Seltsame Töne, Kreischen, Fauchen, schwer zu sagen, zischen durchs Unterholz wie Pfeile, die zwischen die Bäume geschossen werden. Ohne Lockpfeife diesmal, Darwyne schreit mit dem bloßen Mund, die Lippen verzogen, die Zunge aufgerollt, und allein die Tatsache, dass ein Mensch solche Töne erzeugen kann, ist schwer zu glauben. Er schließt die Augen, horcht in die darauf folgende Stille hinein, eine Stille, die von Piepsen, Summen und Krächzen begleitet wird, der Wald ist niemals vollkommen stumm. Mathurine steht reglos dicht neben dem Kind. Sie sagt nichts, beobachtet nur. Und sie wartet. Als er ihr per Handzeichen zu verstehen gibt, dass sie weitergehen soll, gehorcht sie, folgt ihm, sie laufen nun langsamer. Auch wenn sie in der Vergangenheit schon hunderte Kilometer in ähnlicher Umgebung gewandert ist, noch nie kam sie sich so linkisch vor wie in seiner Gegenwart. Darwyne versinkt lautlos wie ein Raubtier im Dickicht, seine Schritte, viel sicherer als in der Stadt, scheinen über dem Boden zu schweben. Blätter gleiten an ihm ab, als ob er sie gar nicht berührt. Sein Blick ist auf die Umgebung gerichtet, und so bewegt er sich, geht um ein Knäuel Lianen herum, steigt über ein dünnes Rinnsal, ohne seinen Fluss zu stören.

Und faucht erneut.

Mehrmals, laut.

Er führt die Expedition durch den Dschungel an, das ist nun mehr als klar. Mathurine hat es sich gefallen lassen, sobald sie aus dem Auto ausgestiegen waren und den Wanderweg genommen haben, den sie kurz darauf ebenfalls hinter sich ließen, um abseits menschlicher Markierungen weiterzugehen. Als sie vorhin auf dem Fahrersitz die Schuhe wechselte, hat er seine ausgezogen: Er läuft lieber barfuß, und Mathurine hat es nicht kommentiert. Dachte, dass seine kleinen Turnschuhe ihm womöglich wehtun, weil sie für seine Füße ungeeignet sind.

Mit erhobener Hand bedeutet er ihr, stehen zu bleiben. Rührt sich ebenfalls nicht mehr, steht gebeugt unter dem Laubdach. Ganz langsam zeigt er auf einen gedachten Punkt, unendlich weit weg, auf Augenhöhe eines Erwachsenen. Mathurine späht dorthin, sieht zuerst nichts Besonderes, mustert die Blätter der Sträucher, die sich wie ein nachlässiger Teppich über den Boden ziehen. Das Tier ist bereits ganz nah, als sie endlich die ersten Bewegungen wahrnimmt. Da ist zunächst nur ein Halm, der in ein paar Metern Entfernung wackelt, ganz unauffällig in den Weiten des Unterholzes. Es folgt ein weiteres Wackeln, das sie leichter erkennt. Und mit einem Mal steht das Tier vor ihnen wie eine Erscheinung. Ein kräftiger, definierter Körper, nichts als Muskeln, die unter dem sandfarbenen Fell spielen, ein rosa Maul mit waagerechten Schnurrhaaren, durchdringende, gelbe Augen, die schwarze Umrandung macht es noch intensiver.

Ein Puma, erkennt Mathurine sofort mit klopfendem Herzen.

Eine der großen Raubkatzen des Amazonas.

Angelockt von den Schreien, die vielleicht das Jaulen eines paarungsbereiten Weibchens nachahmen.

Mathurine wird nicht wieder: ein Puma. Sie selbst hat erst einmal einen gesichtet, und unter gänzlich anderen Umständen. Er bewegt sich mit verblüffender Ruhe vor ihrer beider weit aufgerissenen Augen, weder misstrauisch noch drohend. Als wären das Kind und die Frau nicht zwei Menschen, zwei Eindringlinge. Gemächlich setzt er die großen, dicken Pfoten, schlängelt sekundenlang zwischen den Halmen hindurch mit einer Geschmeidigkeit, an die kein anderes Tier herankommt. Dann bleibt er stehen, dreht den Kopf zu ihnen, öffnet das Maul ein wenig. Und vielleicht bildet Mathurine es sich ein, aber ihr scheint, als würde das Raubtier in dem Moment einen Blick mit Darwyne wechseln, als ob zwischen den beiden ein Austausch stattfindet. Ein stummer Dialog, von dem sie nichts erfahren wird, ein Dialog zwischen den Arten. All das geschieht sehr schnell, denn gleich darauf setzt das Tier sich wieder in Bewegung, Vorderpfote, Hinterpfote und der elastische Schwanz. Es geht dicht an dem Jungen vorbei, streift ihn vielleicht sogar, umgeht einen Baumstamm.

Dann löst es sich in der Vegetation auf, verschwindet, wie es aufgetaucht ist.

Es hat nur wenige Augenblicke gedauert. Aber für Mathurine waren sie Tausende wert. Sie dreht sich zu Darwyne, der den Puma noch immer zu sehen scheint, ihm lange, lange durchs Dickicht nachblickt. Dann schaut er zu Mathurine, als wollte er sehen, ob sie nicht zu große Angst hatte. Weil die meisten Städter bei der Begegnung mit einem großen Raubtier aus nächster Nähe starr vor Schreck gewesen wären. Aber Mathurine flüstert:

»Wow.«

Und Darwyne lächelt.

So bleiben sie sekundenlang im Wald stehen, ohne ein Wort zu wechseln, und hängen dem Bild der Raubkatze nach wie einer unauslöschlichen Erinnerung.

»Schön ist es hier, nicht?«, sagt Mathurine schließlich mit leiser Stimme. »Weit weg von allem, weit weg von der Stadt.«

Der Junge nickt stumm.

Und das trifft Mathurine mitten ins Herz. Das ist der Beweis, dass er und sie einander verstehen, irgendwie. Dass sie wirklich etwas gemeinsam haben, sie bildet es sich also nicht bloß ein.

»Manchmal, wenn ich hierherkomme, würde ich am liebsten für immer bleiben«, gesteht sie ihm. »Und ich frage mich, was mich am Ende dazu bringt, zurückzugehen. Ganz schön blöd, was?«

Sie lächelt selbstironisch. Aber Darwyne zuckt die Schultern.

»Weißt du es? Was dich zurückbringt? Was dich immer wieder zurück nach Hause führt?«

»Ja«, erwidert er, ohne nachzudenken. »Meine Mutter.«

»Deine Mutter … natürlich.«

Und in dem folgenden Schweigen wird Mathurine klar, dass sie eifersüchtig ist. Dass sie neidisch ist auf die Liebe, die der Junge für seine Mutter empfindet, sie findet das alles so ungerecht. Sie denkt an ihre IVF-Behandlung, die Spritze gestern Abend, um die Eizellenbildung anzuregen. Sie versucht sich vorzustellen, wer wohl dieses Kind sein wird, das sie in ein paar Wochen vielleicht unter dem Herzen trägt, falls es wie durch ein Wunder gelingt. Sie fragt sich, ob das Kind sie genauso lieben wird, genauso offensichtlich und bedingungslos wie Darwyne Yolanda Massily. Sie schaut ihn an, wie er da im Dschungel steht. Das verschlossene Gesichtchen ohne Anmut; der ungelenke und doch so agile Körper.

Und denkt: Genau so einen Sohn möchte ich haben.

Einen Sohn, den sie mitnehmen würde, damit sie sich gemeinsam in ihren geliebten Amazonas flüchten, nur sie und er, und sie würde ihm beibringen, diese Welt, die anderen Kindern verschlossen ist, ein wenig zu lesen. Einen Sohn, der eines Tages mehr darüber wissen wird als sie selbst, der ihr seinerseits beibringen würde, was sie noch nicht weiß. So wie Darwyne heute. Und sie denkt bei sich, dass sie dieses Kind, von dem sie bisher nur träumen kann, lieben würde.

Ja, sie würde es unendlich lieben.

Je später es wird, desto tiefer dringen sie in den Wald ein.

Und desto mehr verlässt Mathurine sich auf Darwyne.

Er geht schnellen Schrittes voran, die nackten, krummen Füße im toten Laub, sicherer als jeder Wanderführer. Und sie ist hinter ihm, passt sich seinem Rhythmus an. In der ersten Stunde hatte sie den Weg markiert, Zweige umgeknickt, wie beim letzten Mal. Dann hat sie irgendwann aufgehört, ohne wirklich darüber nachzudenken. Geschützt durch das Vertrauen, das sie in ihn hat, die Gewissheit, dass sie sich mit ihm unmöglich verlaufen kann. Und sie vertraut auch der Bindung, die zwischen ihnen entstanden ist, die sie gern für unerschütterlich halten will. Sie kann nur raten, wie er sich orientiert, merkt es daran, wie er nach links und rechts schaut. Wahrscheinlich scannt er Oberflächen und Gewässer, merkt sich vermutlich jeden auffälligen Baum. Aber sie hat das Gefühl, dass da noch mehr ist, Einzelheiten, die nur ihm auffallen, andere Sinne, die er aktiviert, um eine gedankliche Karte dieses Waldabschnitts zu erstellen; Geräusche, Gerüche, Beschaffenheit, sie weiß es nicht. Ab und zu betrachtet sie den schmalen Rücken, das zerzauste, schwarz rötliche Haar, und ihr fällt wieder ein, dass er erst zehn ist, ein Kind, das in einem Slum aufwächst. Und da wird es ihr bewusst. Wenn sie auch nur einen Bruchteil dessen, was sie von ihm gesehen hat, erzählt, würde ihr niemand glauben. Und sie merkt sogar, dass sie gar nicht mehr wissen will, woher er das alles weiß. Freundet sich mit dem Gedanken an, dass seine Fähigkeiten eher angeboren als erlernt sind.

Abseits der ausgewiesenen Pfade und dank ihrer lautlosen Vorgehensweise sowie Darwynes Scharfblick offenbart der Wald sich Mathurine wie selten, zeigt seine verborgenen Seiten. Die Naturforscherin in ihr entdeckt Insekten, Vögel, Säugetiere, erwähnenswerte Pflanzen unter den tausenden Arten, die der Amazonas beheimatet, aber der Junge macht sie auch auf viele Reichtümer aufmerksam, an denen sie vorbeigegangen wäre. Winzige, ungeahnte Tierchen im verwesenden Holz toter Bäume, Epiphyten hoch oben in den Baumkronen, Larven in Wasserlöchern, kaum hörbarer Gesang, der aus den waldigen Tiefen bis zu ihnen dringt, lauter Wunder, die sich ihr eröffnen wie einem Grünschnabel. An ausgesuchten Stellen bleibt er stehen und stößt Geräusche oder Pfiffe aus, manchmal mithilfe einer seiner geschnitzten Lockpfeifen, manchmal nur mit dem Mund und den Stimmorganen, manchmal sogar, indem er Blätter oder Steine aneinander reibt, um zu rascheln, zu knirschen, zu knarren, und jedes Mal taucht danach zuverlässig ein Tier auf. Als hätte er die Gabe, jegliche Tierart herbeizurufen. So ahmt er das Brüllen der Rotgesichtklammeraffen nach, und schon taucht über ihren Köpfen unter Getöse eine Horde auf, sie hängen mit allen Gliedmaßen an den Ästen, inklusive dem Greifschwanz. Und so lockt er weitere Säuger, weitere Vögel bis zu ihnen, Trompetervogel, Arieltukan, Einfarbwürgerling, Rotkehlkarakara. Und an den Bewegungen, den Blicken, den Rufen, die sie dabei beobachtet, könnte man glauben, dass das Kind tatsächlich mit ihnen kommuniziert, in einer den Menschen unbekannten Sprache, magisch und universell. Eine Sprache, die er ihr irgendwann beibringen könnte.

Zweimal kommt es auch zu einer Szene, die sie betroffen macht. Grob läuft es so ab: Darwyne marschiert vor ihr zwischen den Bäumchen durch und späht forschend ins Unterholz. Mit einem Mal erstarrt er, sein Blick wandert zur Seite, bleibt an etwas hängen, das ihrer Ansicht nach weniger als zwanzig Meter entfernt ist, und runzelt die Stirn. Aber er lädt sie nicht ein, die Entdeckung mit ihm zu teilen, nein, er gebietet ihr mit erhobener Hand, stehen zu bleiben. Sosehr Mathurine auch sucht, die Vegetation abscannt, sie sieht nichts, was eine derartige Vorsicht rechtfertigen würde. Sekunden vergehen, er wartet. Und läuft dann einfach weiter, als wäre nichts gewesen.

»Was ist denn, Darwyne?«, fragt sie dann. »Hast du etwas gesehen?«

Und Darwyne erwidert:

»Nein. Kommen Sie, wir gehen weiter.«

Aber sie könnte schwören, dass er lügt.

Und in diesen Momenten galoppiert ihre Phantasie mit ihr davon. Mathurine denkt zunächst an gefährliche Tiere, ein Jaguarweibchen mit Jungen, so etwas in der Art, und das Kind will sie beschützen. Dann beginnt sie zu träumen, denkt an eine unbekannte Tierart, die noch nie offiziell beschrieben wurde, unendliche Vielfalt einer Tier- und Pflanzenwelt, die beständig neu entdeckt wird. Dann denkt sie an rätselhafte Geschöpfe, die noch nie jemand gesichtet hat, an Wald- und Wassergeister und an Ungeheuer in Verkleidung aus den Mythen der Ureinwohner. Lauter unsichtbare Wesen, die Darwyne geheim halten muss, warum auch immer. Und wie sie so durchs Unterholz stapft und von allen Seiten von Bäumen und Tieren umgeben ist, versucht sie nicht einmal mehr, es zu verstehen.

Sie will in diesen einzigartigen Momenten gern glauben, dass die Welt größer ist als angenommen.

Der Tag verstreicht, und sie merkt es nicht einmal. Sie legen Kilometer um Kilometer zurück, wandern Flüsse und Bäche entlang, folgen gewölbten Pfaden über die Hügel, durchqueren Talmulden, Plateaus, Felsensavannen, undurchdringliches Dickicht. Mittags setzt heftiger Regen ein, als Vorbote kommt Wind auf, der das Blätterdach schüttelt, das Wasser rinnt an den Stämmen hinunter und tropft von den Blättern, der Boden saugt sich voll und wird zu Schlamm. Aber das ist kein Grund, ihre Wanderung zu unterbrechen, sie werden kaum langsamer, Darwyne dreht sich nur kurz um und schaut, ob Mathurine noch da ist. Zu keiner Zeit bemerkt sie das geringste Anzeichen von Müdigkeit bei ihm, manchmal wird er mitten an einem steilen Hang sogar schneller, so dass sie ihm kaum hinterherkommt, dabei sind ihre Schenkel einiges gewohnt.

Nur wenige Worte werden unterwegs gewechselt: Darwyne macht selten den Mund auf, und noch viel weniger, um über sich zu reden. Wenn er auf etwas zeigt, sagt er nie ein Wort, nennt weder die wissenschaftliche Bezeichnung, noch gibt er einen Kommentar zum Verhalten, nein, er deutet lediglich. Er deutet, er zeigt, er ahmt nach, das ist seine Art des Teilens. Einer Sache ist Mathurine sich allerdings sicher: Ihm macht es genauso großen Spaß wie ihr. Dass er mit ihr hier ist, gefällt ihm. Vielleicht, weil er sich zum ersten Mal derartig offenbart, das will sie gerne glauben. Man sieht es an seinem Ausdruck, viel entspannter. An dem winzigen Lächeln, das manchmal aufblitzt. Und an seinem Gang. Ja, noch mehr als bei der ersten Exkursion, er hält sich anders. Ganz aufrecht mit vorgestrecktem Brustkorb, unter dem verwaschenen T-Shirt zeichnen sich kleine Brustmuskeln ab. Die Beine stramm und gerade, fast normal, wenn da nicht die nach innen gedrehten Füße wären. Als würde Darwyne hier eher dazu stehen, wie er ist. Als würde er sich in Wahrheit mit seinen Füßen so viel wohler fühlen, anders, als es ihm sicher von jeher eingeredet wurde, von Ärzten, Mutter, Schwester, Lehrern.

Gegen fünfzehn Uhr gelangen sie an einen Sumpf, an dem Kohlpalmen wachsen. Sie umrunden ein gutes Stück, balancieren über umgefallene Baumstämme, dann erklettern sie einen kleinen Hügel. Der Boden ist weich und schlammig, Mathurine rutscht beinahe aus. Sie wird von dem Jungen abgehängt, der vor ihr hergaloppiert, trittsicher die Füße setzt, und sie beschleunigt, um aufzuschließen. Gemeinsam erreichen sie die Anhöhe, machen Rast, Mathurine schöpft Atem. Sie holt tief Luft, Hände auf den Hüften, Kopf gesenkt, starrt auf ihre Wanderschuhe.

Und sagt:

»Aber, Darwyne …«

Sie beugt sich hinunter, um besser sehen zu können, weil sie erst denkt, sie irrt sich.

Geht ein Stück, schaut noch mal, völlig verblüfft.

»Darwyne, schau mal … deine … deine Fußspuren!«

Im Schlamm sind ihrer beiden Spuren deutlich zu erkennen. Ihre eigenen, ein komplexes Muster der verfertigten Sohlen; die des Jungen, nackte Fußsohle und gespreizte Zehen. Nur, dass sie irgendwie falsch herum sind, den Hang hinabzulaufen scheinen statt hinauf.

Als wäre Darwyne in die andere Richtung gegangen.

Und Mathurine wendet sich ihm zu, mustert wieder den kindlichen Körper zwischen den Sträuchern. Und diesmal sieht sie keine Fehlbildung der Unterschenkel, keine krummen Beine, keine nach innen verdrehten Füße.

Nein, die Füße sind verkehrt herum.

Ganz einfach.

Zwei vollkommene Füße, nur eben umgedreht, sie gehen von der Wade nach hinten ab.

In entgegengesetzter Richtung zu den Knien, die ganz normal sind.

Schweigend schauen sie einander an, sie verdutzt und sprachlos, er nun wieder unbehaglich. Fest zusammengepresste Lippen, niedergeschlagene Miene. Er sieht aus, als wäre er sauer auf sich, wäre wütend auf sich selbst. Als hätte er gerade eine ungeheure, kindliche Dummheit zugegeben. Hätte etwas gezeigt, was er für sich behalten muss.

Nun ärgert sich Mathurine über sich selbst.

»Alles in Ordnung, Darwyne?«, fragt sie besorgt.

Und er nickt, ja, geht schon. Und er beugt den Rücken, zieht die Schultern hoch, wird krumm. Und trippelt durch den Humus, dreht in drei Schritten seine Füße wieder nach vorn. Verwandelt sich wieder in die vertraute Gestalt, die täglich in den zerfurchten Straßen von Bois Sec zu sehen ist. Wird wieder zu dem krummen, unauffälligen Darwyne, den alle zu kennen glauben.

»Darwyne, entspann dich. Es ist alles in Ordnung. Ist nicht schlimm.«

Keine Antwort. Der Körper ist mit dem Sicherheitsgurt festgeschnallt, das Kind verliert sich weiter in der vorbeiziehenden Landschaft. Im letzten Tageslicht verschluckt das Auto die weißen Striche der Straße, auf beiden Seiten der Schutzwall des Waldes, dazwischen gerodete Flächen, für Landwirtschaft oder Wohnraum. Vereinzelt Autowracks im Straßengraben, sie haben keine Reifen oder Sitze mehr. Mathurine fährt schnell, sie sitzt im verdreckten Drillich auf dem Fahrersitz und überholt Lastwagen und Bummler: Es ist spät, sie muss Darwyne zur verabredeten Zeit bei seiner Mutter abliefern. Seit der Sache mit den Fußspuren und den umgekehrten Füßen hat er nichts mehr gesagt, hat aufgehört, den Führer zu spielen, hat keine Pfeife mehr benutzt. Die Expedition verlief schweigend, sie gingen langsamer. Und obwohl Mathurine verblüfft war von dem, was sie gesehen hat, von dieser Anatomie, die einer Freakshow würdig gewesen wäre, hat sie keine Fragen gestellt, nein, im Gegenteil, sie hat versucht, ihn aufzumuntern, nach den richtigen Worten gesucht, um das Ganze zu entdramatisieren. Dann hat sie die Zügel der Exkursion übernommen, ihn unterwegs auf ein paar Kuriositäten aufmerksam gemacht, auf ihre Art, etwas rationaler. Aber nichts hatte geholfen. Er war nicht mehr recht dabei gewesen, der Rest des Tages war verdorben.

Beim Fahren wirft sie einen Blick auf seinen Nacken mit den dichten Locken. Fragt sich, was wohl in diesem Moment im Kopf des Kindes vorgeht, ja, denn Darwyne ist nur ein Kind. Er wirkt so unglücklich, so gequält, so verloren, hat sich wieder ganz in seine eigene Welt zurückgezogen. Als ob tausend Fragen auf ihn einstürmen, die sie nur erahnen kann, als ob ihn tausend widerstreitende Gefühle zerreißen. Und ihn so zu sehen, wie er mit seinen kleinen Dämonen kämpft, macht sie traurig. Sehr traurig. Noch vor ein paar Stunden schien er so gelöst.

Sie versucht es anders:

»Vielen, vielen Dank, Darwyne. Das war wirklich ein … Also, für mich jedenfalls war das ein zauberhafter Tag.«

Und da flüstert er endlich, das Gesicht immer noch zum Fenster gedreht:

»Gern geschehen, Madame.«

Drei Worte, die unheimlich viel sagen. Dass es ihm auch gefallen hat. Dass er es trotz allem nicht bereut. Da lächelt Mathurine, dann wuschelt sie mit der rechten Hand durch seine Mähne. Sie könnte tausend Sachen sagen, darauf beharren, wie unglaublich er ist, ihn an seine Einzigartigkeit erinnern.

Aber sie sagt nur:

»Du bist ein toller kleiner Junge, weißt du. Wirklich.«

So, wie sie es zu jedem Kind sagen würde, das sie zu trösten versucht.

Wie sie es vielleicht zu ihrem eigenen Kind sagen würde.

Wieder wird es still im Auto, die Sekunden verstreichen, der Motor läuft auf Hochtouren und rüttelt sie durch. Der Himmel über ihnen ist nur noch eine schwarze, aufgedunsene Decke, Wolkengebirge, die Regen bringen. Sie kommen an einen Kreisverkehr, biegen Richtung Stadt ab, geradliniger Asphalt in einer Savanne. Endlich dreht Darwyne sich nach vorn, starrt auf die Straße, die ihn zu seinem Viertel bringt. Er zögert noch einmal, ehe er spricht.

»Madame?«

»Ja, Darwyne.«

»Kann ich Sie was fragen?«

»Natürlich, nur zu.«

Sie spürt, wie er tief Luft holt, um sich Mut zu machen. Er ist dabei, ein weiteres Geheimnis zu lüften, ein noch größeres vielleicht.

»Finden Sie … also … Finden Sie denn nicht, dass ich ein ekelhaftes kleines Opossum bin?«

»Ein was?!? Wer hat dir denn bloß so was in den Kopf gesetzt?«