Mathurine hebt das Moskitonetz ein Stück an, schwingt ein Bein aus der Hängematte und stellt den Fuß auf den Teppich aus totem Laub. Sie facht die Glut ihres Lagerfeuers wieder an und macht sich einen Kaffee, schaut zu, wie der Rauch sich mit den Nebelfetzen mischt, die noch im Astwerk hängen. Sie liebt diese Momente, das Morgengrauen im Dschungel, wenn alles erst aufzuwachen scheint. Wenn der Amazonas lieblich und verletzlich wirkt, wenn die Vögel einen vielstimmigen Chor anstimmen, wenn das Kreischen der Guayana-Brüllaffen in der Ferne verhallt. Sie faltet ihr Lager und die Plane zusammen, packt den Rucksack. In letzter Zeit achtet sie darauf, ihn so leicht wie möglich zu halten, große Anstrengungen zu vermeiden. Das hat man ihr geraten: aufzupassen.

Auf sich.

Und auf das Baby.

Denn inzwischen ist sie nicht mehr allein, sie muss auch ans Baby denken, das schärfen ihr alle immer wieder ein, als gehöre dieses Kind auch ein bisschen ihnen, als hätten alle etwas dazu zu sagen, wie eine Mutter sich zu verhalten hat. Wenn die Kolleginnen wüssten, dass sie schon wieder ganz allein im Wald übernachtet hat, würden sie sie leichtsinnig schimpfen, sagen, dass sie es auf die leichte Schulter nimmt. Und wenn dir nun was passiert, hm? Und Mathurine wüsste nicht, wie sie es ihnen erklären soll. Dass sie sich hier sicherer fühlt als irgendwo sonst. Denn in den Augen der anderen wird der Dschungel, wie sie ihn nennen, immer gefährlich bleiben, sie hat es aufgegeben, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen.

Sie sieht sich ein letztes Mal um, achtet darauf, nichts zurückzulassen. Und setzt sich in Bewegung. Durchquert langsam den Wald, watet durch Flüsse, die über Sandbänke fließen, an Bergkämmen und Böschungen entlang. Sie entdeckt die Anzeichen, Spuren der Wildtiere, die hier waren, das Summen der Insekten in der Schwüle des Unterholzes, ferne Schreie. Und ihr scheint, dass sie ein bisschen aufmerksamer ist als früher, fähiger zu sehen, zu hören, zu spüren. Als hätte Darwyne ihr das vermacht, eine geschärfte Empfindsamkeit für die Tier- und Pflanzenwelt, wenn sie schon nicht richtig mit dieser Welt in den Dialog treten kann, nicht so, wie Darwyne es ihrer Meinung nach konnte. Manchmal stößt Mathurine auf Fußspuren, die einem Kind gehören könnten, und dann glaubt sie daran, dass es seine sind, dass er vor Kurzem erst hier war. Aber das ist vermutlich Wunschdenken, wahrscheinlich will sie einfach zu sehr an das Unmögliche glauben. Sie geht weiter, einen kleinen Abhang hinauf. Und bleibt stehen, wie immer an dieser Stelle.

Denn hier war es, das weiß sie noch, dass sie ihn so gesehen hat, wie er wirklich ist.

Und wie jedes Mal, wenn sie regungslos oben an der Böschung steht, schließt sie die Augen, damit sie den Dschungel besser singen hört. Genießt die einzigartigen Rufe der Trogone, das Gezwitscher der Orpheuszaunkönige, die Klagelieder der Allobates.

Und träumt davon, dass Darwyne zu diesem Chor gehört.

Der Erdrutsch in Bois Sec ist schon zwei Monate her. Die Suche nach Verschütteten wurde beendet, das Gebiet wurde abgetragen und ist nun eine gigantische Freifläche, die noch verbliebenen Einwohner wurden von den zu instabilen Hängen entfernt, die Stelle gesichert, um diejenigen abzuschrecken, die eventuell zurückkommen wollen. Die offiziellen Zahlen sprechen von fünfundvierzig Toten und achtunddreißig Vermissten, sind jedoch äußerst unzuverlässig, weil die Behörden nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich in dem Slum lebten. Und unter den Vermissten sind Yolanda und Darwyne Massily, trotz mehrerer Suchaktionen in angrenzenden Waldstücken anhand der Schilderungen des Stiefvaters wurden ihre Leichen nie gefunden. Er und auch die große Schwester Ladymia glauben, dass Mutter und Sohn nicht überlebt haben, wie auch immer es geschehen sein mag, und Mathurine ist sich durchaus im Klaren, dass das am wahrscheinlichsten ist.

Dennoch möchte sie glauben, dass Darwyne noch am Leben ist.

Irgendwo im Amazonas, den er so gut kennt wie sonst niemand und der ihn aufgenommen hat, wie keine Stadt es je vermocht hätte. Ja, Mathurine will an eine andere Version glauben. Eine Version, die nur sie allein kennt.

Die Geschichte eines außergewöhnlichen Jungen mit einer heimlichen Gabe.

Die Geschichte eines Sohnes, der seine Mutter wahnsinnig liebte und alles versucht hat, damit sie ihn zurückliebt.

Sie schiebt eine Hand unter ihr T-Shirt, streichelt sich über den feuchten Bauch, in dem Leben heranwächst. Stupst mit den Fingerspitzen das Wunder an. Sie kann noch immer kaum glauben, dass sie nun auch bald Mutter sein wird: Nach zweijährigem Kampf und vier In-vitro-Fertilisationen hat sie es geschafft. Der Gedanke erzeugt ein unbeschreibliches Glücksgefühl und Panik zugleich. Sie fragt sich, wie dieses Kind wohl sein wird, das mit ihr, einer alleinerziehenden Mutter, aufwächst. Sie schwört sich, es zu lieben, mit aller Kraft, es bei allem zu begleiten. Sie nimmt sich selbst unendlich viele Versprechen ab, dass sie keine Yolanda sein würde, dass sie zuhören und nicht versuchen wird, etwas zu richten, was gar nicht hätte gerichtet werden müssen, dass sie aus ihrem Sohn oder ihrer Tochter kein Monster machen wird. Sie denkt: Ich schaffe das, ich werde eine gute Mutter, ich wollte es so sehr, dieses Baby. Aber tief im Inneren ist ihr klar, dass sie in Wahrheit gar nichts weiß. Dass auch Yolanda Massily ihren Darwyne sicherlich lieber geliebt hätte, so, wie sie ihre Tochter lieben konnte. Deshalb sagt Mathurine sich einfach, dass sie tun wird, was sie kann. Das einzige Versprechen, das sie geben kann, ist, es zu versuchen.

Mit aller Kraft.

Sie hebt das Gesicht zu den Wipfeln, öffnet die Augen.

Plötzlich ganz Ohr.

Aus den tausend Lauten des Dschungels, die von überall her zu hören sind, schält sich einer heraus, er kommt von sehr weit her, ist kaum hörbar. Sie könnte nicht näher definieren, ob es ein Pfeifen, ein Glucksen, ein Klimpern ist, und noch weniger könnte sie es einer ihr bekannten Tierart zuordnen, Vogel, Säugetier, Amphibie. Aber jetzt, wo sie sich konzentriert, scheint es ihr so, als ob sie nichts anderes mehr hört. Als wäre es für sie bestimmt. Da blickt Mathurine sich um, späht, aus welcher Richtung es kommen könnte. Und sie setzt sich in Bewegung, geht Schritt für Schritt auf das Dschungelgeräusch zu. In gerader Linie, schlägt sich durchs Unterholz, nur vom Gehör geleitet. Trotz der Schilderungen von Éliane Brunel, bei der es einem kalt den Rücken hinunterläuft, hat sie nicht für einen Augenblick den Gedanken, dass sie sich verlaufen könnte. Sie vertraut auf ihre Erfahrung. Oder vielleicht auch auf Darwyne. Überzeugt, dass er, ihr zumindest, nichts Böses will. So wandert sie eine ganze Weile durch den Amazonas, angelockt von dem unbekannten Geräusch, wagt sich in ein Gebiet vor, in dem sie noch nie war.

Bis vor ihr ein riesiger Baum auftaucht, vor dem bleibt sie stehen.

Sie weiß nicht, um welche Baumart es sich handelt, begnügt sich damit, den riesigen Stamm, der zu den Wipfeln emporwächst, zu bewundern, bestimmt überragt er seine Artgenossen über dem Blätterdach. Betrachtet den enormen Auswuchs auf halber Höhe, ein Höcker, dessen Falten prall mit Moos bewachsen sind. Der Eindruck dieser Stützmauer auf dem Waldboden ist überwältigend, ein System aus Mauern, die in alle Richtungen abgehen. Einen Augenblick hält sie inne, steht ganz klein davor und beobachtet. Sie geht um ihn herum, steigt über Wurzeln. Vielleicht wird sie von unauffälligen Abdrücken im Humus geleitet, jedenfalls quetscht sie sich zwischen zwei Pfeilern hindurch, arbeitet sich zum Kernstamm vor.

Und entdeckt auf einer holzigen Abkapselung in Form eines Hügels einen Gegenstand, den sie erkennt, extra dort abgelegt, damit sie ihn findet. Ein längliches Rohr mit drei Löchern, mit dem Messer aus einem schmutzig weißen Knochen geschnitzt. Die Lockpfeife, die Darwyne bei ihrer allerersten Exkursion in den Wald dabeihatte, erinnert sie sich. Um die Tamarine anzulocken. Mathurine hebt sie auf, streichelt mit dem Daumen darüber. Sie hebt sie an den Mund, sucht nach der richtigen Blastechnik.

»Pffi-i … Pffi-i …«, mehr bringt sie nicht zustande.

Weit entfernt von der perfekten Imitation, die sie vor einigen Wochen erleben durfte.

Mit der Pfeife in der rechten Hand mustert sie noch einmal die Stelle, schaut nach oben, träumt davon, die Gestalt des Jungen zu entdecken, der ihr ein solches Geschenk machen wollte, denn da ist sie sich sicher: Das ist auf jeden Fall ein Geschenk von Darwyne, es kann gar nicht anders sein. Dann schaut sie sich um, scannt die Wände aus gefaltetem Holz, die sie umgeben wie ein natürliches Zimmer, der Kern des massiven, polypenartigen Baumes. Und runzelt die Stirn, als sie ganz unten am Stamm eine Art verstecktes Loch entdeckt. Eine erdige Mulde, vage kaschiert von einem Büschel schwarzer Halme und sich zersetzenden Blättern. Mathurine geht in die Hocke, schiebt mit der linken Hand den Waldabfall beiseite. Und entdeckt einen Haufen kleiner Gegenstände, die wie lauter Schätze gehortet werden. Ein paar Stücke Treibholz, zwei, drei glänzende Kieselsteine. Aber vor allem Knochen, wie ihr beim Durchforsten des Verstecks auffällt. Viele Knochen, zum Schnitzen vorgesehen, um Lockpfeifen daraus zu machen, denkt sie und betrachtet noch einmal die, die sie in der Hand hält.

Aber diesmal sieht Mathurine das Kunstwerk mit anderen Augen.

Findet, dass diese Knochenreste, zu Pfeifen geschnitzt oder noch roh, grauweiß und glatt und vom Wald sauber gespült, sehr menschlich aussehen. Wie die Überreste von Männern und Frauen, die sich im Amazonas verirrt haben, für immer verschwunden sind. Die Überreste der Stiefväter. Und, wer weiß, die einer Mutter, deren wahres Schicksal die Welt nicht kennt.