Mathurine steht auf, dreht sich um, beugt sich über die Toilettenschüssel. Auf der weißen Emaille sind im Urin verlaufene Spritzer dickflüssigen Blutes, und sie hält kurz inne. Erleichtert, denn darauf wartet sie schon seit zwei Tagen. Und gleichzeitig ist sie angespannt. Sie holt tief Luft, denkt: Na, los, auf ein Neues. Sie holt einen Tampon raus, reißt die Plastikhülle ab, führt ihn ein. Dann geht sie schnell in ihr Büro, holt das Handy und flüchtet sich auf den Laufgang. In die pralle Sonne, Blick auf den ehemaligen Hof der Krippe und den verlassenen Spielplatz.

»Mein Zyklus hat gerade begonnen«, erklärt sie der Telefonistin vom Krankenhaus. »Ich fange heute mit dem IVF-Protokoll an.«

»In Ordnung, ich mache einen Vermerk in Ihrer Akte. Ich sehe, Sie machen das nicht zum ersten Mal, haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

»Keine Fragen, nein. Ich …« (Sie schließt die Augen.) »Ähm, ich hab schon Übung.«

Beim nun folgenden Schweigen stellt Mathurine sich vor, wie sich der Mund der Telefonistin zu einem mitleidigen Lächeln verzieht, genau wie der Arzt überzeugt, dass dieser neue Versuch ein Fehler ist. Dass es wieder ein Fehlschlag wird. Und ehe sie auflegt, denkt sie: Die ist bestimmt schon Mutter, jede Wette. Und wird neidisch.

Als ob nichts wäre, geht sie zurück ins Büro, aufgesetztes Lächeln. Carole sitzt vor dem Bildschirm und schneidet komische Grimassen, wie immer, wenn sie einen Evaluationsbericht schreibt. Sie drückt eine letzte Taste, verkündet:

»Punkt. Das muss denen reichen. Ich hab meinen Job gemacht.«

Mathurine setzt sich an ihren Schreibtisch, zieht bestätigend die Brauen hoch. Carole schaltet den Drucker an, der zu schnurren beginnt, fragt:

»Sag mal, wie ist eigentlich der Trip in den Dschungel mit dem kleinen Wildfang gelaufen?«

»Äh … gut. War schön.«

»Schön?!? Aber … hat es was gebracht? Ich meine, konntest du mit ihm sprechen?«

»Ja, ja.«

»Und? Was hat er zu der Situation gesagt? Ich mein, ist da jetzt irgendwas problematisch mit dem Kind oder nicht?«

Verlegen reibt Mathurine sich die Stirn.

»Also, eigentlich … haben wir darüber nicht gesprochen.«

»Was? Aber worüber denn dann?«

»Über den Dschungel.«

Der Kollegin entgleisen die Gesichtszüge.

»Über den Dschungel?!? Mathurine, ist das dein Ernst? Du hast zwei Tage mit dem Kind verbracht und willst mir erzählen, dass du zu keiner Zeit die Evaluation machen konntest?«

»Nein. Also, so gut wie gar nicht.«

»…?«

Mathurine zögert, rechtfertigt sich:

»Der Junge ist sehr schüchtern, er musste erst mal Vertrauen fassen, deshalb. Jetzt, wo ich ihn besser einschätzen kann, kann ich ihn zu einem Gespräch bestellen. Das habe ich schon mit der Mutter abgemacht.«

Carole hebt nur halb überzeugt die Hände.

»Okay. Wenn du das sagst. Zum Glück hast du keine Kinder. Du würdest nicht mal eine Woche durchhalten, glaub mir. Die würden dich zum Frühstück verspeisen, die kleinen Monster …«

Sie steht auf, nimmt ihren Bericht aus dem Drucker.

»Aber vielleicht hältst du dich nicht zu lange mit dem Fall auf, hm, es warten noch so viele andere …«

»Sag mal, was bist du gleich noch mal: Gewerkschaftlerin oder Kanzleichefin?«

Carole presst eine Hand auf den Mund und prustet los.

»Meine Güte, du hast recht, was rede ich für einen Stuss. Wie so eine Technokratin!«

»In der Tat«, spöttelt Mathurine.

Dann sagt sie nichts mehr.

In Gedanken versunken, die bei Weitem konfuser sind als ihre Worte.

Ihr ist bewusst, dass die Geschichte mit dem Vertrauen, die sie gerade erzählt hat, eine Lüge ist. Es hat einen ganz anderen Grund, dass sie an besagtem Wochenende kein einziges Mal mit dem kleinen Darwyne über die Evaluation gesprochen hat. Sie war vollkommen von anderen Dingen in Anspruch genommen. Ja, geradezu fasziniert von dem, was sie da in ihm entdeckte. Sie muss ständig an die Wanderung durch den Dschungel denken. Sie kann es immer noch nicht glauben, manchmal fragt sie sich sogar, ob sie das alles nicht geträumt hat. Dieses Wissen über den Wald, selbstverständlich und tief, noch nie hat sie ein Kind gesehen, das sich derart mühelos durchs Unterholz bewegt, und auch keinen Erwachsenen. Das Dinge bemerkt, die ihr selbst nicht aufgefallen wären. Das derart mit der Umgebung verschmilzt, dass es quasi unsichtbar wird. Das mit einer selbst geschnitzten Lockpfeife eine Horde Tamarine herbeiruft. Sie sucht nach Erklärungen, nach dem Ursprung eines derartigen Wissens bei einem Zehnjährigen, der in einem der ärmsten Viertel der Stadt aufgewachsen ist, bei einer Mutter, die anscheinend überhaupt keinen Draht zum Wald hat. Und sie versucht zu verstehen, was genau passiert ist, als sie ihn eine gefühlte Ewigkeit aus den Augen verloren hatte. Jeder andere hätte daraus geschlossen, dass er sich verirrt und sie selbst großes Glück gehabt hatte, ihn wohlbehalten wiederzufinden; dass es leichtsinnig gewesen war, sich mit einem Kind dieses Alters vom Weg runterzuwagen. Aber das ist überhaupt nicht Mathurines Eindruck. Sie hatte eher das Gefühl, dass es eigentlich die ganze Zeit in der Nähe war, nur ein paar Meter entfernt. Sie sogar beobachtet hat. Als hätte es sie testen wollen, sehen, wie sie reagiert.

Ob sie sich vielleicht verirrte.

Von daher war die Sozialevaluation das Letzte, woran sie gedacht hat. Aber das wird sie Carole nicht auf die Nase binden. Die würde ihr direkt befehlen, sich ein paar Tage freizunehmen. Schlussfolgern, dass die Arbeit sie fertigmachte, sie und auch den Rest des Teams. Dass sie, wenn das so weiterging, noch alle mit Burnout enden würden.

Dabei fühlt Mathurine sich erstaunlich gut, sogar die Aussicht auf eine neuerliche IVF-Behandlung, die sie ihre ganze Energie kosten wird, schreckt sie nicht. Sie ist wie belebt von diesem Abenteuer, das sie niemandem erzählen kann. Im Nachhinein wird ihr klar, wie sehr sie das genossen hat: mit Darwyne den Wald erkunden. Nur mit ihm. Ihr scheint, dass da etwas entstanden ist zwischen ihr und dem Kind, etwas Besonderes. Und auch wenn sie ganz genau weiß, dass das nicht gut ist, nicht passieren darf, dass eine Sozialarbeiterin eine sachliche Distanz zu den Familien wahren muss, die von einer Meldung betroffen sind, tut der Gedanke ihr doch unheimlich gut. Sie kommt nicht dagegen an; seit der Minibus die Kinder zurück in ihre zusammengeschusterten Hütten gebracht hat, fiebert sie nur einem entgegen: übermorgen. Dann wird Yolanda Massily noch mal vorstellig, mit ihrem Sohn, für das Gespräch, das in der Akte immer noch fehlt.

Auf den Straßen der Stadt trocknet dampfend der Asphalt. Das Département wurde gestern von einem heftigen Gewitter heimgesucht. Beginn der Regenzeit: Das fängt ja gut an, denkt Mathurine, als sie in die Hauptstraßen eines Viertels am Stadtrand einbiegt. Die Wände sind schwarz vor Nässe, dahinter stehen niedrige Häuser, manche in tadellosem Zustand, beinahe Villen, andere sind etwas baufälliger. Carole hat recht: Egal, wie sehr der Fall Massily ihr ans Herz gewachsen ist, sie darf trotzdem nicht die anderen laufenden Gutachten vernachlässigen. Sie hat sich trotz der telefonischen Wegbeschreibung der Mutter verfranzt und fragt aus dem offenen Autofenster heraus nach der Adresse. Es ist der erste Hausbesuch bei dem jungen Paar und ihren beiden Kindern nach zwei Terminen im Büro. Schließlich parkt Mathurine an einem Schiebetor.

Als sie das Grundstück betritt, deutet sogleich eine Frau, die gerade ihrer Tochter die Haare macht, auf einen Gang, der hinter das eigentliche Haus führt: Mietwucherer, errät Mathurine. Eigentümer (wobei das kein Muss ist), die illegal beengte Unterkünfte zusammenzimmern und an die Ärmsten vermieten, an illegale Einwanderer, kurz, an diejenigen, die keinen Zugang zum offiziellen Immobilienmarkt haben. Mathurine folgt der Handbewegung, findet endlich die Mini-Zwei-Zimmer-Wohnung neben drei anderen, die identisch sind.

»Puh, das ist ja winzig klein bei Ihnen.«

»Psst«, macht der Papa, einen Finger am Mund.

Und deutet aufs Sofa, auf dem die Kleine schläft, mit halboffenem Mund liegt sie auf dem schäbigen Skai-Bezug. Neben ihr schaut der ältere Bruder, er ist sechs, einen Zeichentrickfilm im Fernsehen, die Ninjagos liefern sich einen heftigen Kampf. Der Ton ist aus, damit seine Schwester nicht aufwacht. Der junge Vater zieht ein T-Shirt über, um die Pädagogin ordentlich zu empfangen, sie erhascht einen Blick auf die Tätowierungen am ganzen Oberkörper. Bei zweien muss sie innerlich lächeln: Auf den Brustmuskeln stehen die Vornamen seiner Kinder, Julian und Myléna. Die Mutter kommt aus dem Schlafzimmer, sagt Guten Tag und bindet sich die Haare hoch, rosa Lippenstift mit Glanzeffekt. Mehr denn je, mehr noch als bei den Terminen in Mathurines Büro, wirkt sie wie eine Teenagerin, die durch zwei Schwangerschaften zu schnell gealtert ist.

Sie flüstert:

»Wollen Sie sich umsehen?«

»Ja, gern. Mir scheint, das wird nicht lange dauern.«

»O ja, allerdings.«

In ein paar Minuten hat sie die Unterkunft gesehen. Eine Lauflernhilfe aus Plastik unter der Spüle; eine Spiderman-Figur, der ein Arm fehlt; auf dem Schrank stapeln sich Windelpakete, auf Vorrat gekauft, als sie im Angebot waren: Mathurine bemerkt alle Einzelheiten, die vom Alltag der kleinen Familie erzählen. Und den Eindruck bestätigen, den sie bereits hat.

In ihrem Bericht wird sie natürlich ein paar Empfehlungen geben, eine Erziehungshilfe vermutlich, aber ganz offensichtlich liegt das Problem von Julian und Myléna eher in den Umständen als bei den Eltern selbst. Es ist sonnenklar, dass der am ganzen Körper tätowierte bad boy und seine stark geschminkte Freundin ganz verrückt sind nach den beiden Schätzen, die ein bisschen zu früh in ihr Leben traten. Sie tun, was sie können, und schlagen sich ziemlich gut, besser als andere in vergleichbaren Situationen: Schwierigkeiten mit den Papieren, Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, keine Verwandten in der Nähe, die sie unterstützen könnten. Um ehrlich zu sein, fand Mathurine die beiden von Anfang an richtig süß. Wie sie weiterhin flüstern, obwohl die Kleine, so, wie sie sich wohlig auf dem Sofa breitmacht, nicht mal aufwachen würde, wenn neben ihr ein Presslufthammer anginge, denkt Mathurine.

»Können wir noch mal sprechen?«

»Ja, ja. Draußen.«

Die drei setzen sich auf Hocker in diesen »Hof«, der eigentlich ein Gang ist und an dem sich die Wohnungen aneinanderreihen, von der Straße aus nicht zu sehen.

»Sie wohnen seit vier Monaten hier, richtig?«

»Richtig«, bestätigt die Mutter. »Ist nicht schlecht, oder, es ist ruhig.«

Fragender Blick zu ihrem Freund, der nickt.

»Wie viel zahlen Sie?«

»Zweihundertzwanzig.«

Zweihundertzwanzig Euro: Das ist Wucher.

»Und vorher waren Sie …?«

»In Bois Sec.«

»Ach ja.« Mathurine erinnert sich. »Bois Sec.«

»Hier ist es viel besser. In Bois Sec war es … also, Sie wissen, was ich meine.«

O ja, Mathurine weiß sehr gut, was sie meint. Das hier ist zumindest ein Massivbau, Bruchsteine, Zement, Fliesen. Und es fließen nicht die Abwässer des ganzen Viertels am Haus vorbei. Sie stellt weitere Fragen, um das Bild zu vervollständigen, ein vereinfachtes Porträt der kleinen Familie, außergewöhnlich und bedauerlich banal zugleich. Der Vater redet wenig, hört seiner Freundin zu, dreht sich jede Minute nach seiner schlafenden Tochter um. Wirkt, als hätte er seinen Platz gefunden zwischen den beiden Frauen in seinem Leben.

»Haben Sie seit neulich Arbeit gefunden?«, fragt Mathurine.

Verlegener Blick.

»Puh, tja, das ist nicht so einfach, Madame …«

»Aber ein paar Hilfsarbeiten doch? Gärtnern, oder auf dem Bau?«

»Ab und zu, ja. Neulich habe ich einem Typ auf einer Baustelle geholfen, hier in der Nähe. Er hat Fenster eingesetzt, und ich hab hinterher saubergemacht. Aber seitdem nichts.«

»Hmm. Tja, es ist eben nicht so einfach.«

»Genau«, lächelt der junge Mann, nicht gerade stolz auf sich, trotz der Tattoos, die eines Gangbosses würdig wären.

Die Mutter kommt ihm zu Hilfe:

»Davor hatte er eine geregelte Arbeit.«

»Ja. Letztes Jahr. Ich hab auf dem Markt Gemüsekisten geschleppt. Morgens, bevor er aufgemacht hat.«

»Fast jeden Tag«, beharrt die junge Frau. »Um fünf Uhr morgens.«

Mathurine hebt anerkennend die Brauen: Das ist gut.

»Aber damit ist Schluss. Der Typ hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.«

»Du hättest dich bei ihm melden müssen.«

Ein Vorwurf, ahnt Mathurine. Völlig wertfrei ausgesprochen, aber eben doch ein Vorwurf.

»Nein, ich hab’s dir doch schon gesagt: Inzwischen wird kontrolliert. Das funktioniert nicht mehr, das Ding von Roodney.«

Der eher seltene Vorname bleibt bei Mathurine hängen wie ein Splitter. Der ehemalige Stiefvater von Darwyne Massily hieß auch so. Der, der ihn geschlagen hat.

»Roodney, sagen Sie? Aus Bois Sec?«

»Ja, genau. Wir kommen aus demselben Dorf, also … aus dem Dorf meiner Mutter. Deshalb hat er mir angeboten, mit ihm zu arbeiten. Kennen Sie ihn?«

»Nein, ich … ich hab nur von ihm gehört, also, falls das wirklich derselbe ist. Mir wurde gesagt, er sei aus dem Département weggezogen? Ist in seine Heimat zurückgekehrt?«

Der Mann reißt die Augen auf.

»Also, das würde mich wundern: Bei dem, was er erlebt hat, setzt der nie wieder einen Fuß dorthin, wenn Sie mich fragen. Und meine Mutter hätte mir das sonst auch bestimmt erzählt. Nein, er ist noch hier, meine ich. Ich weiß zwar nicht wo, aber … irgendwo halt.«