Als Mathurine Darwyne wiedersieht, sitzt er in dem kleinen Warteraum neben seiner Mutter auf einer Bank, direkt unter einem Poster. Das Eltern sensibilisieren soll: Papa, Mama, Worte haben Gewicht. Yolanda steht auf, als Mathurine hereinkommt, sagt Guten Tag, die Fingernägel sind auf die Farbe ihrer alten pelzbesetzten Pantoletten abgestimmt. Stets vermittelt sie den Eindruck einer soliden und verantwortungsbewussten Mutter, die mit beiden Beinen fest im Leben steht.

»Ich denke, es dauert eine knappe Stunde.«

»In Ordnung.«

»Wollen Sie hier warten?«

»Nein, Madame. Ich will auf den Markt, geht das?«

»Ja, sicher. Ist praktisch um die Ecke, nutzen Sie das aus. Ich passe solange gut auf ihn auf.«

Verschwörerisches Lächeln Richtung Darwyne, der reagiert nicht.

»In Ordnung.«

Sie nimmt die Einkaufstasche, rückt die Handtasche gerade. Mathurine zögert, sagt:

»Ihr Sohn ist erstaunlich, wissen Sie. Er weiß eine Menge.«

»Hm«, macht die Mutter. »Ich weiß.«

Aber es sieht nicht so aus, als würde das Kompliment sie irgendwie berühren. Sie wirft Darwyne einen Blick zu, wie um ihm zu sagen, er solle sich benehmen, dann geht sie hinaus. Und lässt die beiden allein zurück, Darwyne sitzt, Mathurine steht.

»Wollen wir dann? Kommst du mit?«

Darwyne nickt, erhebt sich von der Bank und folgt ihr ins Büro.

Sobald er ihr gegenüber auf dem Besucherstuhl sitzt, wandert sein Blick umher. Der leere Stuhl der Kollegin, die Computer, die Plakate an der Wand. Und Mathurines Souvenirs von Waldexkursionen. Die Gewandtheit von vor ein paar Tagen, mit der er sich als Kenner im Dschungel bewegte, scheint bereits weit weg. Er ist wieder schüchtern und mürrisch, krummer Rücken, ineinander verschränkte Hände. Unbehaglich in den kalten, strengen Räumen. Mathurine denkt an die erste Evaluation von vor zwei Jahren durch Éliane Brunel, die Sozialarbeiterin, die sie sich spröde und steif vorstellt. Errät:

»Du warst schon mal hier?«

Er nickt mit geschlossenem Mund.

»Daran hast du keine guten Erinnerungen, nicht?«

Er nickt. Sie lächelt.

»Das wird schon gutgehen, keine Angst. Du musst mir bloß ein paar Fragen beantworten, okay? Damit ich sicher sein kann, dass bei dir alles in Ordnung ist.«

Leichtes Stirnrunzeln, unauffällig verzieht sich sein Gesicht. Spontan platzt er heraus:

»Madame, stecken Sie mich in eine andere Familie?«

Genau wie die Mutter bei ihrem ersten Gespräch, erinnert sich Mathurine.

»Nein, Darwyne. Warum fragst du mich das? Möchtest du das etwa?«

Heftiges Kopfschütteln.

»Willst du bei deiner Mutter und deinem Stiefvater bleiben?«

»Ja«, sagt er.

Ein Ja, das keinerlei Diskussion verträgt. Mathurine errät:

»Du hast deine Mama lieb, hm. Sehr lieb sogar, stimmt’s?«

Und da nickt das Kind, die Lippen eifrig zusammengepresst, die Augen weit aufgerissen, mit einem Schlag von dieser Liebe erfüllt, die Mathurine angesprochen hat. Sie hat schon viele Kinder gesehen, Dutzende, Hunderte, aber selten hat sie eine kindliche Anhänglichkeit in diesem Ausmaß erlebt. Als hätte sie sein ganzes Gesicht eingenommen, oder sogar darüber hinaus, unmöglich zu fassen. Und das findet Mathurine unendlich rührend.

Eilig beruhigt sie ihn:

»Dann gibt es keinen Grund, euch beide zu trennen, okay?«

»Okay.«

Und er scheint sich ein bisschen zu entspannen. Mathurine nimmt den Samen eines Stinkbaumes in die Hand.

»Hast du gesehen, ich hab ganz viele Sachen aus dem Wald.«

»Ja.«

»Gefällt es dir?«

»Ja.«

Winziges Lächeln auf den Lippen.

»Gut.«

Und damit steigt Mathurine in das eigentliche Gespräch ein, wie sie es auch bei jedem anderen Kind tun würde. Vorsichtig hangelt sie sich von Frage zu Frage, nähert sich seinem Alltag, tastet sich in sein Leben vor. Die prekäre Lage, in der er aufwächst, wie viel er davon begreift; die Schule, wie wichtig seiner Mutter das ist; die Abwesenheit des Vaters; welche Vorstellung er von seinem Herkunftsland hat, in dem er noch nie war; sein Verhältnis zu den anderen Kindern. Sie befragt ihn zu seinen Füßen, zu den medizinischen Eingriffen, die in den ersten Lebensjahren sehr viel Raum eingenommen haben. Es ist schwierig, den Panzer zu durchdringen, hinter dem Darwyne sich verschanzt, vielleicht auch dank des im Wald aufgebauten Vertrauens öffnet er sich ihr aber ein wenig. Vervollständigt mit lakonischen Einwürfen das Bild, das im Zuge der Evaluation bei den Terminen mit seiner Mutter und den Gesprächen mit allen anderen bei Mathurine entstanden ist. Ohne jemals wirklich zu widersprechen. Ein Kind, das ein wenig anders ist als die anderen, aber hellsichtig und intelligenter, als es den Anschein hat. Eine klare elterliche Autorität dank einer äußerst präsenten Mutter, die durch nichts und niemanden infrage gestellt wird. Sie könnte höchstens ein bisschen herzlicher sein.

»Sie wird doch manchmal mit dir schimpfen, oder?«

Schulterzucken.

»Darwyne, du kannst mir das ruhig sagen, hm? Das heißt nicht, dass sie eine schlechte Mutter ist, weißt du. Alle Mamas schimpfen ab und zu. Das ist nicht unbedingt etwas Schlimmes.«

Er zögert, gibt zu:

»Ja, manchmal. Manchmal bestraft sie mich.«

»Wie macht sie das? Ohrfeigen? Haue auf den Hintern?«

»Nein, Madame. Manchmal schickt sie mich nach hinten in den Garten. Aber schlagen tut sie mich nie.«

»Nie? Das kommt sehr selten vor, glaub mir.«

»Ja, ich weiß. In der Schule erzählen die anderen oft, wie es bei ihnen zu Hause ist.«

Mathurine kann kaum glauben, dass Yolanda Massily ihm nicht hin und wieder ein bisschen den Hintern versohlt. Sie hat es ganz offensichtlich mit einer außergewöhnlichen Familie zu tun, sowohl was das Kind als auch was die Mutter angeht.

»Und mit deinem Stiefvater, wie läuft das? Ich hab gehört, mit dem davor war es schwierig, hm?«

Sie spürt, wie der Junge sich wieder anspannt: empfindliches Thema.

»Der war nicht besonders nett zu dir, stimmt’s?«

Darwyne beißt sich auf die Lippen, schüttelt den Kopf.

»Was genau heißt das? Hat er dich geschlagen?«

»Ja. Mit Ästen«, fügt er hinzu, als sei das noch viel schlimmer.

»Oh, das muss ja ziemlich wehgetan haben.«

Kopfnicken, ausweichender Blick. Schmerzhafte Erinnerungen, ahnt Mathurine.

»Aber der ist jetzt nicht mehr da. Du hast ihn nicht wiedergesehen, seit deine Mama und er sich getrennt haben, oder?«

»Nein. Er ist wieder zurück nach Hause. Weit weg von hier.«

»Na, umso besser. So kann er dir wenigstens nichts mehr anhaben.«

Er nickt, dabei belässt sie es. Sie verzichtet darauf, zu erwähnen, dass besagter Stiefvater noch im Département leben könnte, nach dem, was der Vater mit den vielen Tattoos vor ein paar Tagen behauptet hat.

»Und mit dem Neuen, wie läuft es da? Ich habe ihn schon kennengelernt, weißt du. Deine Mama hat mir gesagt, mit ihm geht es besser, stimmt das?«

Keine Antwort.

»Darwyne?«

»Ja«, sagt er endlich sehr leise.

»Was, ist irgendwas passiert?«

»…«

»Du kannst es mir ruhig sagen.«

»Nein, nein. Alles gut, Madame. Zu Hause ist alles gut.«

Stille. Mathurine schaut das Kind an, überlegt. Verbirgt er etwas? Hat er Gewalt erfahren durch den imposanten Mann, der vor ein paar Wochen auf genau diesem Stuhl vor ihr saß? Natürlich kann man unmöglich herausfinden, was das Gedächtnis eines Zehnjährigen so alles abspeichert. Dinge, die Erwachsene nicht einmal bemerken, ungeahnte Dramen, manche kommen nie ans Licht, fest verschlossen im Kern der Familie. Aber bis jetzt weist nichts darauf hin, dass Misshandlungen durch den neuen Stiefvater vorliegen. Sie glaubt zu ahnen, was los ist:

»Ich hab den Eindruck, du magst ihn nicht besonders.«

Er dreht sich zum Fenster.

»Darwyne? Sag mal, du bist nicht etwa ein bisschen eifersüchtig?«

»Nein, Madame.«

Sie lächelt:

»Du bist nicht etwa einer, der seine Mama am liebsten ganz für sich alleine haben will?«

Er schaut zur Zwischendecke hoch, weicht dem Thema aus, das ihm offensichtlich peinlich ist. Sein Blick wandert erneut durchs Zimmer, in alle Ecken, zu den Jalousien an den Fenstern, den perlenden Wassertropfen an der Klimaanlage. Ihm entgeht keine Einzelheit, wie im Wald. Er schaut die Samen an, beugt sich darüber, damit er sie besser sehen kann. Dann bleibt sein Blick an einem gerahmten Foto an der Wand hängen: ein Riesenotter, den Mathurine vor einigen Jahren bei einer Kanu-Exkursion selbst fotografiert hat. Das Bild ist ein bisschen verwackelt; sie ist schließlich keine Naturfotografin, aber trotzdem ziemlich stolz darauf. Das Foto hat etwas Dynamisches, es gefällt ihr.

»Weißt du, was das ist?«

»Ja.«

»Hast du schon mal einen gesehen?«

Er kneift die Lippen zusammen und nickt.

Die meisten Leute würden jetzt schwören, dass er sich das ausdenkt, keine Ahnung hat, was er da redet. Wo soll ein Kind wie er denn bitte schön einen Riesenotter gesehen haben? Es ist zwar keine seltene Tierart, aber wenn man ihm begegnen will, muss man schon ein bisschen tiefer in den Wald hinein. Die Flüsse hinauf. Aber Mathurine glaubt ihm sofort. Sie mustert den schmächtigen Körper, der linkisch auf dem Stuhl hängt. Überlegt. Dann dreht sie sich um und holt einen der Bildbände hervor, die sie gern in Reichweite hat. Eine großformatige Schwarte mit naturkundlichen Zeichnungen von den Säugetieren der Gegend. Sie legt es zwischen sich und Darwyne auf den Tisch und schlägt es auf. Und mit einem Mal erkennt sie an seinem Gesichtsausdruck, der ein wenig zugänglicher wird, am Rücken, der sich aufrichtet, den Jungen wieder, mit dem sie durch den Wald gewandert ist.

Und das tut ihr gut.

Wortlos blättert Darwyne mit Daumen und Zeigefinger eine Seite um, solche Bücher ist er augenscheinlich nicht gewohnt. Dann noch eine. Er betrachtet die Zeichnungen, eine nach der anderen, kneift die Augen zusammen, dreht den Kopf hin und her, als wollte er hinter die abgebildeten Tiere schauen. Wenn man ihm so zusah, konnte man meinen, er betrachte das nachgebildete Bestiarium sehr kritisch. Fände die Darstellungen des Künstlers nicht besonders realistisch. Mathurine lässt ihn eine Weile schauen. Dann hakt sie ein: Als sie zu den Primaten kommen, zeigt sie auf einen Rotgesichtklammeraffen:

»Und den, kennst du den?«

Ohne aufzusehen nickt der Junge. Als wäre das ganz klar. Dann zeigt sie auf einen Tamandua: Auch den behauptet er zu kennen. Ein Großmazama: ebenfalls. Und so macht sie weiter, blättert Seite um Seite um, deutet auf ein Capybara, einen Haubenkapuzineraffen, eine Wollbeutelratte, einen Greifstachler, ein Neunbinden-Gürteltier. Und erhält jedes Mal die gleiche Antwort. Und errät, dass er damit nicht meint, er habe schon mal irgendwo von diesem Tier gehört oder es in einem Buch wie diesem abgebildet gesehen.

Nein, er ist ihnen begegnet.

Wirklich begegnet.

Er blättert weitere Seiten um, entdeckt eine wunderbare Bildtafel mit Raubkatzen: Ozelot, Puma, Langschwanzkatze, Jaguar, alle für ihre große Scheu bekannt. Und ehe Mathurine ihn überhaupt fragen kann, nickt der Junge schon: Ja, die auch. Da packt sie die Neugier, sie deutet unten auf der Seite auf die seltenste Raubkatze des ganzen Dschungels: eine Oncilla, die Nördliche Tigerkatze, nur wenig größer als eine Hauskatze. Eine Art, die weder sie selbst noch irgendjemand aus ihrem Umfeld je mit eigenen Augen gesehen hat und die auf dem ganzen Kontinent vom Aussterben bedroht ist, so sehr, dass einige Naturwissenschaftler manchmal sogar zweifeln, ob es im Département tatsächlich noch welche gibt. Darwyne sieht auf, starrt sie beinahe schuldbewusst an.

»Hast du die schon mal gesehen? Eine Nördliche Tigerkatze?«

»Ja.«

»Bist … Also, bist du dir da sicher? Hast du sie auch nicht verwechselt?«

»Nein.«

Stumm reibt sich Mathurine das Kinn. Und komischerweise kommt ihr zu keiner Zeit in den Sinn, dass der Junge sich das ausgedacht haben könnte. Und noch weniger, dass er sich irrt.

»Darwyne, das ist … Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber das ist außergewöhnlich. Wie … ich meine, also, woher kommt das? Wo hast du das alles gelernt?«

Er verzieht das Gesicht, scheint nach der richtigen Antwort zu suchen. Sagt schlicht:

»Im Wald.«

»Im Wald …«, wiederholt Mathurine amüsiert. »Natürlich.«

Er zuckt mit den Schultern, als wollte er sich für die Erklärung entschuldigen.

»Aber sag mal. Deine Mama, weiß die darüber Bescheid? Weiß sie, was du alles …«

»Nein«, unterbricht er sie. »Sie mag den Wald nicht, sie will nicht, dass ich hineingehe. Sie dürfen ihr das nicht erzählen, Madame.«

Sie schlussfolgert:

»Du meinst, das ist unser kleines Geheimnis? Von dem nur wir beide wissen?«

»Ja.«

Und bei diesem Geständnis ist ihm offenbar unbehaglich. Als bereue er schon, was er ihr alles anvertraut hat.

Mathurine sagt nichts, schaut nur das Kind an, sie ist immer beeindruckter von ihm, je mehr Facetten sie entdeckt. Er vertieft sich wieder in das riesige Buch, betrachtet weitere Tierzeichnungen, Fledermäuse, Nager, Beuteltiere, und hat dabei wieder den kritischen, scharfen Blick, manchmal macht er ein Gesicht, runzelt die Stirn, verzieht den Mund, bläst die Backen auf. Dann blättert er die letzte Seite um. Und wieder zurück, sucht nach weiteren Tierarten. Schließlich blickt er auf und sieht Mathurine mit einem unzufriedenen Ausdruck an.

»Was ist?«, fragt Mathurine.

Er schaut noch mal auf die Zeichnungen. Scheint zu zögern. Und macht wieder dicht.

»Nichts, Madame.«

»Na bitte, nun hattest du ja dein Gespräch!«

Mathurine ist auf dem Weg hinaus und bleibt an Karines Büro stehen. Die Chefin blinzelt: Sie hat zu lange vor dem Bildschirm gesessen und das Budget fürs kommende Jahr zusammengestellt. Mathurine nickt:

»Lief es gut?«

»Ja, sehr gut.«

»Na, wunderbar. Dann kannst du ja jetzt den Bericht abschließen.«

»Ja, ja …«

»Was? Du siehst aus, als wärst du dir nicht sicher, gibt’s ein Problem? Macht dir irgendwas Sorgen?«

»Nein«, lügt Mathurine. »Gar nichts. Gleich morgen kümmere ich mich drum.«

Und sie flüchtet auf den Laufgang und ins Auto. Nach Hause, im Schneckentempo wegen des Feierabendverkehrs, der jedes Jahr schlimmer wird. Ungezügeltes Anwachsen des Fuhrparks, Ausbau der Infrastrukturen, um alles zu fassen: eine endlose Spirale. Auch für die letzten Waldstücke in Stadtnähe, die eins nach dem anderen gerodet werden.

Es ist schon fast Nacht, als sie endlich zu Hause ankommt. Sofort geht sie zum Kühlschrank, nimmt einen Gonal-Injektionsstift heraus und setzt sich auf die Terrasse. Sie dreht an dem Plastikrädchen, stellt die vom Gynäkologen verschriebene Dosis ein. Zieht ihr T-Shirt hoch, packt mit der linken Hand eine Bauchfalte, denkt: Siehst du, dein Altweiberspeck ist also doch zu was gut.

Und spritzt sich das Mittel zur Stimulierung der Eizellen.

So, wie sie es jetzt jeden Abend tun wird, außerdem alle drei Tage Ultraschall und Blutabnahme. Ganz zu schweigen von den Cetrotide-Spritzen, die bald dazukommen werden, um einen vorzeitigen Eisprung zu verhindern. So wird ihr Alltag die nächsten Wochen aussehen. Beim ersten Mal legte Mathurine Listen an, klebte überall Zettel hin, um nur ja keinen Baustein des Verfahrens zu vergessen, das sie nur zur Hälfte begriffen hatte. Inzwischen kennt sie es in- und auswendig.

Aber an diesem Abend ist sie nicht so sehr von der Last des IVF-Protokolls, sondern vor allem von der Begegnung mit Darwyne erfüllt. Und von dem Gedanken, dass sie bald ihren Bericht wird abgeben müssen. Und Darwyne dann nie wiedersieht, denn so ist das bei einer Sozialevaluation, man muss loslassen und es weiterreichen, manchmal an die Kinderfürsorge, manchmal an die Justiz, manchmal nur an die Eltern. Meistens erfahren sie und ihre Kolleginnen nicht einmal, wie es weitergegangen ist. Sobald ihre Berichte der Leitung vorliegen, hören sie nichts mehr von den Kindern.

Aber diesmal ist es anders, das wird ihr klar.

Ja, Darwyne und sie, das ist etwas Besonderes.

Sosehr sie es sich auch einredet, sie kann sich einfach nicht damit anfreunden, dass er wieder aus ihrem Leben verschwinden soll. Das erscheint ihr undenkbar oder zumindest viel zu früh. Sein eckiges Gesicht von vor ein paar Stunden steht ihr noch vor Augen. Und vor allen Dingen sein Blick, nachdem er den Bildband durchgeblättert hatte. Ihr Eindruck, dass dieses Buch, obwohl es als Referenz gilt, in seinen Augen mehr als unvollständig ist. Als fehle ein erheblicher Teil der vielfältigen Säugetiere des Amazonas.

Du spinnst, versucht sie abzuwiegeln, du projizierst deine eigene Leidenschaft auf das Kind.

Er ist zehn, das ist doch völliger Unsinn.

Und doch, nachdem sie die Verpackung der synthetischen Hormonspritze weggeworfen hat, setzt sie sich im Schneidersitz auf den gefliesten Wohnzimmerboden, lässt den Blick über das Bücherregal schweifen und zieht ein paar Exemplare heraus. Und so, der nachtdunkle Garten nur zwei Meter weg, beginnt sie zu träumen. Sie blättert sich durch die Bücher über Flora und Fauna, in denen es vor lebendigen, unendlich vielfältigen Gestalten nur so wimmelt, und denkt an alles, was die Wissenschaft noch nicht weiß. An die erst vor Kurzem durch Naturforscher entdeckten Arten, mehrere hundert in den letzten Jahren, Pflanzen, Fische, Reptilien, Vögel, sogar ein Seidenäffchen vor noch nicht mal einem Jahr, mitten im Amazonas. Sie denkt an die der sogenannten modernen Welt noch unbekannten Arten, noch nie gesichtet, noch nie beschrieben, die noch viel zahlreicher sind, wenn man Spezialisten glauben darf. Eine Masse an Tieren und Pflanzen, die anonym die Ökosysteme des Planeten bevölkern, Wälder, Wüsten, Steppen, Ozeane. Und Mathurine vergisst die Zeit, vertieft sich in ein paar ihrer Anthropologiebücher, die sich im Studium angesammelt haben, ehe sie alles hinter sich ließ und Sozialarbeiterin wurde. Erinnert sich, dass viele Völker eine ganz andere Beziehung zur Tier- und Pflanzenwelt haben als sie selbst. Eine Beziehung, die auf Dialog und Austausch zwischen den Arten basiert, in denen nichtmenschliche Geschöpfe als Personen, ja, als Lehrer gesehen werden, Völker, bei denen allein das Konzept Natur als etwas von der Menschheit Getrenntes sinnlos ist. Sie erinnert sich an die Gesänge der Jäger gewisser Ureinwohner, um Wild anzulocken. Sie erinnert sich, dass für viele von ihnen die Tierwelt viel reicher ist als das, was in Büchern steht, dass es mehrere Jaguar-Arten und zahlreiche Pekari-Arten gibt. Um einiges vielfältigere Formen, ganz zu schweigen von den Zwischenvarianten, all den möglichen Metamorphosen von Arten, die gar nicht so streng voneinander getrennt sind, Menschen inklusive. Und wie sie so vor sich hin träumt, denkt sie auch an all die Phantasiegeschöpfe und Wesenheiten, an die sie immer hatte glauben wollen, lebendig geworden in Mythen und Märchen, die sie seit ihrer Kindheit kennt. Die, bei denen man meinen könnte, dass sie heimlich den Amazonas bevölkern, Flussnixen, Erd- und Wasserungeheuer, Überbleibsel einer Fauna, die als ausgestorben gilt, alle möglichen Geister, die für Nichteingeweihte unsichtbar bleiben. Und obwohl sie nicht weiß, warum, kann Mathurine nicht anders, als sich vorzustellen, dass Darwyne vielleicht Zugang zu dieser Welt hat.

Und sie ebenfalls, dank ihm.

Ein ganz klein wenig.

Und daher, nein, sie kann sich nicht entschließen, den Bericht der Sozialevaluation abzugeben.