Vierundzwanzig Stunden sind vergangen, seit dem Erdrutsch fast vierzig. Im Radio, im Fernsehen spricht man von nichts anderem, von dieser Katastrophe, die der Gegend wie eine Wunde im Gedächtnis bleiben wird, man sucht nach Verantwortlichen, Abgeordnete, der Staat, Vereine, die die illegal errichteten Siedlungen billigend in Kauf genommen haben. Die Suche ging weiter, es wurden Leichen gefunden, Männer, Frauen und Kinder, die nicht allzu übel zugerichteten sind identifiziert worden. Auch ein paar Leben wurden gerettet, ein Mädchen, das unverletzt unter den Trümmern eingeklemmt war, ein Wunder, das man sich erzählt, um das Ausmaß der menschlichen Verluste ein wenig zu vergessen, damit man trotz allem »Danke, Herr« sagen kann.

Mathurine war noch nicht wieder im Büro, kann sich im Moment unmöglich ihren Evaluationen widmen. Sie hat nur einen Gedanken: Darwyne. Sie redet sich ein, der Junge sei noch am Leben, wurde nicht von dem Erdrutsch mitgerissen. Ja, er lebt noch, ganz sicher, sagt sie sich immer wieder. Denn laut seiner Schwester war er in den Wald gelaufen, lange vor dem Unglück. Und außerdem weiß Mathurine, dass Darwyne im Wald einfach nicht sterben kann, nein, unmöglich. Sie weiß, dass er sich orientiert, zurechtkommt, zu essen und einen Schlafplatz findet. Auch über mehrere Tage, redet sie sich ein. Denn im Wald ist er in seinem Element, ganz egal, was Ladymia denkt. In Wahrheit ist das der Ort, wo er am sichersten ist.

Gestern Abend hat sie sich auf den Hügel von Bois Sec hinaufgewagt, ist bis ganz nach oben gestiegen, immer am Rand des Abgrunds entlang, der durch den Erdrutsch entstanden ist. Sie hat nach Spuren von ihm gesucht, im Unterholz seinen Namen geschrien. Bei Einbruch der Dunkelheit ist sie wieder hinuntergestiegen, hat sich gesagt, dass er sicher weiter weg ist und nicht in diesem stark frequentierten Abschnitt des Dschungels am Stadtrand. Und nun fährt Mathurine mit dem Auto die Straßen der Umgebung ab, die, die am Waldrand entlangführen, eine Grenze aus Asphalt zwischen Stadt und Dschungel. Sie phantasiert, wie sie Darwyne nach einer Kurve auftauchen sieht. Sie hat nicht vergessen, was er einmal zu ihr gesagt hat, dass er wegen seiner Mutter stets von seinen Waldausflügen zurückkehrt, wegen ihr allein. Weil Yolanda Massily wahrscheinlich zu den Opfern des Erdrutsches gehört, schießt Mathurine immer mal wieder durch den Kopf, dass Darwyne jetzt vielleicht nie wieder zurückkommt. Aber sie sucht trotzdem nach ihm.

Träumt, dass er trotz allem zurückkommt.

Diesmal aber ihretwegen.

Und sie kann nicht anders, denkt: Ich werde für dich da sein, mich um dich kümmern, deine Wunden verbinden. Ich werde dir bei der Trauerarbeit helfen, damit du die Mutter, die dich misshandelt hat, hinter dir lassen kannst. Und wir werden niemals über die Sozialarbeiterin oder über Roodney reden, und auch nicht über deine anderen Stiefväter.

Egal, was du getan hast.

Auch dieses Geheimnis werde ich bewahren.

Sie ist die Straßen schon mehr als zehnmal abgefahren, immer um das für die Öffentlichkeit gesperrte, noch hochgradig gefährdete Gebiet herum. Als der Tag sich dem Ende zuneigt, denkt sie: Du findest ihn nicht, nicht heute, vergiss es. Dennoch sucht sie weiter, fährt noch einmal an den Einkaufszentren vorbei, an den Verkaufsständen, an behelfsmäßigen Friseursalons unter verrosteten Dächern, den Blick auf das winzigste Fleckchen Wald zwischen zwei Gebäuden gerichtet. Als es dunkler wird, macht sie die Scheinwerfer an, fährt immer weiter, fast schon mechanisch, die Strecke ist wie ein Unendlichkeitszeichen, aus dem sie nicht mehr herausfindet. Sie kommt an einem Grüppchen aus vier, fünf Leuten neben einem Überflurhydranten vorbei.

Und macht eine Vollbremsung.

Legt den Rückwärtsgang ein, späht aufmerksamer durch die Scheibe.

Und erkennt ihn, er sitzt auf einem Bruchstein zu Füßen der Männer. Fast nackt, nur eine zerrissene Unterhose an dem massigen Körper.

Jhonson.

Er sieht erschöpft aus, hat den Kopf in die Hände gestützt. Einer der Passanten kauert neben ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter. Ein anderer bringt ihm eine Flasche Wasser, damit er trinken kann. Mathurine parkt, geht zu ihnen. Der Stiefvater scheint sie nicht zu sehen.

»Das muss einer aus Bois Sec sein«, erklärt einer der Männer. »Ich hab ihn hier gefunden, keine Ahnung, wie er hier gelandet ist.«

Jhonson kippt die komplette Flasche über sich aus, über den Kopf, den Körper. Schließt die Augen.

»Geht’s?«, fragt jemand.

Linkisch wischt der Stiefvater sich übers Gesicht. Sagt endlich:

»Ich … Ich weiß nicht …«

Er atmet schwer, ringt um Fassung. Mathurine bleibt im Hintergrund und hört zu.

»Was ist denn passiert? Warst du im … also, unter den Trümmern, oder was?«

»Nein … Als es passiert ist, bin ich … ich bin in den Wald gelaufen. Ich hab alles gesehen, mein Gott, ich hab gesehen, wie das Viertel versunken ist, das war grässlich. Ich wollte gleich runterkommen, aber es war ja mitten in der Nacht, ich … ich hab mich halt verlaufen.«

Die Männer wechseln mitfühlende Blicke.

»Himmel …«

»Ich … ich hab echt gedacht, ich geh drauf … Ich bin gelaufen, mein Gott, was bin ich gelaufen.« (Er unterbricht, fährt fort:) »Ich glaube, ich hätte die Straße nie im Leben wiedergefunden, wenn nicht …«

»Wenn nicht was?«

»Wenn nicht die Fußspuren gewesen wären.«

Mathurine tritt näher, damit sie besser hört. Jhonson schnieft, kramt in seinem Gedächtnis.

»Da waren Fußspuren, ich bin ihnen den ganzen Morgen gefolgt. So habe ich den Pfad wiedergefunden.«

»Mein Gott … Du hast echt Glück gehabt. Na, komm, hier kannst du nicht bleiben.«

Zu zweit helfen sie dem geschwächten Mann auf die Beine. Der Stiefvater schüttelt den Kopf. Mathurine hätte Dutzende Fragen, aber sie hält den Mund, bleibt stumm angesichts des Mannes, den zwei Tage im Dschungel verstört haben. Sie sieht ihm nach, wie er schwankend, von den anderen gestützt, auf eine zur Straße hin offene Baracke zugeht, sich auf einen Stuhl sinken lässt, den man ihm bringt. Sie hört:

»Aber warst du denn ganz alleine?«

»Nein … Nein, am Anfang war noch meine Frau dabei. Yolanda … Wir sind zusammen los. Aber ich weiß nicht … Nachts, bei dem Regen, ich weiß auch nicht, warum, ich … Also, ich glaube, wir sind irgendwie getrennt worden und …«

Er öffnet die Augen, ganz erschüttert, als würde er es jetzt erst realisieren.

»Ich hab sie verloren.«