Es gibt bei den Stiefvätern ein untrügliches Zeichen, Darwyne hat es genau erkannt: wenn der Mann zum ersten Mal am Gottesdienst in der Kirche Dieu en Christ teilnimmt. Wenn das passiert, dann will die Mutter diesen Stiefvater gern behalten. Ja, es bedeutet, dass sie ihn liebt, mit der Liebe, die Erwachsene manchmal füreinander empfinden. Soweit Darwyne das verstanden hat, ist das nicht die gleiche Liebe wie die, mit der sie Jesus verbunden ist, und auch nicht die, die sie für ihre Kinder empfindet, für Ladymia und ihn, nein, kein Vergleich. Aber es ist dennoch Liebe. Eine Liebe der anderen Art, hat er nach langem Nachdenken schließlich entschieden. Eine, gegen die er nicht ankommt.
Weil sie noch nicht verheiratet sind, bleibt Stiefvater Acht in der Kirche auf Abstand, in Fensternähe. Weit weg von der Mutter, die mehr denn je in den Lobliedern aufgeht. Darwyne ist in seine Sonntagskleidung eingezwängt und beobachtet, wie der Stiefvater eifrig die Lobeshymnen anstimmt, als würde er schon immer zur Gemeinde gehören. Bestimmt tut er nur so, führt alle geschickt an der Nase herum. Anstelle von Drillichhose und Unterhemd hat er einen Anzug an und eine Krawatte umgebunden, er schwitzt wie ein Tapir in der prallen Sonne. Als die Pastorin verkündet:
»Gelobt sei Gott! Sein Lobgesang soll überall erklingen!«, schließt er die Augen und nickt demonstrativ, um zu zeigen, dass er das ebenso sieht. Und Darwyne denkt bei sich, dass da nichts zu machen ist, je mehr Zeit vergeht, desto mehr hasst er diesen Mann und die Erwachsenenliebe, die die Mutter für ihn empfindet. In dem Punkt hatte die Frau von der Jugendhilfe recht. Das Ganze wird böse enden, wie jedes Mal. Weil es Dinge gibt, die sich nie ändern. Darwyne hat bemerkt, dass das Gleichgewicht im Moment verschoben wird, dass gerade Dinge passieren, die noch nie zuvor da gewesen sind und seine Gewissheiten gehörig erschüttern. Im Büro der Frau von der Jugendhilfe hatte er wieder nicht aufgepasst, obwohl er weiß, dass das nicht geht, weil sie es geschickt angestellt hat. Im Moment kann er hinnehmen, dass diese Frau nicht wie die anderen ist, auch wenn man trotzdem noch vorsichtig sein muss. Aber mit den Stiefvätern ist es noch mal etwas anderes. Was das betrifft, wird sich nie etwas ändern. Nein, kleines Opossum, du weißt ganz genau, dass das unmöglich ist.
Du weißt, dass du irgendwann tun musst, was früher oder später immer getan werden muss.
Er kneift fest die Augen zu, verscheucht die Erinnerungen, die bei dem Gedanken in ihm hochsteigen.
Die Band beginnt ein neues Stück. Darwyne macht die Augen wieder auf, wendet den Blick vom Stiefvater ab und der Mutter zu, da sieht er immer noch lieber, wie sie Jesus anbetet. Als sie aus dem Büro der Jugendhilfe kamen, sie und er, hatte sie alles wissen wollen: Was hast du ihr erzählt, hm, kleines Opossum? Ich hoffe doch, du hast nicht schlecht über deine Mutter geredet, du machst mir auch so schon genug Probleme, bilde dir bloß nichts ein, nur weil sie gesagt hat, du wärst erstaunlich. Natürlich, sie hatte sichergehen wollen, dass er nichts gesagt hat, was eine Trennung rechtfertigen könnte. Immerhin ist sie die Mutter, sie will ja auch nicht, dass er in eine andere Familie kommt. Also hat Darwyne sie beruhigt, hat mit seinen Worten das Gespräch wiedergegeben, versucht, nichts zu vergessen. Also, außer das mit dem Buch und den Raubkatzen und der Tigerkatze, die die Frau Oncilla genannt hat. Das, nein, das konnte er nicht erzählen.
»Na also«, hatte die Mutter gesagt. »Damit ist die Sache erledigt.«
Der Gottesdienst ist zu Ende, die Gläubigen strömen aus der Kirche, bilden kleine Grüppchen im Sonntagsstaat. Der Himmel ist bedeckt, seit dem frühen Morgen brauen sich wieder dicke Wolken zusammen, der Regen scheint unschlüssig. Endlich frei von den Zwängen der Messe toben die Kinder auf der Gasse herum, werden von den Eltern ausgeschimpft. Der Stiefvater lächelt alle an, unterhält sich mit dem Diakon, der Pastorin, den Einwohnern von Bois Sec und denen aus anderen Vierteln, als würde er sie seit Ewigkeiten kennen, dieser Heuchler. Die Mutter winkt ihn heran, gereizt über so viel Leutseligkeit. Da kommt er zu ihnen, und sie machen sich auf den Heimweg. Zu dritt, Mann-Frau-Kind. Als ob sie jetzt das sind, was die Leute eine Familie nennen. Und Darwyne starrt auf das Bitumen, verbannt diesen Gedanken als die allerschlimmste Aussicht.
Niemals, nein, niemals.
Machetenhieb in einen Baumstamm: Die Klinge fährt kaum hinein, das Holz ist steinhart. Mit taubem Unterarm schlägt der Stiefvater härter zu. Einmal, zweimal, dreimal.
»Komm schon …«, knurrt er.
»Hey, Jhonson! Alles klar?!«
Er hält inne, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Yolanda hat ihn gerufen, sie muss gemerkt haben, dass er allmählich sauer wurde. Sie sitzt mit ihrer Tochter, die zu Besuch gekommen ist, vor der Hütte, die beiden unterhalten sich über Gott weiß was und tippen auf ihren Handys herum. Er steht im Gestrüpp und beschwichtigt sie mit einem:
»Ja, ja, alles klar. Nur der Baum hier ist ein bisschen hart.«
Aber das stimmt nicht, so gut läuft es nämlich nicht. Dass dieser vermaledeite Baum sich ihm widersetzt, treibt Jhonson zur Weißglut. Irgendwie steht da auch seine Männlichkeit auf dem Spiel, scheint ihm. Tatsache ist: Das Stück Wald auf Yolandas Grundstück ist hartnäckig, er hat so etwas noch nie erlebt. Zum einen ist das Holz sehr hart, aber das ist nicht alles: Je mehr Zeit vergeht, desto mehr hat er das Gefühl, dass die Pflanzen hier schneller nachwachsen als anderswo. Das ist Unsinn, das weiß er genau, aber ihr Nachbar, der manchmal hörbar seine Frau verprügelt, wirkt nicht so, als hätte er genauso viel im Garten zu tun wie er. Das und die Geschichte mit dem Pekari im Haus neulich nachts, das bringt ihn zum Grübeln. Er bildet sich auf einmal Dinge über seinen neuen Wohnort ein, als ob es hier nicht mit rechten Dingen zugeht und als ob sich das auch ein wenig gegen ihn richtet. Er ruft sich zur Ordnung, denkt: So ein Quatsch, du bist ja paranoid. Wenn der Wald hier so ist, dann liegt das sicher am Licht oder am Boden, das wird auf dieser Seite ein bisschen anders sein. Oder Yolanda ist einfach zu pingelig, jeden zweiten Tag hat sie hier etwas zu mähen, dort etwas zu roden. Er umklammert den Griff seiner Machete und beginnt wieder zu hauen, eins, zwei, drei, vier, verdammtes Holz. Bis das Bäumchen endlich nachgibt, mit einem dumpfen Krachen zu Boden fällt.
Und Jhonson ist beruhigt.
Er bewegt die rechte Schulter, will sie lockern. Lehnt die Klinge an eine Wand, Schluss für heute. Und er geht mit durchgeschwitztem T-Shirt zu den Frauen. An Darwyne vorbei, der ihn anstarrt, die trockenen Lippen zusammengepresst. Mürrisch, auch weil er kaputt ist, denkt Jhonson, dass er die Blicke des Bengels satthat. Das wird immer schlimmer, findet er: In letzter Zeit scheint Darwyne sich von seinem Körperbau überhaupt nicht mehr beeindrucken zu lassen, als hätte er Selbstvertrauen entwickelt. Vielleicht hat das was mit der Jugendhilfe und dem Wochenende weit weg vom Viertel zu tun, Jhonson weiß es nicht und es ist ihm auch ziemlich egal. Er weiß nur eins, nämlich dass er, Jhonson, seit der Sache mit dem Leguanknochen aufgehört hat, sich zu bemühen und nett zu Darwyne zu sein. Nein, danke, ich hab’s versucht. Deshalb blafft er mit herausgestreckter Brust: »Was?«
Und weil das Kind ihn einfach weiter anstarrt und sich nicht vom Fleck bewegt, schiebt er es beiseite. Und setzt sich in den Sessel zu Yolanda und Ladymia, die noch nicht mal aufgesehen haben. Die Haut klebt am abgewetzten Leder.
»Na also, du hast ihn kleingekriegt!«, lobt seine Liebste und reicht ihm ein großes Glas Wasser.
»Puh, ja, allerdings.« Und mit erhobenem Zeigefinger fügt er hinzu: »Den Baum, der mir widersteht, gibt es nicht auf dieser Welt, das sage ich dir.«
Und er lächelt über seinen Scherz und nimmt einen eiskalten Schluck, das tut verdammt gut. Ladymia spöttelt:
»Na, Gregor jedenfalls würde so was nicht zustande bringen … Mein Gott, Mama, was ist der Typ faul! Wenn du eine neue App installieren willst oder das Handy pimpen, dann ist er perfekt, mein Kerl. Aber wenn es darum geht, die Ärmel hochzukrempeln, Himmel …«
Und sie macht eine lockere Bewegung aus dem Handgelenk, an den Fingerspitzen prangen neue falsche Nägel.
»Nun hör aber auf, Mädchen«, lacht die Mutter. »Dein Mann ist wunderbar: Er ist schön, er ist freundlich, er arbeitet in einem Büro … Den behältst du besser, glaub mir. Ich hab dich schließlich nicht aufgezogen, damit du einen Bauern heiratest.«
Auch Jhonson lacht, er weiß, dass sie es nicht böse meint. Mehr als alles andere liegt ihr daran, dass ihre Kinder aus der Armut herauskommen, in der sie selbst immer noch lebt. Er mag Ladymia gern, ihre üppigen Rundungen und die überschwängliche Art. Wenn sie da ist, wirkt Yolanda entspannter. Man sieht, wie stolz sie auf ihre Tochter ist, die es geschafft hat, sich in diesem Land, in dem Yolanda selbst sich noch immer fremd fühlt, ihren Platz zu erobern. Klar, sie ist auch hier aufgewachsen, für diese Generation ist es leichter. Also, nicht immer, weil, bei dem anderen Kind ist die Schlacht noch längst nicht gewonnen, korrigiert Jhonson sich, als er den kleinen Bruder anschaut. Der Junge hockt ein paar Meter entfernt und scheuert wieder so ein Knochending von Gott weiß woher an einem Stein. Mutter und Tochter kümmern sich kaum um ihn.
»Wie das neulich geregnet hat, hast du gesehen?«
»O ja! Jhonson, du wirst das Dach reparieren müssen. Ich hab nicht genug Wannen …«
Er nickt, noch mehr Arbeit für ihn.
»Gregor sagt, dieses Jahr wird es richtig, richtig viel regnen.«
»Pfff … ich hasse Regen. Die Wäsche wird nicht trocken, im ganzen Viertel Schlamm, mein Gott … Aber du bist wenigstens in Sicherheit, mein Liebling.«
»Er sagt, das wird immer schlimmer werden. Wegen der Klimaerwärmung da, weißt du.«
»Hm …«
Jhonson trinkt das kalte Wasser. Davon hat er schon mal gehört, von der Erwärmung, aber er weiß nicht, was er davon halten soll. Oder inwiefern ihn das betrifft, so warm, wie es das ganze Jahr über sowieso schon ist, und bei all den Problemen mit Geld und Papieren, die Leute wie sie ohnehin schon am Hals haben. Yolandas Handy vibriert in ihrer Hand. Sie schaut aufs Display, runzelt die Stirn.
»Was ist?«, fragt Ladymia.
»Das ist die Frau von der Jugendhilfe.«
»Schon wieder? Sonntags?«
»Was weiß ich …«
Neues Vibrieren. Die Mutter seufzt. Und wischt mit dem Daumen übers Display.
»Hallo?«
Sie lauscht, was ihr Gegenüber erzählt. Jhonson gefällt ihr Gesichtsausdruck nicht, sie wirkt verstimmt.
»Ja, Madame«, sagt sie.
Er schaut Ladymia fragend an, die zuckt die Schultern und spielt dann mit ihrem Handy. Yolanda redet weiter:
»Aber ich dachte, das ist erledigt? Dass Sie alles haben, was Sie brauchen?«
Und hört wieder zu.
»Sind Sie sicher? Aber, Madame …«
Anscheinend hat die Frau einiges zu sagen, sie argumentiert. Die Mutter seufzt, wirft hin und wieder einen Blick auf Darwyne, der sein Werkeln unterbrochen hat und vom Baumstumpf aus die Szene verfolgt, weil er begriffen hat, dass es um ihn geht.
»In Ordnung … Ja. Ja, Madame. In Ordnung, am Mittwoch.«
Sie legt auf, bleibt stumm mit dem Handy in der Hand sitzen.
»Opossum«, ruft sie endlich. »Worüber hast du mit der Frau gesprochen? Du versteckst doch nichts vor mir, hm?«
Der Junge richtet sich auf.
»Nein«, sagt er.
Aber er guckt total verdattert, Jhonson könnte schwören, dass er lügt, der Tölpel.
»Was ist denn?«, fragt die Schwester. »Gibt’s ein Problem?«
»Sie sagt, dass sie noch mal mit ihm reden muss«, seufzt Yolanda. »Für ihren Bericht, da. Sie will noch mal mit ihm in den Wald.«
»In den Wald?!? Was will die denn immer im Wald, die Frau? Ist die nicht gern unter Leuten, oder was?«
»Ja, das ist doch Blödsinn«, mischt Jhonson sich ein. »Sag nein, Yolanda. Sag, dass du nicht einverstanden bist.«
Die Mutter zieht die Augenbrauen hoch, schaut ihren Mann resigniert an.
»Ach ja? Glaubst du, in meiner Lage kann ich Scherereien mit den Behörden gebrauchen? Mein Gott, du hast wirklich keine Ahnung von diesen Leuten.«