Das Hotel ist asketisch, das Zimmer klein, aber es liegt direkt am Krankenhaus, das war beim ersten Mal für Mathurine ausschlaggebend. Inzwischen hat sie als Stammgast ihre Gewohnheiten, kennt das Empfangspersonal sogar mit Vornamen. Die Stadt liegt in der Sonne, alles ist trocken und intakt; als sie heute Morgen ankam, war der Kontrast nach dem tagelangen amazonischen Regen auf der anderen Seite des Ozeans spürbar. Aber sie hat nicht vor, es zu genießen, nein, diesmal nicht. Hat das Gefühl, bereits alles gesehen zu haben, Sehenswürdigkeiten und Geschäfte erinnern zu sehr an ihre drei gescheiterten IVF-Versuche. Wahrscheinlich wird sie das Zimmer in den vier Tagen kaum verlassen. Sie liegt mit einem Kissen unterm Kopf auf dem Doppelbett und schaut auf die Uhr: noch zehn Minuten. Ab jetzt hat sie einen stündlichen Zeitplan einzuhalten, und die geringste Verspätung kann das ganze Verfahren ins Wanken bringen, das weiß sie so gut wie die Ärzte.
Sie holt tief Luft, versucht, sich zu entspannen. Lampenfieber, Nervosität, Angst, wie jedes Mal. Morgen um Punkt acht Uhr ist der Termin für die Follikelpunktion, die sensibelste Etappe. Und die unangenehmste: Die ersten Male hatte sie auf die Betäubung verzichtet, und die Erinnerung an die lange Nadel, die durch die Scheidenwand ihre Eizellen absaugte, hat sich bei ihr eingebrannt wie ein leichtes Trauma. Von daher: Nein, danke, diesmal hat sie sich für die Vollnarkose entschieden. Aber das ist auch nicht gerade vertrauenerweckender.
Sie starrt an die graue Decke und fragt sich, ob das alles überhaupt einen Sinn hat, was sie da macht, warum tut sie sich diese ganzen Torturen an, die so viel gekostet haben, Zeit, Geld, Schlaf, Lügen. Sie denkt wieder an die Frauen, die sich gegen Kinder entschieden haben und offen dazu stehen, eingehüllt in ihre feministischen Reden, ihre ach so kostbare Freiheit, ihre ökologischen Überzeugungen. Weil, wissen Sie, ein Kind bedeutet mehr Verschmutzung, mehr Konsum, es gibt nichts Schlimmeres für den Planeten. Mathurine versucht wieder einmal, sich einzureden, dass auch sie so sein, sich den stets plausibleren Argumenten anschließen könnte, weil die Welt sich weiterentwickelt, weil man heutzutage Frau sein kann, ohne Mutter sein zu müssen. Das wäre so viel einfacher, denkt sie. Und in der Sekunde darauf begreift sie, dass sie sich diese Argumentation bereits tausend Mal aufgesagt hat und immer beim selben Ergebnis gelandet ist: Ein Leben ohne einen Sohn oder eine Tochter, mit dem Gefühl, dass der Rest der Welt sich weiterdreht, während sie selbst auf der Stelle tritt, das kann sie sich nicht vorstellen. Ihr ist es herzlich egal, ob es am Mutterinstinkt liegt oder am sozialen Druck, der angeblich seit Menschengedenken auf den Frauen lastet und von dem man sich allmählich mal frei machen sollte: Monat um Monat vergeht, und ihr Wunsch ist immer noch da, tief in ihr. Krallt sich fest wie eine Scheißzecke.
Dabei ist sie sich bewusst, dass die Erfolgsaussichten dieses letzten Versuchs verschwindend gering sind und es keinen fünften geben wird. Wenn der Bluttest in zwei Wochen keine Schwangerschaft anzeigt, muss sie es hinnehmen. Sich verdammt noch mal damit abfinden, wie der Arzt bereits empfohlen hat. Deshalb zwingt sie sich, es in Betracht zu ziehen, trotz allem. Sagt sich, dass sie stark sein, Möglichkeiten finden muss, sich ein anderes Leben zu gestalten als das erträumte. Und auch wenn sie genau weiß, wie absurd das ist, muss sie wieder an Darwyne denken, an die Möglichkeit, die Mutter abzulösen, wo sie doch selbst zugibt, dass sie ihn nie geliebt hat. Und das Vorhaben setzt sich fest, als unsinnige Alternative, die sie aber immerhin etwas tröstet. Sie denkt wieder an das ökologische Argument, dass es für den Planeten nichts Schlimmeres gibt als Kinder, und sie denkt: Nein, die täuschen sich, die täuschen sich. Ein Kind wie Darwyne ist im Gegenteil das Beste, was der Planet sich erhoffen kann, um sich von dem zu erholen, was die Menschen ihm angetan haben, um die gekappten Verbindungen mit der Tier- und Pflanzenwelt wiederherzustellen, sichtbare und unsichtbare. Und sie denkt wieder, dass sie genau dieses Kind mit seinem seltsamen Gesichtchen und den verfilzten Haaren, mit den umgedrehten Füßen eines Zirkusfreaks, die er tunlichst zu verstecken sucht, gernhaben will.
Nur dass in dem Idealbild jetzt ein Schatten aufgetaucht ist, und Mathurine weiß nicht, wohin damit.
Roodneys Verschwinden.
Der ehemalige Stiefvater.
Sie tut alles, um nicht daran denken zu müssen, der Erzählung des Migranten vorgestern in seiner winzigen Bude nicht zu viel Glauben zu schenken. Du hast grade andere Sorgen, als dir das Hirn mit weiteren Fragen zu zermartern, du musst dich jetzt entspannen, entspannen und auf den Eingriff vorbereiten. Sie erfindet äußerst rationale Erklärungen, sagt sich, dass der bestimmt zurück in sein Heimatland gegangen ist, wie Yolanda Massily meinte, dass er es seinem Freund, der im Übrigen vielleicht gar keiner ist, vielleicht nur nicht erzählen wollte. Nichts zu machen: Der Eindruck, dass da noch etwas anderes dahintersteckt, dass dieses nie gemeldete Verschwinden mit Darwyne zu tun hat, mit dem, was sie über ihn weiß, was sie an seiner Seite erlebt hat, dieser Eindruck bleibt unwillkürlich hängen. Es arbeitet in ihrem Kopf.
Blick auf die Uhr: Genau einundzwanzig Uhr, vergiss nicht, warum du hier bist. Sie steht auf, geht zu dem Minikühlschrank des Hotelzimmers. Holt die Schachtel heraus, die sie gleich bei ihrer Ankunft hineingelegt hat. Und mit hochgezogenem Pullover packt sie eine Bauchfalte und spritzt sich ein letztes Mal. Ovitrelle: ein Medikament auf Basis künstlicher Hormone, das einen Eisprung auslöst. Den Countdown vor der Punktion einleiten. Dann zieht Mathurine sich aus und duscht, wie ihr das Krankenhaussekretariat am Vortag noch einmal eingeschärft hat, mit Betadine. Haare, Körper, Intimbereich, sie desinfiziert sich komplett mit der bräunlichen Flüssigkeit, die an zu dunkles Blut erinnert. Und während sie sich abschrubbt, denkt sie bei sich, dass sie am liebsten auch ein bisschen in ihren Schädel kippen würde. Das Hirn von all den blöden Gedanken reinigen, die es verpesten.