Nach tagelangem intensivem Dauerregen ist der Wald nicht mehr derselbe. Von den Wipfeln, die an den Wolken kratzen, bis hinunter zum Humus, der stündlich immer mehr aufweicht wie ein Schwamm, durch alle Etagen rauscht das vom Himmel stürzende Wasser. Die Flüsse haben sich selbstständig gemacht, wabern als miteinander verbundene, wandernde Teiche über die Ufer hinaus, setzen sich über die Regeln von Zusammenflüssen hinweg. Versteckte Fauna erwacht am Fuß der Bäume und in den Ritzen der Stämme, löst die Tiere ab, die sich bis zur nächsten Regenpause verkriechen. Darwyne sitzt im Schneidersitz auf einer Erhebung und nimmt alle Einzelheiten dieser ungeheuren Verwandlung in sich auf. Er hört, wie Stachelschweine und Beuteltiere ganz weit oben das Versteck wechseln. Glaubt zu sehen, wie Skorpione sich unter die Rinde flüchten. Er sieht, wie Pflanzen die Spitzen umbiegen und die Blätter abklappen, winzige Anpassungsstrategien an das neue Klima; bemerkt das kaum merkliche Strecken regennasser Zweige. Und er saugt Gerüche ein, ein Konzert starker, tierischer Ausdünstungen und subtiler Pflanzendüfte wie ein chemischer Dialog. Hunderte Signale, die er eins nach dem anderen entschlüsselt, Sinn für Sinn. Das hat er im Laufe der Jahre gelernt wie eine Muttersprache, eine Sprache mit unendlich vielen Zwischentönen.
Um ihn herum liegen alle möglichen Sachen, die er sorgfältig im nahen Unterholz gesammelt hat. Als Erstes dreht er den Kopf, schaut sich die Wunde an. Und löst ganz vorsichtig die natürliche Kompresse von der bloßen Haut ab, untersucht den Zustand der Verletzung, ein roter Strich quer über der Schulter. Er denkt: Es tut noch weh, das wird noch ein paar Tage wehtun. Aber schau mal, es hat aufgehört zu bluten, die Wunde hat sich nicht infiziert und ist geschlossen. Er nimmt ein paar sorgfältig gesammelte Blätter, die rechts neben ihm bereitliegen, legt sie aufeinander, mischt ein wenig Lehm von den Flussufern darunter. Und stellt einen neuen Verband her, legt ihn auf den Einschnitt und drückt ihn ein wenig fest. Dann nimmt er ein Stück Rinde, das er von einem sogenannten maria congo, einem Geissospermum, abgerissen hat, bricht es entzwei und steckt es sich in den Mund, zwischen Zahnfleisch und Wange. Der bittere Geschmack breitet sich mit aller Macht in ihm aus, er verzieht das Gesicht, schüttelt sich. Aber er lutscht eifrig. Gegen das Fieber. Schließlich isst er etwas: ein paar Früchte von Palmen und Schwarzmundgewächsen, süße Beeren, deren Saft er aussaugt. Und zwei dicke, in verfaulten Baumstümpfen aufgestöberte Rüsselkäferlarven, weiße Palmwürmer voller Protein, die beim Kauen aufplatzen.
Er wandert schon einige Tage durch den Wald, geht nicht mehr nach Hause, hier im Unterholz pflegt er seinen Körper und seine Seele. Das musste einfach sein, nach dem, was passiert ist: Sobald er konnte, ist er unter den Augen der erstarrten Erwachsenen in den Wald entwischt. Hat die Flucht ergriffen wie ein in die Enge getriebenes Tier, Dreckig-widerlich-Makake-Opossum-Pekari. Wieder einmal hat der Schoß des Amazonas ihn aufgenommen, weil hier alles besser ist, weil hier alles anders ist. Weil er hier wirklich er selbst ist, wie es scheint. Ein anderer Darwyne, es ist leichter, einfach zu sein. Seine Kleidung ist kaum wiederzuerkennen, braun und nass und zerrissen, er streckt die Beine auf dem Waldboden aus.
Und mustert seine vollkommen umgekehrten Füße.
Die Ferse genau unterm Knie.
Er kratzt sich den Schlamm von den Zehen, die von der Wade weg nach hinten zeigen.
Spreizt sie auseinander, damit die toten Blätter ihm die Zehenglieder kitzeln.
Die Mutter würde das nicht gern sehen, das ist gewiss, sie wäre verstimmt, sehr, sehr, sehr verstimmt. Er kann sich nur vorstellen, was sie sagen würde, so etwas wie: Du bist schlimmer als ein Opossum, eigentlich bist du ein Ungeheuer, Darwyne. Ein verdammtes Drecksding von widerlichem Ungeheuer. Ja, irgendetwas in der Art würde sie sagen, das ist gewiss. Klar, sie hat ja auch in zehn Jahren alles versucht, alles getan, um ihn wieder zu richten, diese Füße, er weiß selbst nicht mehr so genau, wie viele Behandlungen er über sich ergehen lassen musste, damit er den anderen gleicht. Aber nichts zu machen: Er findet seine Füße so herum besser. Bequemer. Und auch geeigneter, um durch den Wald zu laufen. So viel besser, dass er manchmal denkt, vielleicht sind die anderen ja in Wahrheit verkehrt herum.
Er steht auf, gerader Rücken, Brustkorb raus, dünne Beine. Bewegt vorsichtig die schmerzende Schulter, verzieht ein wenig das Gesicht. Auf einer Wurzel entdeckt er eine Saumfingerechse und packt sie, verschlingt sie in einem Happs, den Kopf voran, das bildet den Abschluss seiner Mahlzeit. Und setzt sich im Regen, der weiterhin aus den Wipfeln fällt, in Bewegung. Mit einem Satz springt er von seinem Inselchen auf einen umgefallenen Baumstamm, der ein paar Meter weiter aus den Fluten ragt. Watet durchs trübe Wasser, das ihm bis zu den Oberschenkeln geht. Zieht sich mit den Armen hoch, hängt sich an tiefe Zweige.
Und sobald er festeren Boden erreicht hat, zieht er das Tempo an. Er rennt durch den Dschungel, mit umgekehrten Füßen, rennt durch tote Blätter und Schlamm. Springt über Hindernisse, Knäuel aus verworrenem Windbruch, den Bau von Riesengürteltieren, riesige Vorberge, schlüpft zwischen steinigem Untergrund und dem Flechtwerk der Lianen hindurch, nichts kann ihn aufhalten. Manchmal verlässt er den Boden, schwingt sich unverändert schnell über nasse Balken, benutzt die Arme, springt von Baum zu Baum, wenn neue Teiche alles überschwemmen. Darwyne weiß, dass ihm in dem Tempo niemand folgen kann, nicht mal die Frau von der Jugendhilfe, obwohl sie Ausdauer hat, aber selbst sie wäre weit hinter ihm, so schnell ist er bei seinem Lauf. Eine Gewandtheit, die sich mit den Jahren entwickelt hat, mit jedem Ausflug. Und ihm gefällt das, Seite an Seite mit den Tieren durch den Wald spritzen, die er in vollem Lauf bemerkt. Die paar wenigen, die die Frau in ihrem komischen Buch hatte, auf Papier erstarrt und nicht besonders echt. Aber auch all die anderen, von denen er noch nie gesprochen hat; die, die sich nur ihm zeigen; die, von denen er manchmal glaubt, dass sie nur in seiner Fantasie existieren, so unsichtbar scheinen sie. Und als er über einen Haufen Wurzeln springt, denkt er, dass die Mutter recht hat, dass er kein richtiger kleiner Junge ist, sondern eins dieser Tiere, eine eigene Spezies, ein Zweibeiner mit umgekehrten Füßen, der Einzige seiner Art. Und der Gedanke, das merkt er jetzt, gefällt ihm, er schützt ihn vor den Blicken in der Stadt, die machen, dass er sich zusammenkauert und die Füße verdreht, um menschlicher zu wirken.
Aber Darwyne weiß, dass er wohl bald nach Hause muss.
Dass er unmöglich hierbleiben kann, irgendwann muss er immer nach Hause. Weil dort, ganz dort hinten im petit carbet, wartet die Mutter auf ihn, macht sich Sorgen, weil er weg ist. Denn: Du weißt doch, kleines Opossum, dass du nicht ohne sie leben kannst, dass sie alles für dich ist, dass nur sie weiß, wie man mit dir umgehen muss, hm, bild dir bloß nichts ein. Und dort hinten ist auch Stiefvater Acht, der, der dir seine Machete in die Schulter gerammt hat. Darwyne denkt ununterbrochen an die Szene, hat sie in allen Albträumen der letzten Nächte aufs Neue durchlebt, wieder und wieder und wieder. Er denkt: Du hattest recht, von Anfang an, schon an dem Sonntag, wo er mit seiner Sense angekommen ist. Da wusste er bereits, dass dieser Stiefvater wie alle anderen ist, eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht, und am Ende vielleicht sogar schlimmer. Er denkt bei sich, dass es nun wieder von vorne losgeht, wie er es vorausgesehen hat, wie jedes Mal, wenn die Mutter einen Mann in ihrer beider Leben bringt. Er denkt, dass der Machetenhieb das letzte Zeichen war. Na, bitte, kleines Opossum, es ist an der Zeit.
An der Zeit, zu tun, was immer getan werden muss mit den Stiefvätern.
Mit allen Erwachsenen, die ihn von der Mutter trennen wollen.
Und als er über einen Flussarm springt, stürmen die Bilder auf ihn ein. Bilder, die er nicht mag, brutal und unangenehm und hartnäckig. Schmachtende, gekrümmte Gestalten im Dunkeln. Entsetzensschreie in der Dämmerung. Schwerer Atem. Erbrochenes auf der schwarzen Erde, ja, auch das ist schon passiert. Und das Warten, über Tage und Nächte, denn was getan werden muss, braucht seine Zeit, sehr viel Zeit, das wird ihm jedes Mal aufs Neue klar. Und weil sich bei diesen Bildern seine Stirn in Falten legt, beschwört er andere herauf, die nicht so schwer zu ertragen sind. Er denkt an die Zeiten dazwischen, an die Zipfelchen Leben, in denen die Mutter keinen Mann an der Seite und er sie ganz für sich alleine hatte. Und der Gedanke tut ihm gut, also hält er sich daran fest, um sich Mut zu machen. Redet sich ein, dass das Leben in diesen Zeiten für ihn schöner, die Mutter anders war. Und verbannt die Möglichkeit, dass all das nur ein Traum sein könnte. Eine idealisierte Nachbildung in seinem Kindergedächtnis.
Nein, nein, nein, das gab es wirklich.
Und das kann es wieder geben.
Das wird es wieder geben.
Sehr bald.
Genauso vermeidet es Darwyne, an die Worte der Frau von der Jugendhilfe neulich im Auto zu denken. Hundertmal hat er sich verflucht, weil er erzählt hatte, was doch zwischen ihm und der Mutter bleiben sollte. Warum hast du den Mund aufgemacht, dreckiger Makake? Du wusstest doch genau, dass sie das nicht verstehen kann. Aber jetzt ist es zu spät, Pech. Und dieses Gespräch würde er am liebsten vergessen können, ja, das wäre viel einfacher, aber nichts zu machen, ständig bringt es in seinem Kopf alles wieder in Unordnung. Angeblich dürfe die Mutter nicht zu ihm sagen, er sei widerlich, das sei nicht besonders nett, so etwas zu seinem Sohn zu sagen, und überhaupt stimme das sowieso nicht, er sei nämlich unglaublich. Und auch ein paar von den Sachen, die er der Frau erzählt hat, dürfe sie nicht machen, Messer, Pfefferschoten, Ameisen, und andere. Das dürfe man einem Kind auch nicht antun.
Das sei Misshandlung.
Sie irrt sich, sie irrt sich, sie irrt sich, redet Darwyne sich ein, während er weiter durch den Wald rennt.
Die Frau will vielleicht dein Bestes, ja, doch, das ist möglich, aber sie weiß ja nicht, was für ein widerliches Drecksvieh du eigentlich bist. Sie weiß nicht, dass du böse bist. Sie weiß nicht, dass du ohne das Messer nie deine Hausaufgaben machen würdest, dass die Mutter das tut, um dir zu helfen, wie sie es immer gemacht hat, weil nur sie allein weiß, wie das geht. Denn die Mutter, auch wenn du ihr Schande machst, hat sich krummgelegt, um dich zu richten. Denn die Mutter, auch wenn sie es dir nie sagt, hat dich lieb, kleines Opossum. Ja, sie hat Liebe für Gott, und für Ladymia, für ihre Männer, aber sie hat auch welche für dich.
Das muss ja so sein.
Und eines Tages wird sie es dir sagen.
Ja, eines Tages sagt sie zu dir genau die gleichen Worte wie zu deiner Schwester.
Darwyne erklettert einen glitschigen Felsen, setzt Hände und Füße geschickt in die Risse. Hüpft auf eine schlammige Böschung, schwingt sich mit ein paar geschmeidigen Sprüngen bis nach oben.
Und steht wieder am Fuß seines Baumes.
Der, unter dem er all seine Schätze vergräbt.
Er schlüpft zwischen die riesigen Stützpfeiler, ewig nasses, filigranes Muster, gelangt zum Fundament des Baumriesen, wühlt in den Überbleibseln organischer Materie, schwarze, verfaulte Späne, aufgequollen vom nicht enden wollenden Regen. Er holt den ganzen Krimskrams hervor, in seinen Augen sind das Kostbarkeiten, methodisch ausgesucht. Manche roh und massiv, andere bereits bearbeitet, poliert, ausgehöhlt, behauen. Er reiht sie auf einer Baumwurzel auf, schaut eins nach dem anderen an. Und versucht, klarer zu sehen in seinen Gedanken, die verworren sind wie die Netze von tausend Spinnen. Versucht, das Gefühl zu vertreiben, das sich in ihm einnisten will, obwohl es da nichts zu suchen hat. Ein Gefühl, das er schrecklich und dumm und verboten findet, aber er trägt es vielleicht schon eine Weile uneingestanden mit sich herum. Die Möglichkeit nämlich, dass sein, Darwynes, Problem gar nicht von den acht Stiefvätern und der Jugendhilfe kommt.
Vielleicht ist an allem, was ihm passiert, die Mutter schuld.