Mathurine fährt im Schritt durch die überschwemmte Stadt, die Scheibenwischer arbeiten wie zwei gehetzte Metronome. Im Kofferraum liegt die gepackte Reisetasche. Viel ist es nicht: Kleidung für vier Tage; eine Winterjacke, weil es zu dieser Jahreszeit in Europa kalt sein kann. Und die letzten Spritzen für die Hormonbehandlung in einer Tiefkühltüte. Sie fährt an einer Reihe Wohnsiedlungen vorbei, hinter den Dächern erahnt sie Bois Sec auf dem Hügel, versunken im Himmelsgrau, denkt: Mein Gott, da oben muss alles aufgeweicht sein. Sie hofft, dass es Darwyne gut geht, dass ihm nichts passiert ist, keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Und ihr wird klar, dass sie öfter an ihn denkt als an das Kind, das sie hoffentlich bald in sich tragen wird, sagt sich, dass sie damit aufhören muss, weil es sinnlos ist. Der Hügel verschwindet im Regen.

Bald kommt sie in ein weiteres von Migranten bevölkertes Elendsviertel. Kleiner, dichter besiedelt, weniger bewachsen, eingezwängt zwischen zwei Kanälen nahe des Stadtzentrums. Und zu großen Teilen überschwemmt, wie sie nun feststellt. Der Boden tritt nur vereinzelt in Inselform zum Vorschein, die Bewohner bewegen sich auf einem Brettersystem fort, das auf Ziegelsteinen und Autoreifen ruht. Mathurine seufzt, als sie das sieht, wie die Überlebenden eines Tsunami. So, wie es sich eingeregnet hat, wartet sie nicht mal ab, dass es kurz aufhört: Sie wirft einen Blick auf die Uhr und stellt sich dann den Regentropfen mit einem Schirm. Sie balanciert auf den wackeligen Brücken über den Sumpf, in dem Plastikflaschen und volle Windeln treiben, Haushaltsabfälle, die von der Flut weggeschwemmt werden. Die Baracken stehen dicht an dicht, dazwischen höchstens schmale Gänge, durch die kaum zwei Leute passen und von überlappenden Dächern überdacht sind. Sie betritt sie wie ein Labyrinth, der Schirm streift die Mauern. In den Gassen geht es ums reine Überleben, während sie selbst bald in einem Flugzeug sitzen wird, hoch über den Wolken, aus denen es regnet. Sie denkt: Du hättest nicht zusagen sollen, das Treffen mit dem ehemaligen Stiefvater hätte auch warten können, bis du zurück bist, die IVF hat jetzt Priorität.

Aber gestern am Telefon hat sie okay gesagt.

Hat gesagt, dass sie nicht viel Zeit hat, aber vormittags vorbeischaut.

Wider Erwarten ist die Wegbeschreibung ziemlich präzise, nach dem rosa Laden rechts und an dem Gitter entlang, bis ganz ans Ende, dort ist es. Die Metalltür steht offen, Straße mit Kanalisationsfunktion, zwei Paar Flipflops stehen davor. Mathurine linst hinein.

»Ist da jemand?«

Die Antwort kommt aus dem Halbdunkel.

»Ja, herein mit Ihnen.«

Sie betritt einen zugestellten Raum, die Möbel stapeln sich geradezu. Zwei nebeneinanderstehende Betten, auf einem sitzt ein Mann und schaut auf dem uralten Fernseher ein Fußballspiel. Ohne Ton, vielleicht wird der aber auch nur vom Trommeln des Regens übertönt. Das entspricht ganz und gar nicht Mathurines Bild von dem Stiefvater, der Darwyne mit Ästen verprügelt hat: Der Typ ist dünn und mickrig, hat eingefallene Gesichtszüge, das offene Hemd zeigt vereinzelte weiße Brusthaare. Das rechte Bein ist hoch gelagert, das Knie bandagiert, am Bett lehnt eine Krücke. Eine neue Verletzung.

»Sind Sie Roodney?«, fragt Mathurine.

»Nein, Madame. Ich bin Renald.«

»Entschuldigung, ich dachte … Aber er wohnt doch hier, oder nicht?«

Der Mann nickt. Deutet auf die andere fleckige Matratze ohne Laken:

»Das ist sein Bett, sehen Sie.«

»Ah, okay. Ich hab ihm gesagt, dass ich heute Vormittag vorbeikomme, denken Sie, er ist bald wieder da?«

Die aufgesprungenen Lippen verziehen sich zu einem seltsamen Lächeln.

»Ich weiß nicht. Ich warte auch auf ihn.« (Mit dem Kinn deutet er auf sein Knie.) »Und es wäre mir nicht unrecht, wenn er jetzt wiederkäme.«

Mathurine schaut auf die Uhr, denkt: Ist ja klar, die Leute hier müssen wohl eher selten einen Flug erwischen, von daher sind Uhrzeiten … Sie seufzt, überlegt. Gibt sich zehn Minuten, länger aber nicht.

»Setzen Sie sich, Madame, bleiben Sie nicht da stehen.«

Sie quetscht sich zwischen der Kommode und dem kaputten Kühlschrank durch, zieht einen Plastikhocker auf ein freies Fleckchen. Und wartet eine Weile, schaut das Fußballspiel, der prasselnde Regen auf dem Wellblech dröhnt ihr in den Ohren. Der Verletzte mustert sie eindringlich. Zwischen ihrer beiden Leben liegen Welten.

»Jugendhilfe, ja?«

»Genau«, bestätigt sie von ihrem Höckerchen aus.

Er nickt mit schiefem Mund.

»Ausländer wie wir, interessiert euch das auf einmal?«

Mathurine seufzt:

»Wenn Sie wüssten: Das ist mein täglich Brot.«

»Ihr täglich Brot? Ich hab Sie hier noch nicht so oft gesehen … Meine Meinung ist, dass alle hier Ausländer hassen. Und was aus ihnen wird, interessiert niemanden. Entweder man ist ein Parasit oder … ein Gespenst.«

Sie schweigt, weicht seinem Blick aus: Schwieriges Gespräch in Aussicht. Sie beobachtet, wie eine Nachbarin draußen eine riesige Schüssel aus dem Fenster ihrer Hütte einfach auf die Straße kippt. So viel Regenwasser, dass man nicht mehr weiß, wohin damit, abschöpfen oder untergehen. Aber als der Verletzte sagt:

»Deshalb hat es auch so lange gedauert, wie? Ist ja erst, na, wie lange? Neun, zehn Monate her?«

Da fährt Mathurine herum, Fragezeichen im Blick. Der Typ taxiert sie, freut sich, endlich ihre Aufmerksamkeit zu haben.

»Ich war es«, erklärt er. »Ich hab die Nummer angerufen. Wegen dem Jungen.«

Stille, das muss erst mal sacken.

Darwyne.

Die Meldung, die mit monatelanger Verspätung bei der Behörde eingegangen ist.

Der anonyme Anruf bei der Polizei.

»Wegen Roodney?«, fragt sie daher. »Weil Sie wussten, dass er ihn schlägt?«

Der Mann lacht bitter auf.

»Ha, nein, Madame. Eher wegen seiner gestörten Mutter.«

Mathurine holt tief Luft. Zum ersten Mal redet jemand schlecht über diese Frau, die sonst offenbar von aller Welt für eine Heilige gehalten wird. Der Mann beugt sich vor und kratzt sich das verbundene Knie, verzieht ein wenig das Gesicht.

»Gut, vielleicht hat Roodney ihm ein, zwei Mal eins hinter die Ohren gegeben, dem Bengel, wundern würd’s mich nicht. Aber die Mutter, also, die ist wirklich gestört, kein Vergleich …« (Er schüttelt den Kopf.) »Roodney, der hat mir Sachen erzählt … Ganz ehrlich, wenn ein Kind gehorchen soll, gibt’s mal ein paar drauf, was weiß ich, eins hinter die Löffel ab und zu. Aber die … Nein, was die gemacht hat, das ist nicht richtig, Madame. Das macht man nicht mit einem Kind … Ich hab’s ihm gesagt, Roodney, dass das nicht richtig ist. Aber er wollte nicht hören. Schon allein, bis er’s mir mal erzählt hat, das hat ewig gedauert, ich kann Ihnen sagen.«

Mathurine hängt an seinen Lippen, fühlt sich nicht mehr so allein. Sie und der verletzte Migrant teilen die Zweifel über Yolanda Massilys Erziehungsmethoden.

»Warum wollte er nicht hören?«

Hochgezogene Brauen, erhobene Hände.

»Die Liebe, Madame … die Liebe.«

Liebe, das Wort hört sich in Mathurines Ohren immer seltsam an. Der Mann stützt sich mit den Händen ab und setzt sich richtig aufs Bett, wirft einen Blick auf das laufende Fußballspiel. Und fängt an zu erzählen.

»Roodney und ich sind zusammen in Ihr Land gekommen, schon einige Jahre her jetzt. Wir waren … wir waren wie Brüder, verstehen Sie, wir haben alles zusammen gemacht, haben hier gewohnt, jeder ein Bett. Wir haben auf dem Bau gearbeitet, Kisten geschleppt, hier und da gejobbt … Haben uns einigermaßen durchgeschlagen. Aber als er seine Yolanda kennengelernt hat, also, da hab ich ihn nicht wiedererkannt, meinen Roodney. Hat nur noch von ihr geredet, der war … Als hätte sie ihn verhext, halt. Er ist weg und hat mit ihr zusammengelebt, oben in Bois Sec, einfach so. Aber ich, ich kenne die Frauen ein bisschen, also, ich meine jetzt nicht Sie, aber … also, ich dachte mir halt, dass es nicht lange geht. Hab sein Bett hier behalten, für den Tag, wenn er sie nicht mehr ertragen kann, seine Prinzessin, und zurückkommen will. Wir haben uns noch ab und zu gesehen, auf dem Markt, haben was zusammen gemacht, aber nicht mehr so wie früher.«

Zwei Kinder rennen an der offenen Tür vorbei, geflickte Turnschuhe auf der ausgewaschenen Straße. Es regnet immer noch, immer weiter, ein Hintergrundgeräusch, das anscheinend bis in alle Ewigkeit anhalten will.

»Am Anfang hat mir das nicht gefallen, aber es sah aus, als ob er ganz zufrieden ist mit seinem neuen Leben, Frau und Kind, deshalb hab ich nichts gesagt. Aber nach einer Weile …« (Er räuspert sich.) »Nach einer Weile war’s anscheinend nicht mehr so toll. Roodney war angespannt, irgendwie komisch. Und da hab ich nachgebohrt, er ist schließlich mein Freund. Ich hab ihn gezwungen, mir zu erzählen, was da oben vor sich ging, zwischen Mutter und Kind. Na, und ich hab was gesehen für mein Geld …«

»Und da haben Sie die Polizei angerufen. Viele hätten das einfach auf sich beruhen lassen, wissen Sie. Das ist mutig.«

»Hm … Dafür, was es am Ende eingebracht hat …«

Er blickt nach oben zum vibrierenden Dach. Mathurine sieht ihn jetzt mit anderen Augen. Besorgniserregende Meldungen aus den Migrantenvierteln bekommt die CRIP eher selten, das ist einfach so. Illegale Einwanderer haben andere Sorgen, als ihre Nachbarn zu verpetzen, und meiden in der Regel den Kontakt zu Behörden. Deshalb, ja, das war mutig. Sie schaut auf die Uhr: Viel Zeit bleibt nicht mehr.

Aber er redet weiter:

»Also, ich hab das ja nicht wegen dem Jungen gemacht. Nicht nur, jedenfalls.«

Das lässt Mathurine aufhorchen.

»Wie … wie meinen Sie das?«

»Das war vor allem wegen meinem Freund. Weil’s ihm nicht gut ging, hab ich doch gesagt. Damit sich halt mal was tut. Damit man der Mutter das Kind wegnimmt, ihn in eine andere Familie steckt, das machen Sie doch so, oder?«

»Ja, das heißt, nein, nicht immer, aber … Moment mal, das verstehe ich jetzt nicht. Warum ging es denn Ihrem Freund nicht gut? Ihn hat Yolanda Massily doch nicht misshandelt.«

»Nein, ich glaub nicht. Also, sie nicht. Der Junge allerdings, ich weiß nicht, was der mit ihm gemacht hat, aber …«

»… Wie bitte?!?«

Der Mann bewegt die Lippen, als wollte er die Worte kauen, ehe er sie ausspricht.

»Ich weiß nicht, vielleicht hab ich’s mir auch nur eingebildet, Madame, ja … Aber ganz ehrlich, so hab ich Roodney noch nie erlebt. Er sah ständig besorgt aus, als hätte er vor irgendwas Angst. Ich hab ihn gefragt, was los ist, aber das war nicht so klar, als ob er den Verstand verliert. Hat ständig von dem Jungen geredet, dass der so komisch wär, ihm Angst einjagt, ich hab nicht kapiert, was er meint, ich mein, der ging ihm grade mal bis zum Bauch, der Kleine. Und vom Wald hat er gesprochen, von den Bäumen, Geräuschen, die er nachts hört, und dass er nicht schlafen kann. Ich wusste nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll. Und ich, ich hab ihm gesagt, er muss aus dieser komischen Sache raus mit der Irren und ihrem Kind, das auch nicht viel normaler ist. Dass er wieder hier wohnen soll, dass sein Bett auf ihn wartet. Das war einfach zu ungesund geworden, das Ganze.«

»Ist er deswegen weg? Hat Yolanda verlassen?«

Er schüttelt den Kopf.

»Als ich ihm das zum ersten Mal gesagt hab, wollte er nichts davon hören. War süchtig nach dem Weibsbild. Hat gesagt, dass es vorbeigeht, nur eine schlechte Phase ist. Aber ich hab nicht lockergelassen, hab mir nämlich allmählich Sorgen gemacht um ihn, verstehen Sie. Eines Tages hat er dann endlich zu mir gesagt: Du hast recht. Dass er abhauen will, dass er nicht mehr kann, Schluss, aus. Er hat gesagt: Gib mir ein paar Tage, eine Woche, mehr nicht. Er ist noch mal nach Bois Sec und …«

Er kneift die Augen zusammen.

»… und ich hab ihn nie wiedergesehen.«

Neuerliche Stille, nur unterbrochen vom Brummen eines Motorrads, dass durch das Straßenlabyrinth manövriert.

»Nie?!?«

»Nein, Madame. Seit dem Tag warte ich auf ihn. Sein Bett ist immer noch hier, für den Fall, dass er wieder auftaucht.«

»Wollen Sie damit sagen … dass er verschwunden ist?«

»Ganz genau, ja. Verschwunden. Und niemand hat sich nach ihm erkundigt. Wie ich schon sagte, hier ist es so: Was aus den Ausländern wird, ob sie leben, ob sie sterben, da schert sich keiner drum.«

Er seufzt, wirkt müde, niedergeschlagen vom Leben und vom Regen und der engen Behausung. Mit dem Kopf deutet er zum Fensterbrett, wo ein Handy liegt.

»Das Einzige, was mir von ihm geblieben ist, ist sein Handy. Auf dem Sie angerufen haben.«