Mit der Zeit hat der Regen sich als neue Normalität durchgesetzt, wird nicht einmal mehr vom kleinsten Aufreißen der Wolkendecke unterbrochen. Bois Sec hat sich an das Trommeln auf den Wellblechdächern über bedrückten Gesichtern gewöhnt, an das Tröpfeln auf Möbel und Betten durch Ritzen, die zu hartnäckig sind, als dass man sie reparieren könnte; hat sich gewöhnt an die ständige Feuchtigkeit, aufgequollenes Holz, nie ganz trockene Kleidung, feuchte Bettlaken auf schimmelig riechenden Matratzen. Niemand beschwert sich mehr, inzwischen begnügt man sich damit, instand zu halten, was noch instand zu halten ist, Notfallreparaturen, bis die Sintflut vorübergeht. Denn das wird ja wohl eines Tages wieder aufhören, diese vom Himmel herabgestiegene Hölle, oder?, ruft man sich von Fenster zu Fenster zu. Aber dass es noch schlimmer werden könnte, damit hat keiner im Slum gerechnet.

Mitten in der Nacht schreckt Jhonson von einem Schrei hoch, einem Schrei, der von einem dumpfen, heftigen Grollen begleitet wird. Er sitzt sofort kerzengerade, aus Träumen gerissen, die er schnell verscheucht, lohnt nicht, etwas aus den ständigen Albträumen zu retten. Er setzt sich aufs Bett, das Zimmer stockdunkel, die Laken zerwühlt, und wischt sich die Tropfen von der nackten Schulter. Da wird immer noch geschrien, weit weg von der Hütte, weiter unten im Viertel, wie es sich anhört. Männer, Frauen. Ein Gewirr aus durcheinanderrufenden Stimmen, voller Entsetzen, so klingt es jedenfalls. Jhonson denkt: Herr im Himmel, was zum Teufel ist denn da los?

»Yolanda?«, fragt er. »Hast du das gehört?«

Keine Antwort: Seine Liebste liegt in den zerknautschten Laken auf der Seite und schläft tief und fest, träumt wer weiß was, fern der Qual der letzten Tage. Der Stiefvater schüttelt den Kopf, wird ein bisschen munterer. Draußen herrscht richtiger Krach, da passiert was Schlimmes, denkt er. Und probiert es wieder:

»Hey, Yolanda.«

Und er rüttelt sanft die feminine Gestalt im Nachtpareo.

»Hmmm …«, brummt sie.

»Wach auf, draußen ist irgendwas.«

Neuerliches Poltern, das Geräusch erinnert an zusammengedrücktes Blech: Nun setzt sich auch Yolanda auf, starrt verängstigt ins Dunkel.

»Was ist das?«

»Keine Ahnung.«

Aber sie müssen aufstehen. Nachsehen. Er stellt sich hin, packt sie am Handgelenk und sagt:

»Komm.«

Und sie tasten sich, wie sie sind, an den Sperrholzwänden ins andere Zimmer. Der Junge ist nicht da, natürlich nicht, seit Tagen verschwunden, seit dem Machetenhieb, und inzwischen bestimmt tot. Da ist nichts als die Nacht, die das ganze Wohnzimmer geschluckt zu haben scheint. Jhonson positioniert sich im Türrahmen, schiebt den Vorhang beiseite. Draußen ist es trostlos, das Grundstück wird ununterbrochen vom Regen gewaschen. Man sieht ein bisschen mehr: die Silhouette der Wäscheleine, der Bürosessel, dessen Kunstleder nun endgültig ruiniert ist. Und Bäume, weiter hinten, senkrecht und riesig.

»Hier ist nichts«, meint Yolanda. »Das ist draußen.«

Und will sich schon wieder schlafen legen.

Ist nicht ihr Problem, sie hat genug eigene.

Aber als das Beben spürbar wird, erstarrt sie, und Jhonson ebenfalls.

Der Stiefvater glaubt zunächst, es sei nur das Dach, das ein bisschen stärker vibriert, weil der Regen heftiger wird, das passiert manchmal. Aber gleich darauf hört er wieder die Schreie, vor allem die eines Mannes, unterdrückt, aber er ruft: »Achtung, es ist noch nicht vorbei!« Und diesmal merkt Jhonson, dass das ganze Hüttchen ächzt, Wände und Möbel und die Küchenecke, alles bewegt sich und grollt auf beunruhigende Weise. Er späht nach den Balken, die alles tragen, ahnt, dass sie leiden, die Struktur ist beschädigt, und da sieht er die Baracke so, wie sie wirklich ist. Ein Haufen Metall und Holz und Bruchsteine in einem fragilen Gleichgewicht, jedem gesunden Menschenverstand zum Trotz und von Stümpern zusammengestückelt. Material, das schon vor der Verwendung faulte, angenagt von Insekten und der überall eindringenden Vegetation. Und Jhonson ahnt, dass diesmal nicht bloß ein Stück Vordach kaputtgehen wird. Nein, das ganze Konstrukt fällt gleich in sich zusammen, wird von etwas Ernsterem erschüttert als vom ununterbrochenen Regen.

Instinktiv zieht er Yolanda am Arm mit sich nach draußen, barfuß stehen sie auf dem matschigen Grundstück, mit einem Schlag durchweicht vom heftigen Regen.

Und er entfernt sich von der kleinen Hütte, die immer noch ächzt, lässt sie nicht aus den Augen.

Er geht rückwärts, Yolanda drückt sich an ihn.

Und als die Tragödie passiert, denkt er, dass er vielleicht wieder in einem Albtraum gefangen ist. Er kann unmöglich glauben, was er im nächtlichen Dunkel nur erahnt. Die Bruchbude fällt nicht einfach nur zusammen, nein, er hat eher den Eindruck, sie wird mitgerissen. Ja, genau: Einige Meter vor ihnen kippt die Hütte nach hinten, es sieht aus wie in Zeitlupe, weil es so unwirklich scheint. Wände und Dach und Fenster scheinen sich zu verformen, als würde ein unsichtbarer Riese sie verbiegen. Jhonson und Yolanda hören, wie drinnen die Möbel aneinanderrumpeln, der Kühlschrank gegen die Spüle fällt, das Sofa gegen den Schrank, die schweren, bedeutungslos gewordenen Gegenstände schlagen Purzelbäume. Und mit ohrenbetäubendem Gepolter spült es das Hüttchen regelrecht den Hang hinunter. Und bei seinem Sturz reißt es die gesamte Grundstücksfassade mit sich: das Tor, die gegossene und im Erdboden verankerte Betonschwelle, die Plastikstühle, die dort standen, der umgedrehte, ausgeschlachtete Kühlschrank, alles wird mit ungeheurer Wucht aus der Erde gerissen, alles wird in einer gewaltigen Woge fortgespült.

Und es mutet an wie der Anfang einer Apokalypse.

»Mein Gott …«, flüstert Yolanda, eine Hand vor dem Mund.

Jhonson weicht noch weiter zurück, mit ihr gemeinsam. Und als er erneut Menschen schreien hört, die allerorts gleichzeitig das Ende der Welt ausrufen, errät er, dass es noch weitere Katastrophen gegeben hat, weitere Risse, weitere weggerissene Baracken. Als würde Bois Sec vor seinen Augen sterben, als wäre der Slum selbst zu einem Erdrutsch geworden, der mit furchtbarem Getöse aus zusammengefalteten Trümmern den Berg hinunterrast, Hütten und Baracken beiseitefegt wie Teile eines riesigen Modells. Und weil der Boden unter ihnen ebenfalls bebt, fürchtet Jhonson, dass der ebenfalls nachgeben wird, und so zieht er Yolanda mit sich Richtung Dschungel, springt mit ein paar Sätzen in die Holzabfälle. Denn die Erde hier fühlt sich fester an, wird von den Wurzeln der noch nicht gefällten Bäume gehalten. Und während die Aststümpfe ringsumher ihnen die Waden zerkratzen, warten sie, dass die Katastrophe aufhört.

Ohnmächtig und erstarrt und nass.

Das Grollen dauert sekundenlang an, die verzweifelten Schreie noch ein wenig länger, im Chaos verstreute Menschen, tot, lebendig, unmöglich zu erkennen. Jhonson und Yolanda warten Minuten, die sich wie Stunden anfühlen. Und bald wird das Ganze von Stille abgelöst, das Hintergrundrauschen des Regens ist wieder da, als wäre nichts geschehen. Und die beiden Liebenden stehen im Gestrüpp, er in Unterhose, sie im Pareo, am Rande eines ungeheuren Nichts, ein schwarzer, undurchdringlicher Schlund, der sich bis weit vor ihnen erstreckt. Und dahinter die Stadt, die echte Stadt, von Architekten massiv auf festerem Untergrund errichtet, ein paar Lichter hier und da, die vom offiziellen Teil des Stromnetzes versorgt werden.

Sie warten noch ein wenig, trampeln auf Blättern und im Schlamm herum, Überlebende auf ihrem Aussichtspunkt. Sie wechseln kein Wort, starr vor Angst, unter Schock, die Sinne verwirrt. Vor ihnen gibt es keinen Weg, kein Viertel, keine Gassen, keine Rinnen mehr, um hinunter auf die Straße zu gelangen. Nichts als eine klaffende Wunde, in der sich der Schutt anhäuft, Relikte einer Welt, die gerade erst verschluckt wurde. Da lässt Jhonson Yolandas Handgelenk los und dreht sich zum Wald um. Er sieht hinauf zu den Bäumen, die vor ihm aufragen wie unbesiegbare Krieger, die niemals zurückweichen, bei dem Crash aufrecht geblieben sind. Die Wipfel zeichnen sich in einer zerklüfteten Linie vor dem schwarzen Himmel ab. Und aus dem Unterholz dringen die Laute des Dschungels zu Jhonson, die nächtliche Fauna ist den Qualen der Menschen gegenüber gleichgültig. Fremdes Pfeifen, heiseres, dumpfes Brüllen, ferne Schreie, seltsames Heulen. Er erkennt kein einziges, von dieser Welt versteht er nichts, aber sonderbarerweise findet er sie nach dem, was er gerade gehört und gesehen hat, beinahe einladend, all die Geräusche.

Als ob sie ihn zu sich rufen.

Damit er eine Zuflucht findet in dieser Welt, die stabiler ist als jeder Slum; die er stets als seinen Feind gesehen hat, die abgeholzt, bekämpft, gerichtet werden muss.

Als ob sie ihn locken würde.

Jhonson dreht sich um, schaut die stumme Yolanda zu seiner Rechten an. Und ihm ist, als ob ihr gerade ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen. Verwirrt und unter Schock erwägt sie es ebenfalls, denn Bois Sec existiert nicht mehr. Und in einer fließenden Bewegung wenden sie sich um, machen sich auf in den Wald, steigen über Baumstämme und dornige Sträucher. Spärlich bekleidet, das verwüstete Viertel im Rücken, hinein in den Amazonas.