Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, man kann gerade so die Morgenröte über den Dächern des Einkaufszentrums erahnen. Die Laternen werfen fahle Lichtkreise auf den riesigen Parkplatz. Es hat spät in der Nacht geregnet, der nasse Beton trocknet ungleichmäßig. Etwa ein Dutzend Menschen macht sich hinten an den Agrarlieferwagen zu schaffen. Sie schleppen Kisten mit Waren, öffnen Sonnenschirme, bauen auf wackeligen Gestellen die Stände auf. Wenn am Markttag die ersten Kunden kommen, muss alles bereit sein. Mathurine parkt irgendwo am Rand, steigt fröstelnd aus dem Auto, morgendliche Kühle, typisch für die Regenzeit. Und sie geht auf die Gestalten zu, die sich im Halbdunkel zu schaffen machen wie nachtaktive Tiere. Niemand achtet auf sie, die Lagerarbeiter laufen eilig hin und her. Sie spricht einen mit Kapuzenshirt an, er hat eine Stiege Auberginen in den Händen.
»Guten Morgen. Sieht ganz schön schwer aus!«
Der Mann bleibt nicht mal stehen. Sie versucht es bei einem anderen, der sie verängstigt aus verschlafenen Augen anschaut.
»Guten Morgen. Ich suche jemanden …«
Eine Stimme hinter ihrem Rücken unterbricht sie schneidend, fordert den Arbeiter zum Weitermachen auf, er gehorcht sofort. Mathurine dreht sich um, vor ihr steht eine kurzgewachsene Dame, die sie aus einem runzligen Gesicht misstrauisch anstarrt. Die Gemüsebäuerin. Sie stellt die Männer ein, wenn sie in die Stadt kommt, um ihre Erzeugnisse zu verkaufen.
»Entschuldigen Sie, ich … Ich suche einen Mann, der mal hier gearbeitet hat, glaube ich. Er heißt Roodney, sagt Ihnen das was?«
Die Frau schüttelt den Kopf.
»Ich weiß nicht, Madame. Ich weiß nicht.«
Und Mathurine errät den Grund für das Unbehagen: illegale Arbeit. Viele Aushilfen sind Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis oder irgendeinen Vertrag. Wenn der Tag anbricht, wenn der Gemüsemarkt öffnet und sich hier die ganze Stadt zusammendrängt, sind sie längst mit dem Geld in der Tasche zurück in ihren Slums.
»Ich bin nicht von der Polizei.« Sie versucht sie zu beruhigen. »Es ist nur …«
Aber die Bäuerin hat sich schon wieder an die Arbeit gemacht, erteilt ihren heutigen Angestellten Anweisungen, wie Obst und Gemüse aufzubauen sind, zeigt auf die Stände. Mathurine geht zu einer anderen Gruppe, mit dem gleichen Ergebnis: Ich weiß nicht, Madame, ausweichende Blicke über Bananen und sonnenverwöhnten Papayas. Sie bleibt einen Moment lang mitten auf dem Marktplatz stehen, die Männer und Frauen wuseln derweil geschäftig um sie herum und ignorieren sie systematisch. Und sie denkt: Was willst du eigentlich hier, Mädchen, morgens um halb sechs? Du hast es doch selbst gesagt, du bist nicht von der Polizei, du sollst hier keine Ermittlung führen.
Wenn sie es sich recht überlegt, weiß sie nicht einmal so genau, was sie eigentlich sucht. Also, doch: Sie will Roodney finden, Darwynes ehemaligen Stiefvater. Den, der ihn angeblich mit Ästen und Dornen geschlagen hat. Den, der mit hoher Wahrscheinlichkeit den Anruf ausgelöst hat, der bei der CRIP eingegangen ist. Den, von dem die Mutter behauptet, er sei zurück in sein Heimatland gegangen, der aber, wenn man dem jungen Vater von neulich glauben darf, immer noch in der Gegend ist. Aber wozu das Ganze? Inwiefern würde es die Ergebnisse der Sozialevaluation ändern, wenn sie seine Version der Geschichte hört? Egal, wo er jetzt ist, er hat keinen Kontakt mehr zu dem Kind, stellt keine Gefahr mehr dar, das ist das Einzige, was für den Kinder- und Jugendschutz von Interesse ist. Und doch ist Mathurine extra früh aufgestanden, ist hierhergefahren, um die Leute zu befragen, die ihn vielleicht eingestellt oder ihn wenigstens mal gesehen haben. Von Neugier getrieben. Von dem Wunsch, ein bisschen mehr über das Leben dieses Jungen herauszufinden, der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. Und dem Wunsch, die Frist für ihre erwartete Empfehlung hinauszuschieben, weil dann nämlich der Kontakt zu Ende wäre. Deshalb hat sie auch am Vortag noch mal die Mutter angerufen, einen Grund für ein weiteres Gespräch mit Darwyne erfunden.
Sie irrt noch ein Weilchen durch die hart arbeitende Menge, dann kehrt sie um und will zurück zu ihrem Auto. Ein Blick auf die Uhr: Gerade mal sechs Uhr, noch zu früh für ihren Termin beim Gynäkologen. Deshalb lehnt sie sich ans Auto und wartet, schaut zu den Ständen, die gerade aufgebaut werden. Der Himmel ist klar, bemerkt sie, aber für abends ist wieder Regen gemeldet. Der Ort ist ziemlich trist, riesige Supermärkte und Läden, in denen importierte Waren verkauft werden. Sie erinnert sich, dass hier früher ein großer Teich war, in dem Wasservögel plantschten, Silberreiher, Mangrovereiher, Rohrdommeln und Kahnschnabelreiher.
»Madame!«
Sie dreht den Kopf: Jemand kommt mit schnellen Schritten von der Seite auf sie zu. Ein junger Mann um die zwanzig. Tadellose weiße Turnschuhe, amerikanisches Basecap.
»Guten Morgen«, sagt er, wirkt gehetzt.
»Guten Morgen.«
Er kratzt sich am Nacken, deutet mit dem Kinn zum Markt.
»Sie müssen entschuldigen. So sind sie nun mal: Die mögen es nicht, wenn Leute rumschnüffeln, wissen Sie.«
»Ich verstehe schon«, lächelte Mathurine. »Ist ja klar.«
Und verzichtet wohlweislich darauf, die Arbeitsbedingungen der Angestellten zu erwähnen. Der junge Mann holt eine Zigarette raus, zündet sie an, raucht hastig. Zwischen zwei Zügen meint er:
»Ich habe gehört, Sie suchen jemanden?«
»Ja. Einen Mann aus Bois Sec, der hier gearbeitet hat.«
»Roodney, ja?«
»Ganz genau, ja.«
»Was wollen Sie von ihm?«
»Nichts. Nur mit ihm reden.«
Er nimmt noch einen Zug, schaut sie ernsthaft an.
»Ich kann mich an ihn erinnern. Er hat mehrmals für meinen Vater gearbeitet. Er kam immer mit einem anderen zusammen, die beiden waren unzertrennlich. Aber das ist schon eine Weile her, er hat dann was Besseres gefunden, glaub ich.«
»Und Sie wissen nicht, wo ich ihn finde?«
Der Mann schüttelt den Kopf.
»Die Männer erzählen nicht viel von sich … Sie wollen sich keinen Ärger einhandeln. Aber ich kann Ihnen vielleicht seine Handynummer besorgen. Falls es noch dieselbe ist.«
»O ja, das wäre toll.«
Er raucht auf, drückt die Kippe auf dem nassen Beton aus. Geht zurück zu den Ständen und spricht mit einem kleinen, stämmigen Mann, der Mathurine von Weitem mustert. Wahrscheinlich sein Vater. Und gleich darauf kommt er mit der Nummer von Darwyne Massilys ehemaligem Stiefvater zurück.
Ein flackerndes, verschwommenes Bild auf dem Bildschirm des Ultraschallgeräts. Mathurine braucht keine Erklärungen mehr, sie kann mittlerweile die wachsenden Follikel im Inneren der Eierstöcke ausmachen. Langsam bewegt der Gynäkologe die Sonde in der Vagina hin und her, zählt die schwarzen, runden Punkte, einen nach dem anderen, misst den Durchmesser. Mathurine mag den Kerl nicht, er hat etwas Unsympathisches an sich, nie macht er den Mund auf. Aber sie kann nicht wählerisch sein: Er hat ihr keine Fragen gestellt, sie von Anfang an ohne Überweisung behandelt. Solange die künstliche Befruchtung in diesem Land nicht allen offensteht, ist dies das Schicksal aller Frauen in ihrer Lage.
Von ihrem Platz aus glaubt sie auf der rechten Seite drei und links vielleicht fünf Follikel in annehmbarer Größe auszumachen. Und denkt: Okay, ja, sieht erst mal ganz gut aus. Und sie träumt davon, dass eins der Bläschen die Eizelle freigibt, aus der in ein paar Wochen ihr Kind entsteht. Und sie träumt, dass die zwei Jahre endlich mit einer Schwangerschaft belohnt werden. Den belgischen Arzt Lügen strafen, dessen Worte sich ihr eingebrannt haben: es dabei belassen, anfangen, sich damit abzufinden. Weil sie mit über vierzig bereits zu alt ist.
Kurz darauf verlässt sie die Praxis, liest aufmerksam die Ergebnisse: Ja, es sieht gut aus. Sie geht zurück zu ihrem Auto, scannt die Ergebnisse mit dem Handy und schickt sie per Mail an das Krankenhaus. Dann wählt sie die Nummer, die der Sohn des Gemüsebauern ihr besorgt hat, landet auf der Mailbox:
»Dies ist der Anschluss von …« (Dunkle, monotone Stimme): »Roodney … Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Sie stammelt Erklärungen, dass sie ihn gerne sprechen würde, es ginge um Darwyne Massily. Aber keine Sorge, es wird nicht lange dauern. Sie bittet um Rückruf. Ist sich im Klaren, dass wahrscheinlich sie zurückrufen muss. Nicht lockerlassen.