. Eine Exkursion abseits der Wege. Sie selbst wagt das nur selten, und nur mit erfahrenen Naturforschern. Sie runzelt die Stirn, denkt: Nein, schlechte Idee, stell dir vor, ihr verirrt euch. Aber in Darwynes Blick liegt so viel Selbstsicherheit. Ganz eindeutig macht er so etwas nicht zum ersten Mal. Und da wird ihr klar, dass sie das ebenfalls reizt. Dass sie den Moment in die Länge ziehen möchte.

»Gut«, sagt sie.

Und gleich darauf sind sie unterwegs. Sie haben den Pfad im Rücken und arbeiten sich durchs dichte Unterholz, weder gerodet noch von irgendeiner Menschenseele mit Markierungen versehen. Sie stapfen durch totes Laub, schieben mit den Händen das Blattwerk nachwachsender Bäume beiseite, schlängeln sich zwischen Halmen und Stämmen hindurch. Mathurine kennt die Gefahren eines solchen Abenteuers, weiß, dass man sich im dichten Dschungel in Nullkommanichts verirren kann. Deshalb verdoppelt sie ihre Vorsichtsmaßnahmen: Öfter als sonst knickt sie auf Hüfthöhe mit Daumen und Zeigefinger Zweige ab. Markierungen, die sie auf dem Rückweg wiederfinden kann. Darwyne tut nichts dergleichen, geht vorwärts, ohne etwas anzufassen. Aber sein Voranschreiten hat nichts Unbedarftes. Mit sichtlicher Sorgfalt mustert er die Umgebung, als würde er gedanklich Hänge, Bergkämme und außergewöhnliche Bäume notieren, wie lauter natürliche Markierungen, die ihm als Orientierung reichen. Und bald merkt Mathurine, dass er die Führung ihrer Zweiergruppe übernommen hat. Dass er vorangeht, entschlossener denn je, allein entscheidet, wo sie langgehen. Das geschieht ganz natürlich, der Rollentausch ist ihr kaum aufgefallen. Als wäre er selbstverständlich. Als hätte sie keine andere Wahl, als diesem Kind zu folgen, angezogen von einer Art magnetischem Band.

Sie erkunden den Reichtum des Amazonas, halten sich bei Kuriositäten auf, die viele Menschen kaum wahrgenommen hätten; die winzigen, goldenen Panzer von Schildkäfern, die wie Schmuckstücke auf den Blättern liegen; blau-gelb-schwarz-orange Baumsteiger im Durcheinander von Windbruch; Geißelspinnen wie urzeitliche Monster in den Ritzen der Rinde. Diese Entdeckungen werden nun still wahrgenommen, Mathurine verkneift sich Erklärungen, sie sind offensichtlich unnötig. Manchmal glaubt sie sogar, dass ihr entgeht, was der Junge gerade sieht, wenn er in den endlosen Wald starrt, und in solchen Momenten geht sie dazu über, ihn zu beobachten wie eine höchst seltene Art. Fasziniert von seinem breiten Wissen. Fasziniert von der seltsamen Silhouette, anders als die verhuschte, leicht hinkende Gestalt, die sie einige Wochen zuvor in Bois Sec auf Yolanda Massilys Grundstück kennengelernt hat. Denn jetzt hält Darwyne sich richtig gerade, steht aufrecht auf seinen verdrehten Beinen.

Mathurine läuft ihm weiter hinterher, ohne wirklich nachzudenken. Sie vergisst Mélanie und die anderen Betreuerinnen, die sie sicherlich langsam zurückerwarten, sie vergisst die Stadt mit ihren tentakelartigen Auswüchsen bis in die Natur, sie vergisst die Evaluation, die sie eigentlich durchführen soll. Sie vergisst den Kinderschutz, all die Kinder, die zu Aktenstapeln auf ihrem Schreibtisch geworden sind, anonym, misshandelt, geschlagen, missbraucht. Für ein paar Augenblicke vergisst sie sogar die misslungenen IVF-Versuche. Die verdammten Menstruationszyklen, sie hat es so satt, darauf zu lauern, ein Anzeichen nach dem anderen zu analysieren. Das Einzige, was zählt, ist die Wanderung durch den Wald, die Fauna und Flora um sie herum und dieses außergewöhnliche Kind. Es geht einen leichten Abhang hinunter, unten ein dichtes Dickicht, Mathurine bleibt stehen, blickt einem Zweizahnmilan hinterher. Und:

»Darwyne?«

Das Kind ist weg.

Innerhalb einer Sekunde, als sie den Raubvogel beobachtet hat. Darwyne war eben noch da, einen Meter vor ihr.

Und jetzt nicht mehr.

Sie späht ins Unterholz, rechts, links, mustert scharf die Blätter ringsherum, ein Rascheln würde das Kind verraten. Aber die Pflanzen bleiben stumm, erstarrt in der Schwüle des Amazonas.

»Darwyne?«, probiert sie es etwas lauter.

Keine Antwort.

Sie denkt: Er ist schnell gelaufen. Bestimmt hat er nicht gemerkt, dass sie stehen geblieben ist, und ist einfach geradeaus weitergegangen. Ihre Gedanken überschlagen sich, unwillkürlich malt sie sich Schreckensszenarien aus. Für einen Moment packt sie das wohlbekannte Gefühl, das sie immer überkommt, wenn sie allein im Dschungel ist, anhält und bemerkt, wie sehr die Bäume um sie herum einander ähneln, und daraus entspringt die Möglichkeit, dass sie sich verlaufen hat, unmöglich wieder auf den rechten Weg kommen kann, dass jeder Versuch sie nur noch weiter in diesen Wald hineinführen wird, der sich über Hunderte Kilometer erstreckt. Erinnerungen an Berichte von unvorsichtigen Wanderern, die tagelang, wochenlang durch den Dschungel geirrt sind, manchmal sogar ihr Leben gelassen haben. Aber Mathurine hat Erfahrung: Weniger als zehn Meter hinter sich entdeckt sie den letzten Zweig, den sie als Markierung umgeknickt hat, mühelos erkennt sie die Strecke. Dann denkt sie an Darwyne. Und er, was, wenn er sich verläuft? Ohne Vorsichtsmaßnahmen einfach in den Wald hineingelaufen, seiner am Ende gar nicht so gut ausgeprägten Sinne viel zu sicher. Sie ruft sich in Erinnerung, dass er erst zehn und sie verantwortlich für ihn ist, nicht umgekehrt, egal, ob sie das Gefühl hatte, geführt zu werden. Sie ruft sich in Erinnerung, dass er nur ein Kind ist.

»Darwyne?«

Trotzdem bewahrt sie Ruhe, panisch werden wäre das Schlimmste, was sie machen kann. Sie setzt sich in Bewegung, in die Richtung, die sie eingeschlagen hatten, markiert weiter die Strecke, noch häufiger. Ruft in regelmäßigen Abständen. Sie mustert Halme, hält Ausschau nach der geringsten Spur, eventuellen Fußspuren. Aber der Boden ist hier trocken und mit toten Blättern bedeckt. Sie findet nichts, nicht den kleinsten Hinweis, sie muss an die Lautlosigkeit von Raubkatzen denken, die vollkommen unbemerkt durch die Vegetation schleichen. Sie denkt an Darwynes Mutter, die in dem petit carbet in Bois Sec auf ihn wartet, die überredet werden musste, damit er mit auf den Ausflug durfte. Wie sollte sie ihr nur die schlechte Nachricht beibringen, falls durch unglückliche Umstände …

»Darwyne!«

Mathurine bleibt stehen, ist sich nicht sicher, wo sie hingehen soll, eine Richtung riskanter als die andere. Beschließt, umzukehren, vielleicht hat er das ja auch getan. Sie folgt den umgeknickten Zweigen, findet die Stelle wieder, wo sie ihn zuletzt gesehen hat, erkennt die Umgebung. Sie handelt mit großer Erfahrung im Rücken, ist sich bewusst, dass die meisten Leute, so weit weg vom Lager und ohne die beruhigende Gegenwart des gut ausgeschilderten Pfades, bereits verloren wären. Sie sucht weiter, Meter um Meter, behält Boden und Laubwerk im Auge, denkt: Wo ist er denn nur, wo ist er hin? Weit konnte er nicht sein, er hätte ja sicher angehalten, um auf sie zu warten. Ja, er muss hier irgendwo sein. Ganz in der Nähe, sagt sie sich. Sie geht ganz langsam, alle Sinne in Alarmbereitschaft.

Dann entdeckt sie etwas.

Fast unmerklich, dreißig Meter entfernt. Ein Büschel Blätter hat sich bewegt.

Mathurine erstarrt. Wartet, dass es noch mal raschelt. Dann geht sie vorsichtig über den braunen Teppich auf die Stelle zu. So, wie sie sich auch einem scheuen Tier nähern würde. Sanft schiebt sie die Blätter zur Seite.

Und findet endlich Darwyne.

Da steht er, hinter einem Gesträuch aus nachwachsenden Bäumen, die Tasche über der Schulter. Ganz ruhig, ohne die geringste Panik, sieht er ihr entgegen.

»Alles okay?«

Nicken.

»Hast du dich verlaufen?«

»Nein.«

Mathurine runzelt die Stirn.

»Aber … Darwyne, wo warst du denn? Du hast mir einen Schrecken eingejagt, weißt du das?«

Als einzige Antwort zuckt er die Schultern. Mathurine wundert sich. Fragt sich sogar einen Moment lang, ob er womöglich absichtlich verschwunden ist, um zu testen, wie sie reagiert. Sie ruft sich zur Vernunft: Nein, du siehst Gespenster. Der Junge schnieft, kratzt sich den Wuschelkopf mit den rötlichen Spitzen.

»Gehen wir?«, fragt er.

Sie reibt sich den schweißnassen Nacken.

»Ja. Ja, wir gehen. Wir müssen zurück ins Lager. Nicht dass wir von der Dunkelheit überrascht werden.«

Und Darwyne setzt sich in Bewegung, ohne den Hauch eines Zweifels über die richtige Richtung.

Auf halbem Weg bleibt der Junge stehen, beobachtet etwas. Mathurine kneift die Augen zusammen.

»Siehst du was?«, flüstert sie.

»Dort hinten.«

Stück für Stück scannt sie die Dschungelkulisse vor ihnen. Sieht nichts Besonderes: verbreitete Vogelarten, Schmetterlinge in langweiligen Farben. Sucht weiter weg, weiter oben. Gesteht:

»Tut mir leid, ich seh’s nicht.«

Der Junge kämpft augenscheinlich mit sich, der kleine Mund arbeitet. Er ist jetzt entspannter, fühlt sich sicherer, das sieht man. Also klappt er die Umhängetasche auf, als dürfte er nun den Inhalt preisgeben. Mathurine erblickt einen Haufen kleiner Schnitzereien. Darwyne versenkt die Hand in dem Krempel, wühlt drin herum. Holt eine Art dicken Stängel hervor, grob abgeschliffen und mit drei Löchern. Er wirft der verblüfften Mathurine einen Blick zu, sagt:

»Schauen Sie mal.«

Und führt den geschnitzten Knochen zum Mund und geht auf die Stelle zu.

Er pfeift, eine Reihe kurzer, hoher Töne, pi … pi … pi …, die Mathurine zu kennen glaubt. Er wartet ein paar Sekunden. Macht es noch mal. Und bald ertönen von fern Antwortschreie:

»Pi … pi … pi …«

Mit aufgerissenen Augen starrt Mathurine in die Baumkronen, sieht endlich, wie die Blätter sich bewegen, weit, weit weg, weit hinter der Stelle, die sie anvisiert hatte. Jede Menge Laub raschelt, es wackelt an verschiedenen Stellen. Ein vertrautes Rauschen: Primaten, die sich fortbewegen. Darwyne bläst noch einmal in seine Lockpfeife:

»Pi … pi … pi …«

Und dann kann Mathurine sie sehen. Rothandtamarine springen wie virtuose Akrobaten von Ast zu Ast, halten sich am Blattwerk fest, schwingen an winzigen Zweigen hin und her. Es ist eine ganze Horde. Von Baum zu Baum hangeln sie auf die beiden Menschen zu, die unten stehen. Dann lassen sie sich über ihnen nieder, mustern sie von ihrem Ausguck mit schief gelegtem Kopf, was man als Neugier auslegen könnte. Darwyne lässt die Pfeife sinken, legt den Kopf in den Nacken und beobachtet sie. Neben ihm macht Mathurine das Gleiche. Es kommt nicht so selten vor, dass man Affen sieht, aber sie staunt immer wieder aufs Neue. Sie lächelt, mustert die kleinen, dunklen Leiber, das goldene Fell der Hände.

Und sagt:

»Weißt du, dass du ein ganz unglaublicher Junge bist, Darwyne?«